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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

874–876

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Einführung in die Homiletik. 3., durchgehend neu bearb., aktualis. u. erw. Aufl.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto (UTB) 2020. 709 S. m. 35 Abb. = UTB 2128. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-8252-5293-9.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Wenn ein praktisch-theologisches Lehrbuch eine dritte Auflage (s. meine Anzeigen der 1. und 2. Auflage in ThLZ 128 [2003], 951–954, sowie ThLZ 136 [2011], 1108–1109) erlebt, dann muss es sich um ein Werk handeln, das in der Diskussion seinen Platz erobert und verteidigt hat und das sich der Geneigtheit der Studierenden erfreuen kann. Alles das ist bei dieser umfassenden und gediegenen Einführung in die Evangelische Predigtlehre zweifellos der Fall. Darüber hinaus ist das Erscheinen der dritten Auflage ein Zeichen dafür, dass die Homiletik, deren Schwächeln gegenüber den anderen praktisch-theologischen Teilfächern und besonders gegenüber der Liturgik vor einiger Zeit konstatiert wurde (so Peter Cornehl, Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Stuttgart 2006, 14), weiterhin die Königsdisziplin der praktischen Disziplin der Theologie ist. Oder, mit etwas weniger Pathos formuliert: Am Homiletischen Seminar und am Predigtentwurf fürs Examen kommt keiner vorbei. Homiletik muss man studieren – und das geschieht am besten durch ein Buch eines profilierten und weit ausgewiesenen Predigtlehrers, wie dies Wilfried Engemann ist (E. war bis 2011 Lehrstuhlinhaber in Münster und wirkt seitdem in Wien).
Das Buch ist von der Struktur und dem Profil her dasselbe geblieben wie in der 2. Auflage 2011. Auf den wichtigsten ersten Teil zum »Predigtgeschehen« selbst (25–466) folgen zwei kürzere Teile zur Predigtanalyse (469–516) und zur Theologie der Predigt (519–616) sowie ein Anhang mit Arbeitshilfen (619–640; Literatur und Register: 645–709). Der höhere Seitenumfang der 3. Auflage ist wesentlich auf die veränderte Drucktype zurückzuführen, wo­durch das Buch in der Tat viel besser zu lesen ist. Ansonsten bezieht sich die Neubearbeitung vor allem auf Literaturnachträge; inhaltlich neu geschrieben wurden die Abschnitte zur Predigt im Gottesdienst und zur neuen Perikopenordnung der EKD (seit dem Kirchenjahr 2018/19; dazu 421–449). Im Vorwort wird kurz und präzise über die Veränderungen gegenüber der 2. Auflage informiert (22).
E.s Leidenschaft gilt weiter einer persönlich reflektierten, kommunikativen und zeichentheoretisch (semiotisch) ausgewiesenen Predigt und Homiletik, die gleichzeitig theologisch zu sagen weiß, wer und was Jesus Christus heute für uns ist (vgl. 327 u. ö.). Einer Wiederholung dogmatischer Formulierungen – auch aus den biblischen Texten! – wird ebenso eine Absage erteilt wie der bloßen religiösen Verbrämung ethischer Gemeinplätze und alltäglicher Wohlfühlerlebnisse (128 f.), denen in »kleinen Schritten« nachzugehen bzw. zu entsprechen wäre. Es geht E. vielmehr um das aktuelle Wort des Evangeliums, das jeweils persönlich und situativ zu riskieren ist, um den Hörern Lebensgewinn zu ermöglichen (das erinnert an die Predigtdefinition aus der 2. Auflage von Dietrich Rösslers bekanntem Grundriss der Praktischen Theologie, 21990, dort 390). Das impliziert, dass die evangelische Überlieferung nicht nebulös bleiben, sondern klare Konturen gewinnen soll. Treffend formuliert E.: »Von jemandem, der die Kanzel einer Kirche betritt, wird mit Fug und Recht erwartet, dass er sagen kann, was er meint, wenn er von ›Auferstehung‹, ›ewigem Leben‹ oder vom ›Reich Gottes‹ spricht und davon eine Stärkung des Glaubens erwartet.« (550)
Vor allem sind die Inhalte kommunikativ, für die versammelten Menschen neu gedacht, gesagt und für sie verträglich zu formulieren. In seinem Vorwort stellt E. unmissverständlich klar: »Jegliche Kriterien zur Gestaltung einer Predigt müssen sich daran messen lassen, ob sie die elementaren Bedingungen einer Predigt als Rede von Mensch zu Mensch […] angemessen berücksichtigen.« (18) Dabei haben die Predigenden durchaus auch Inhalte, ja evangelische Lehre zu präsentieren, denn eine »Predigt, die nicht auch etwas zu erörtern hat und logisch zu argumentieren vermag, bleibt den Hörern Informationen und Argumente schuldig« (86). Hingegen ist es nicht die Aufgabe der Predigt, Texte zu erläutern oder nahezubringen (122.142); viel anspruchsvoller geht es darum, die Christuswirklichkeit im heutigen Leben zu entdecken und zu versprachlichen, ohne sich dabei auf das »Reservoir der kleinen An­nehmlichkeiten des täglichen Miteinanders« zu beschränken (128). Die Verbindlichkeit eines biblischen Textes kann nicht »proklamiert werden«, sondern muss sich im Gebrauch erweisen (148); hier und immer wieder ist E.s Prägung durch die homiletische Neuorientierung Ernst Langes zu spüren, der bekanntlich vom »Verbrauchen« des Textes im Dienste der aktuell werdenden Verheißung gesprochen hatte (vgl. 361–368). Auch der von E. jüngst edierte Otto Haendler spielt eine gewichtige Rolle bei der Beschreibung des Predigtgeschehens. Der dialektisch-theologischen Tradition wird hingegen wenig zugetraut (deutlich 367 f. u. ö. die Kritik an Rudolf Bohren). Dass allerdings in den frühen Barth-Texten (wie »Not und Verheißung der christlichen Verkündigung« von 1922) deutlich mehr zu holen ist, kommt nicht zum Tragen.
Auch zu dieser 3. Auflage kann demnach die Bilanz gezogen werden, dass E.s »Einführung« sowohl ein Buch mit zahlreichen Informationen für die Lernenden im homiletischen Seminar ist als auch ein Werk mit spannenden Ansatzpunkten für die Fortsetzung der homiletischen Fachdiskussion.
Ein wenig mühsam ist das Auffinden der Literaturbelege ganz am Schluss. Die angelsächsische Zitierweise in den Fußnoten ohne Nennung von Kurztiteln verlangt auch vom Literaturkundigen ein ständiges Blättern. Dafür bekommt man jedoch eine hilfreiche homiletische Bibliographie mit einem weitgefächerten Einblick in die aktuelle homiletische Diskussion (645–685). Sehr erfreulich ist es schließlich, dass sich der Verlag bei der dritten Auflage für ein gebundenes Buch – anstatt wie bei UTB üblich für ein Paperback – entschieden hat. Der gewichtige Band lässt sich so sehr gut handhaben.