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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

929–931

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Zadoff, Noam

Titel/Untertitel:

Von Berlin nach Jerusalem und zurück. Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland. Aus d. Hebr. v. D. Mach.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 416 S. m. 16 Abb. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 23. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-525-57035-7.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Als der junge Berliner Jude Gerhard Arthur Scholem (geb. 1897) seinen Namen hebraisierte und sich Gershom nannte, verzichtete er nicht nur auf den zweiten Vornamen, den er von seinem Vater Arthur Scholem erhalten hatte, sondern kehrte auch der bürgerlich-deutsch-jüdischen Kultur den Rücken und wanderte im September 1923 in das britische Mandatsgebiet Palästina ein, um sich in Jerusalem niederzulassen. Vor einigen Jahren fand der Autor des zu besprechenden Buches in einem Antiquariat aber die Ausgabe der 1980 erschienenen Korrespondenz zwischen Scholem und seinem Jugendfreund Walter Benjamin, die Scholem handschriftlich in deutscher Sprache einer deutschen Jüdin gewidmet und mit der Unterschrift seines alten Namens versehen hatte (»zur guten Erinnerung, Gerhard Scholem«). War, so Noam Zadoff, »die durch die Namensänderung markierte Neubestimmung seiner Identität vielleicht nicht so radikal und endgültig«, wie Scholem es gern darstellte (16)? Scholems bekannter autobiographischer Bericht »Von Berlin nach Jerusalem« endet im Jahre 1925, als Scholem zum Do­zenten an der eben gegründeten Hebräischen Universität er­nannt worden war. Dieser Text erschien 1977 aber zunächst im Deutschen, erst fünf Jahre später nach dem Tod des Verfassers (1982) auch im Hebräischen (380). Weitere Beobachtungen kommen hinzu: Das starke Gewicht der deutschsprachigen Aufsatzbände Scholems im Vergleich mit der eher bescheidenen hebräischen Publi-zistik in seiner zweiten Lebenshälfte (376) und die Tatsache, dass Scholem das deutsche Judentum wiederholt scharf attackierte und bestritt, dass es vor der Schoah ein deutsch-jüdisches Gespräch als historisches Faktum gegeben habe, zugleich aber schon 1946 an­lässlich eines Besuches der Münchner Bayerischen Staatsbibliothek den Deutschen gegenüber versöhnliche Töne anschlug (315). Seiner Ablehnung einer Zusammenarbeit mit christlichen Theologen im Bereich der Judaistik steht seine Bereitschaft gegenüber, akademische Ehrungen in Deutschland anzunehmen. Dabei ging Scholem 1974 auch nicht der Notwendigkeit aus dem Weg, ehemaligen aktiven Nationalsozialisten (wie Hans Egon Holthusen, dem Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste) die Hand zu schütteln (348). Auf eine Gastprofessur nach Heidelberg ließ Scholem sich 1963 nicht einladen, weil er dem an der dortigen Theologischen Fakultät wirkenden Qumranforscher Karl Georg Kuhn nicht begegnen wollte, der stark NS-belastet war (319), während er sich – dieses schöne Beispiel bringt Z. leider nicht – 1968 von dem Neu-testamentler Otto Michel durchaus an das Tübinger Institutum Judaicum einladen ließ.
Den hier sichtbar werdenden Spannungen in Scholems Leben und Werk geht Z. in drei Teilen nach. Der erste Teil (»Hoffnung und Enttäuschung: Die Kontinuität der Krise 1923–1938«) beschäftigt sich mit Scholems Anfängen in Palästina, seiner Konzeption der Erneuerung des Hebräischen, seinem beruflichen Wirken an der Hebräischen Universität im Zusammenhang mit dem dort ge­gründeten Institut für jüdische Studien, seiner Auseinandersetzung mit Martin Buber, dem politischen Engagement für eine Verständigung mit den Arabern im Brit Schalom-Kreis und seinen Versuchen, das in Entstehung befindliche zionistische Projekt religionsphilosophisch zu deuten. Die Ausführungen zu Scholems Konzeption der religiösen Überlieferung (»Schalschelet ha-Kabbala« – »Traditionskette«) und zum »religiösen Anarchismus« erwe-cken hier besonderes Interesse. Der letztere Begriff hat damit zu tun, dass Scholem einerseits einen affirmativen Begriff jüdischer Tradition hatte, andererseits jede Verpflichtung auf halachisch verbindliche Tora-Observanz leidenschaftlich ablehnte.
