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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

871–873

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Beetschen, Franziska, Grethlein, Christian, u. Fritz Lienhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Taufpraxis. Ein interdisziplinäres Projekt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 286 S. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-374-04867-0.

Rezensent:

Thomas Klie

Das von der EKD 2011 ausgerufene Jahr der Taufe war der Anlass für ein theologisches Fachgespräch, das im April 2016 in Heidelberg stattfand. Es wurde von Vertretern der akademischen Theologie und der kirchlichen Praxis geführt, deren überarbeitete Vorträge in dem vorliegenden Sammelband zusammengefasst sind. Der besondere Ertrag dieser Zusammenstellung liegt in der Verschränkung von kirchenleitenden und akademischen Perspektiven, die sich durch das ganze Buch zieht. Der programmatische Titel »Taufpraxis« entspricht diesem Zuschnitt. Wie bei anderen Kasualien auch, so ist die Praxis der Taufe geprägt durch ein ganzes Bündel unterschiedlicher Begründungszusammenhänge. Als Sakrament bildet sie das Basisdatum christlicher Religionskultur, sie hat rechtliche Konsequenzen im Blick auf die Kirchenmitgliedschaft und sie fügt sich ein in familiale Darstellungsroutinen und moderngesellschaftliche Identitätsentwürfe. Religionssoziologische Befunde machen diesbezüglich vor allem den Kulturkontakt und die Verkirchlichung dieser Kasualie als neuralgische Zonen aus: das ansteigende Taufalter, die Einbuße religionskultureller Üblichkeiten, die familialen Verschiebungen und die Diskrepanz zwischen sakramentaler Sinngebung und optionaler Inanspruchnahme. Wenn aber der Kasus in Bewegung kommt, dann sind offenbar die Relationen neu zu vermessen. Im vorliegenden Band sind dies die Beziehungen 1. zwischen Taufpraxis und Gegenwartskultur ( Matthias Kreplin und Franziska Beetschen), 2. zwischen Dogmatik und Praktischer Theologie (Christian Grethlein und Martin Laube), 3. zwischen Kirchengeschichte und Ökumene (Andreas Müller und Walter Fleischmann-Bisten), 4. zwischen Kirchenrecht und Kirchentheorie (Jan Hermelink) und schließlich 5. zwischen den einzelnen praktisch-theologischen Disziplinen (Poimenik: Traugott Roser; Liturgie: Lutz Friedrichs; Kybernetik: Martin Treibler und Fritz Lienhard). Die damit gesetzte Systematik des Sammelbandes wird durch den abschließenden Beitrag von Helmut Schwier (»Kirche, Sakrament, Ritual und Praxis«) praktisch-theologisch gebündelt.
Die Stärke dieses »interdisziplinären Projekts« liegt in der ergebnisoffenen Spreizung des baptismalen Feldes und im multiperspektivischen Zugang zu diesem Feld. Dies fördert eine ganze Fülle relevanter (und bisweilen auch verschütteter) Aspekte zutage, die die verschiedenen thematisch gebundenen Spiegelungen des Tauf-Kaleidoskops je nach Drehung zu ganz unterschiedlichen (Deutungs-)Mustern zusammenführen. So ist der Beitrag zu den massenstatistischen Veränderungen von Matthias Kreplin ein absolutes »Must« für alle, die sich schnell und profund einen Überblick über den numerischen Stand der Dinge verschaffen wollen. Erhellend ist hier u. a. die Einsicht, dass zwar – Gott sei’s geklagt – Evangelische weniger Kinder bekommen als der Bevölkerungsdurchschnitt (25), sie sich aber durchaus durch ein proaktives Taufengagement des Pfarramts, z. B. durch Tauffeste, dazu motivieren lassen, ihre Kinder zur Taufe zu bringen (27). Alternative Taufformen, die milieukonform und religionsästhetisch angemessen an­geboten werden, sind für viele attraktiv (45) – so eine der Thesen der empirischen Studie von Franziska Beetschen, aus der sie hier be­richtet. Aber verstärkt eine solche Strategie nicht den Geltungsschwund des sakramentalen Taufverständnisses zugunsten eines »schöpfungstheologisch-lebensgeschichtlichen Sinngefälles«, wie es Christian Grethlein als Mainstream in der gegenwärtigen praktisch-theologischen Theoriebildung ausmacht? (100) Sollten nicht viel eher – so fragt er in diesem Zusammenhang kritisch an – »die Kirche und ihre Gestaltung an der Taufe« ausgerichtet werden, statt die Taufpraxis mehr und mehr zu verkirchlichen? Martin Laube regt demgegenüber an, die sakramentale Kraft der Taufe so auszudeuten, »dass sie das Leben des Täuflings in den Horizont einer schöpferisch offenen Zukunft rückt« (94). Geschöpflichkeit ist von ihrer christologischen Begründung her zu verstehen.
