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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

882–884

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Laamann, Lars Peter, and Joseph Tse-Hei Lee [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Church as Safe Haven. Christian Governance in China.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. XVI, 330 S. = Studies in Christian Mission, 55. Geb. EUR 143,00. ISBN 978-90-04-38373-9.

Rezensent:

Isabel Friemann

Der Sammelband ist herausgegeben von Lars Peter Laamann und Joseph Tse-Hei Lee, gewidmet ist er dem kürzlich verstorbenen Kollegen Rolf Gerhard Tiedemann. In dem Werk werden Angebote und Behauptungsversuche christlicher Missionen beschrieben, die einer chinesischen Gesellschaft im Umbruch zwischen Tradition und Moderne im Zeitraum von 1880 bis 1950 entgegengesetzt werden. Exzellent recherchierte historische Miniaturen zeichnen ein komplexes Bild der Diversität christlicher Strömungen, ihrer Missionsstrategien und sozialpolitischen Ziele. Dabei formen die Fallstudien von elf renommierten Forscherinnen und Forschern keine Chronologie, sondern setzen zeitlich parallel verlaufende inhalt- liche Schlaglichter. Politische Instabilität, dysfunktionale Herrschaftsstrukturen, ausländische Angriffe, Naturkatastrophen oder Bürgerkrieg sind Kontext unterschiedlicher Erscheinungsformen der christlichen Botschaft. Es gelingt, die komplementäre Beziehung von Glaube und Politik, sowie aktive Teilhabe westlicher und chinesischer Christen an gesellschaftlichen Entwicklungen in vielen Details darzulegen.
Der erste Teil des Buches erläutert, wie christliche Spiritualität um eine Neuinterpretation des Heiligen und seiner Beziehung zum Menschen wirbt, während die klassische Gesellschaftsordnung Chinas zerbricht. So werden z. B. konfuzianischer Ritualismus, Geomantie und Aberglaube gegen Ende der Kaiserzeit von vielen Gebildeten als Anzeichen geistiger Degeneration kritisiert. Christlicher Altruismus, die Einführung von westlicher Medizin und allgemein zugänglicher Bildung, auch für Mädchen, erzeugten dagegen einen Eindruck von Fortschrittlichkeit. Diesen Eindruck haben allerdings Satansglaube und Dogmatismus der religiösen Lehre wieder relativiert. Mit einem anderen spirituellen Argument bemühten sich pfingstliche Missionsgesellschaften darum, ihre Glaubwürdigkeit zu festigen. Die bis heute unter dem Dach des chinesischen Christenrates existierende Wahre Jesus Kirche entwickelte schnell eine große Attraktivität. Sie gehörte 1917 zu den ersten unabhängigen chinesischen Kirchen. Physische Spuren des Göttlichen wie Zungenreden machten die Anwesenheit Gottes erfahrbar und strahlten geistliche Autorität aus, was zum schnellen Wachstum der Anhängerschaft führte.
Einen wieder anderen Ansatz verfolgte der Begründer der pro-testantischen Missionsbewegung in China: Robert Morrison. Be­kannt ist er u. a. für eine erste Übersetzung des Neuen Testaments in die chinesische Sprache, die er bereits 1813 fertigstellte. Weniger bekannt ist sein enger Kontakt zum buddhistischen Haichuang Tempel in Kanton sowie Sammlung und Studium buddhistischer Schriften. Beides wird in diesem Buch sorgfältig belegt. In Ordensleben und selbsterlösender Werkgerechtigkeit meint Morrison eine Ähnlichkeit zwischen Buddhismus und katholischem Be­ kenntnis zu erkennen. Zwei weitere berühmte Persönlichkeiten der protestantischen Missionsgeschichte in China sind Richard Wilhelm und Wu Leichuan. Sie werden als zwei Gelehrte vorgestellt, die nach einer ethisch fundierten Weltreligion streben. Beide entwarfen Modelle, in denen Konfuzianismus und Christentum verschmelzen. Institution und Brauchtum der Kirche lagen ihnen fern. Wilhelm verabscheute die symbiotische Verbindung zwischen Missionsarbeit und westlichem Imperialismus. Wu entdeckte in Jesus einen sozialen Aktivisten, der die Sünde der Selbstbezogenheit überwunden und mit seinem Leben ein Modell für die Kontextualisierung aller zukünftigen Gesellschaften geschaffen hatte.
