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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

873–874

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Brunn, Frank Martin, u. Sonja Keller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Raum. Kirche. Öffentlichkeit. Dynamiken aktueller Präsenz.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 176 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-05848-8.

Rezensent:

Christoph Sigrist

»Die Kirche ist öffentlich. Öffentlichkeit konstituiert sich im Raum.« So spitzt Frank Martin Brunn, Theologe und wissenschaftlicher Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kirche und Gemeinwesen in Hamburg, programmatisch das komplexe Thema des vorzustellenden Bandes zu. Damit ist das Netz der »Wortwolke« (Kristin Merle) mit den drei Begriffsfeldern gezogen, das die Arbeitsstelle an ihrer 2018 durchgeführten Tagung wissenschaftlich reflektiert und praxisbezogen analysiert hat. Neben Frank Martin Brunn legt als zweite Herausgeberin Sonja Keller, Juniorprofessorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg, im Aufsatzband die Ergebnisse dieser Tagung nun einer breiteren Öffentlichkeit vor, im Wissen, dass »Öffentlichkeit« auch mit Blick auf die Leserschaft eines Buches eine diffuse Größe darstellt.
Nichtsdestotrotz: Die Lektüre lohnt sich außerordentlich für alle, die im Netzwerk von Kirche – Raum – Öffentlichkeit beten und arbeiten. Mehr noch, die einzelnen Beiträge sind äußerst inspirierend. Sie regen zum vertieften Nachdenken über »Kirche« an, ermutigen, öffentlich kirchliche Präsenz auszuprobieren, und riskieren dynamische Denk-Räume.
Allen Beiträgen zugrunde liegen vier leitende Fragen: »An welchen Öffentlichkeiten partizipieren die Kirchen? Welche Öffentlichkeit stellen Kirchen her? Welchen Dynamiken unterliegen sie dabei? Was bewirken und was verhindern kirchliche Räume?« Im Folgenden der Versuch, einen roten Faden durch die theoretischen Zugänge zu finden.
Zuerst überrascht die Einsicht Volker Gerhardts, dass, wenn sich Menschen mit ihrem Denken und Beten in einem gemeinsamen Raum bewegen, das Bewusstsein selber »öffentlich« ist. Dieser ge­meinsame Raum, darauf legt Christian Polke den Finger, entsteht aus diversen Öffentlichkeiten mit ihren entsprechenden Sphären des Privaten. Der Schutz beider, der öffentlichen Räume und der privaten Sphäre, sowie die Durchlässigkeit der verschiedenen öffentlichen Räume mit besonderem Blick auf »die kirchlichen Teilöffentlichkeiten« sind vonnöten. Dass sich solche kirchlichen Öffentlichkeiten aufgrund breiter Beteiligung wie kirchliche Grassroots-Bewegungen konstituieren, ist für Thomas Schlag Hinweis für das protestantische Selbstverständnis. Diese Schärfung des individuellen Wahrnehmungs- und Handlungssinn auf partizipative Dimensionen wirft ein Licht auf den von Ingrid Breckner entfalteten »unverkennbaren räumlichen und zeitlichen Wandel« von öffentlichen Räumen und den »darin stattfindenden kommunikativen Praktiken«. Breckner zufolge unterliegt die zunehmende Vergesellschaftung von Öffentlichkeit und Privatheit der Digitalisierung von gesellschaftlichen Prozessen und der Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen medialen und realen Öffentlichkeiten. Kirche, wie auch immer verstanden, hat – da sie öffentlich ist – Teil an solchen Prozessen und nimmt dabei Raum in verschiedenen Öffentlichkeiten ein.
Der Blick in die Praxis legt das schöpferische Potential der theoretischen Zugänge frei. Stadtakademien schieben mit ihren partnerschaftlichen Diskursen wie »Mut zu Stadt« in Hamburg Stadtentwicklungsprozesse an. Parkhäuser werden dabei in Wohn-häuser verwandelt. In der leerstehenden Reformationskirche in Moabit, Berlin, entsteht in Form eines Graswurzelprojekts neues, basisdemokratisches Gemeindeleben als Lebens-, Handlungs- und Spielraum. Räume der Stille in ihrer multireligiösen Ausrichtung und Nutzung geben in Universitäten und Spitälern zu reden. Kirchenräume selber werden in vielfältiger Weise auf übergemeindliche Öffentlichkeit hin als Erlebnis- und Ermöglichungsräume in Szene gesetzt. Jan Hermelink spricht folgerichtig vom Potential der »Inszenierung von freier Selbstgestaltung und gesellschaftlichen Konflikten«, die Kirchen als öffentliche Räume in sich tragen. Die wesentliche Aufgabe evangelischer Großkirchen liegt nach ihm darin, die Konfliktherde zwischen »Gottesferne« und »Gottesnähe« in aktuellen sozialen Konflikten zu erkennen und in den öffentlichen Räumen der Kirchen zu inszenieren: Er ist überzeugt: »Nur eine Kirche, die ihre Räume – ihre Gebäude und ihre Grundstücke, ihre Rituale und ihre Rollenmuster – allgemein zugänglich macht, kann auf die ›Erneuerungskraft des Heiligen Geistes‹ (Ernst Lange) hoffen.«
Geistgewirkt ist die wörtliche Wiedergabe der Schlussdiskus-sion der Tagung, die die Lesenden in Bann zieht und angesichts der Themen wie »Erprobungsraum« oder Missio Dei animiert, mit Thomas Schlag zu fragen: »Wie artikulieren wir das, was Kirche öffentlich macht?«
Öffentlichkeit und Räumlichkeit, so hält Frank Martin Brunn aus Hamburg abschließend fest, sind »zwei anthropologische Di­mensionen der Ekklesiologie«. In Zürich klingt diese wichtige Einsicht nach 20 Jahren Praxis in der Citykirchenarbeit so: Kirche findet draußen statt. Deshalb empfiehlt sich die Lektüre »draußen« mit anderen, und nicht »drinnen« alleine.