Sehr heilsam für die oft geschichtsvergessene Praktische Theologie ist die Aufordnung der kirchengeschichtlichen Diskurse der letzten 150 Jahre von Andreas Müller, die manch vergessenen Wirkzusammenhang wieder neu auf die Tagesordnung setzt: die neu-alte Bedeutung des Patenamts, die Pluralität alter Taufpraktiken, die sogenannte »Glaubenstaufe« sowie das Verhältnis von Taufe und Kirchenzucht. Die weitaus meisten tauftheologischen Problemanzeigen der Gegenwart haben eine lange Vorgeschichte, aus der sich trefflich lernen lässt. Dies gilt ebenfalls für die ökumenischen Taufverständnisse – hier in protestantischer Perspektive von Walter Fleischmann-Bisten vorgetragen. Seine Kernthese: Viele gegenseitige Missverständnisse ließen sich beseitigen, wenn »die Kirchen bereit wären, ihr eigenes Taufverständnis und die damit verbundene unterschiedliche Taufpraxis durch kritische Rückfragen des ökumenischen Partners zu überdenken« (143).
Im 4. Teil kommt allein Jan Hermelink zu Wort; er fasst kirchenrechtliche und kirchentheoretische Bestimmungen gewohnt konzis zusammen. Er betrachtet die Rechtstexte, in denen die Taufe einen prominenten Rang einnimmt: als Voraussetzung für Abendmahl, Konfirmation, Trauung und Bestattung und – Kirchenmitgliedschaft. Die Taufe hat also Rechtsfolgen, die durch sie begründete Gotteskindschaft wird allerdings durch den Kirchenaustritt nicht aufgehoben. Die sich hieran anlagernden Konfliktfelder – so die These – sind eingelagert in die aktuellen Selbstvergewisserungsprozesse der Kirchenorganisation.
Im letzten Themenabschnitt wird die aktuelle Taufpraxis aus der Sicht der praktisch-theologischen Teildisziplinen beleuchtet. Liturgisch macht Lutz Friedrichs den Prozesscharakter baptismalen Kasualhandelns stark: eine intensive Anamnese im Taufgespräch, Flexibilisierung von Ort und Zeit, rituelle Entschleunigung durch volle Konzentration auf die Grundelemente, das Patenamt, die Fürbitte ernst nehmen und den Familiensegen mit Sinn füllen. Traugott Roser stellt in poimenischer Perspektive auf die existenziellen Grenzfälle scharf (perinataler Kindstod, Taufe von Totgeborenen und neonatologische Befunde) und plädiert für ein »inklusives und sozialpolitisch relevantes Verständnis von Taufe« (238 ff.). Martin Treiber und Fritz Lienhard gehen in kybernetischer Sicht von den Spannungen aus, die dilemmatisch die Kasualpraxis der Taufe durchziehen. Die Asymmetrien aus Begehren und Ge­währen, Agende und Individualität, Macht und Kundenhabitus, die sich im Kasualgespräch andeuten, in der Interaktion vermitteln und im Ritus Gestalt annehmen. Auch wenn es zum Wesen von Dilemmata gehört, grundsätzlich ausweglos zu sein, werden hier Deutungen angeboten, die die Asymmetrien zumindest kommunikativ abfedern sollen. Dies gilt vor allem für die Wiedergewinnung des Prozesscharakters, die therapeutische Funktion und die gemeindliche Kontextualisierung der Taufe. – Das Aussparen der Homiletik, die ja traditionell die in diesem Kapitel mit Recht angesprochene Deutungsarbeit leistet, irritiert.
Ein Fazit aus den hier zusammengetragenen Theoriebausteinen zu ziehen, kann wohl nur über additive Akzentuierungen ge­lingen, die zum Schluss Helmut Schwier anbietet. Deutlich wird hier allemal, dass die tagungsförmigen Diskurse in Forschung und Lehre, aber auch in Kirche und Gemeinde vertiefend aufgegriffen werden müssen, um die Taufpraxis zeitgenössisch, menschenfreundlich und angemessen weiterzuentwickeln. Dieses überaus lesenswerte Buch bietet hierfür Anlässe genug.