Der zweite Teil (»Verzweiflung: Die einzigartige Katastrophe 1939–1948«) beginnt mit der Frage, unter welchen Umständen Scholem vom im Herrschaftsbereich des NS-Regimes begangenen Massenmord erfuhr und wie er reagierte. Nicht ohne Erschütterung liest man, dass der Jerusalemer Gelehrte die zeitgleich in Europa stattfindende Katastrophe in einem 1944 in hebräischer Sprache veröffentlichten Text in einen »historischen Zusammenhang« (Za­doff, 145) mit der im Gefolge der Haskala auftretenden Wissenschaft des Judentums bringt; bereits jene habe »Tendenzen zum historischen Selbstmord, zur Liquidation und Auflösung« mit sich ge­bracht (ebd.). Die Vertreter dieser Wissenschaft, so Z.s Paraphrase, hätten »das Rationale und das Geistige in der jüdischen Ge­schichte betont […] um bei Nichtjuden Gehör zu finden«. So sei be­reits im 19. Jh. eine »Wüste« entstanden, »wo körperlose Geister umherirren, die sehnsüchtig auf ihre vergangene Welt zurückschauen« (ebd.). Die Aufgabe des Zionismus habe darin bestanden, einen Perspektivwechsel herbeizuführen, um vom »Waschen und Einbalsamieren des Toten« zur »Aufdeckung des verborgenen Le­bens durch die Entfernung der verhüllenden Vorhänge und Kulissen und der irreführenden Etiketten« zu gelangen (146). In der jetzigen Krise, so Scholem 1944, trete zutage, dass auch die zionistisch erneuerte Wissenschaft des Judentums an ihrer Aufgabe gescheitert sei: »Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder.« (147)
Neben die Frage der historischen und sachlichen Angemessenheit dieses Urteils (kann es angehen, den jüdischen Liberalismus des 19. Jh.s für eine Art »Immunschwäche« der europäischen Juden in der ersten Hälfte des 20. Jh.s verantwortlich zu machen, die sie der Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber irgendwie wehrlos gemacht habe?) tritt eine Beobachtung, die Z. trefflich auf den Punkt bringt. In Scholems Kontroverse mit Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem zu Beginn der 1960er Jahre ging es ebenfalls um die Theorie einer angeblichen jüdischen »Mitschuld«, die sich bei Arendt anhand der Wirksamkeit der »Judenräte« herauskristallisiert, die in den Ghettos und Vernichtungslagern Osteuropas mit den Nazis kollaboriert und die Massenmorde teilweise erst ermöglicht hätten. In dieser Frage hatte widersprach Scholem aber heftig und kündigte der New Yorker jüdischen Politologin die Freundschaft auf. Z. diagnostiziert ein »wechselseitiges Unverständnis« zwischen Scholem und Arendt (294) und vergleicht die Unterschiede zwischen beiden bei gleichzeitiger Ähnlichkeit mit einem »Maskentanz«, bei dem »jeder mit der Widerspiegelung seines eigenen Bildes beim Andern« und insofern mit der »anderen Seite« seiner selbst zu tun hat (302).
Der dritte Teil des Buches (»Nostalgie: Ein tiefes Heimweh 1949–1982«) beschreibt die Europareisen Scholems ab Ende der 1940er Jahre im Zusammenhang mit seinen legendären Eranos-Vorträgen auf Fuße des schweizerischen Monte Verità, seine verlagspolitischen Initiativen zur Publikation der Texte Walter Benjamins im Suhrkamp-Verlag und schließlich seinen letzten Berlin-Aufenthalt als fellow des neugegründeten Berliner Wissenschaftskollegs im Studienjahr 1981/82. Was die internen Kontroversen anbelangt, die Scholem in Jerusalem auszutragen hatte, gibt Z. Jürgen Habermas das Wort, der seitens der Jerusalemer Kollegen Scholems eine »verhaltene Aggression [...] zu Scholem und zur ambivalent empfundenen Vorherrschaft der deutschen Subkultur im israelischen Bildungssystem« wahrnahm (366).
Dieses Buch aus der Feder eines jungen israelischen Historikers, der inzwischen in Innsbruck lehrt, erscheint als weitere Etappe im Prozess der Loslösung der Jerusalemer Judaistik »von der überaus dominanten Figur Scholems« (ebd.); der Rückweg Scholems in die deutsche Kultur auf dem Wege seiner Rezeption, den Z. dokumentieren will, ist hier aber noch nicht vollständig gelungen:
Für das Verständnis der lesenswerten Fußnoten sind streckenweise Kenntnisse des Neuhebräischen unerlässlich, da die Titel nicht übersetzt wurden. Schade auch, dass in den Übersetzungen mancher Scholemtexte aus dem Hebräischen die (häufig auch ironischen) Anspielungen auf die jüdische Traditionsliteratur verlorengehen (z. B. 137). Bedauerlich ist schließlich, dass die Jahre seit Erscheinen der hebräischen Originalfassung (die deutsche Übersetzung war bereits für 2014 angekündigt!) nicht genutzt wurden, um die seither erschienene Literatur einzuarbeiten. Noch nicht einmal Z.s eigener Aufsatz über den »Maskentanz« Scholems mit H. Arendt (»Gershom Scholem in Deutschland«, Tübingen 2014) ist im Literaturverzeichnis aufgeführt. Über Gershom Scholems Biblio­philie – um dieses weitere Beispiel anzuführen – sollte man heute nicht mehr schreiben, ohne Saverio Campaninis akribische Rekonstruktion seiner Bibliothek (ebd.) zu berücksichtigen.