Der Wunsch, Evangelisation mit dem Aufbau moderner Institutionen zu verbinden, wird im zweiten Teil des Bandes als Kampf um die Herzen und Überzeugungen chinesischer Gefolgsleute nachgezeichnet. Als ein Beispiel dafür wird der Aufbau eines weit gefächerten Erziehungssystems in der Provinz Shandong durch amerikanische Presbyterianer beschrieben. Ein weiteres Beispiel ist die trotz großer kultureller Barrieren erfolgreiche Einführung westlicher Krankenpflege durch weibliche »Schwestern« in Hongkong. Allerdings wurde sie durch akuten Notstand infolge einer andauernden Pestepidemie um die Jahrhundertwende begünstigt. Eine nationalpolitische Koalition war die enge Zusammenarbeit zwischen Kuomintang Regierung und Chinesischer Kirche Christi. Gemeinsam installierten sie einen Dienst für ethnische Minderheiten in den südwestlich gelegenen Grenzgebieten des Reiches zur Zeit der japanischen Invasion. In einem letzten Beitrag des mittleren Themenblocks wird die sich zögerlich entwickelnde Bereitschaft konkurrierender Bibelgesellschaften aus Großbritannien und den USA beschrieben, sich auf eine Kooperation miteinander und mit chinesischen Funktionsträgern einzulassen.
Konkretes Handeln christlicher Akteure wird im dritten Teil des Bandes unter regional, historisch und politisch sehr unterschiedlichen Bedingungen erörtert. Bei einer an der Küste der Provinz Guangdong durch Tsunami und Taifun ausgelösten Katastrophe 1922 erwies sich das entschlossen handelnde kirchliche Netzwerk nicht nur als lokal und global finanziell gut ausgestattet. Es organisierte auch dezentrale Maßnahmen zum Wiederaufbau, bei denen Betroffene gemeinsam mit einer Vielzahl chinesischer und ausländischer Helfer und Helferinnen tätig wurden.
In der heutigen Provinz Hebei (ein wenig fruchtbares Plateau in Zentralchina) gewann außerdem besonders die römisch-katholische Kirche an Erfolg und Bedeutung, da sie den Menschen Schutz bot in den diversen bewaffneten Konflikten des 19. Jh.s. Die Städte der Region wurden von der Staatsmacht wenig beachtet und mussten sich durch den Bau von Stadtmauern selbst gegen marodierende Banden und Aufständische zur Wehr setzen. So taten es auch die teilweise sehr großen katholischen Missionsstationen, u. a. mit Waffen und Kanonen, wodurch sie umliegenden Bevölkerungsgruppen Zuflucht gewähren und sich immer wieder als Zentren von Stabilität bewiesen. Dabei kam den Katholiken zugute, dass sie von japanischen Soldaten und chinesischen Bürgerkriegsparteien als neutral erachtet wurden.
In Wenzhou, dem Gebiet mit der höchsten prozentualen Dichte von Protestanten in China, geographisch unterhalb von Shanghai gelegen, kam es zur Spaltung der chinesischen Gläubigen. Das wird von der Autorin auf die Entwicklung des Gemeindelebens zur Zeit der Kulturrevolution zurückgeführt. Sie berichtet von persönlichen Zerwürfnissen zwischen sogenannten Reformisten und Konservativen, in einer Zeit, in der jede offizielle Religionsausübung verboten war. Organisatorische Fähigkeiten und Charisma zählten mehr als akademische Ausbildung; persönlicher Mut, Verhaftungen und Folter erhöhten zusätzlich die Reputation. Nach der Kulturrevolution führte die Wiederherstellung der kirchlichen Ordnung zu Fragen nach religiöser Autorität, persönlicher Gefolgschaft und Loyalität zum sozialistischen Staat, die letztlich nicht überbrückt werden konnten.
Die Herausgeber des Sammelbandes werden ihrem Anspruch, chinesische Stimmen zu Wort kommen zu lassen und die Alltagserfahrungen des Glaubens in den Mittelpunkt zu stellen, auf überzeugende Weise gerecht. Alle Beiträge bringen überraschende neue Facetten und Perspektiven zum Vorschein. Umfassende Anmerkungen und Bibliographien der einzelnen Beiträge spiegeln den neuesten Stand der aktuellen Forschung. Das Werk eröffnet einen breiten Diskurs mit vielen Anregungen zu vertiefenden Studien.