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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

869–871

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Zimmer, Matthias

Titel/Untertitel:

Person und Ordnung. Einführung in die Soziale Marktwirtschaft.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2020. 352 S. Geb. EUR 35,00. ISBN 978-3-451-39984-8.

Rezensent:

Gunter Stemmler

Wieso schreibt ein habilitierter Politikwissenschaftler eine »Einführung in die Soziale Marktwirtschaft« mit einem ausgeprägten Bezug auf deren christliche Fundierung? Der Autor Matthias Zimmer ist zugleich Bundestagsabgeordneter. Und als stellvertretender CDA-Bundesvorsitzender gehört er zu den führenden Vertretern des relativ linken Arbeitnehmerflügels in der CDU. Dieser lehnt sich traditionell eng an die katholische Kirche und hat Wurzeln in ihrer Soziallehre gehabt. Die Webseite des Bundestages verrät, dass Z. römisch-katholisch ist. Im Buch hat er im letzten Kapitel über einige Seiten (275–282) fragend argumentiert; auf ihn selbst könnte man die Wortwendung münzen über »die Begründung des Humanum aus dem Geist der Transzendenz« (280).
Die Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem »Dritten Reich« hatten es notwendig gemacht, die ökonomische Seite des Erlittenen zu verarbeiten. Dabei wurden existierende Konzepte wie individuelle Überzeugungen debattiert und in eine wirtschaftspolitische Aktivität umgesetzt (29 ff.). Es ist Z.s Erstaunen in diesem Buch offenkundig, wie sehr die Soziale Marktwirtschaft religiöse Wurzeln hat respektive aus dem Gesellschaftsbild von Christen heraus theoretisch entwickelt worden ist. Er ist überzeugt: Ordo- liberalismus und katholische Soziallehre seien zusammen »ein Glücksfall« (17) gewesen. »Erst die Verknüpfung beider Denktraditionen hat die Soziale Marktwirtschaft zu einem durchschlagenden Erfolg gemacht. Diese These zu illustrieren ist ein Hauptanliegen dieses Buches.« Wie ihm dies gelingt, ist dessen erstes Charakteristikum.
Die parteipolitische Gebundenheit seiner Gedanken ist Z. be­wusst, und er weist die Leserinnen und Leser eingangs darauf hin (8). Z. reflektiert, wie er ebenso analysiert und argumentiert. Das zweite Charakteristikum für dieses populärwissenschaftliche Buch ist, wie es auch in den ersten fünf Kapiteln, die sich durch einen signifikanten geistigen Tiefgang auszeichnen, dennoch allgemein verständlich ist, sofern für die Lektüre reichlich Zeit und Ruhe aufgewendet wird. Entsprechend verfügt es über Endnoten im Um­fang von 35 Seiten und ein Literaturverzeichnis mit 18 Seiten, welche beide in verkleinerter Schriftgröße erscheinen. Der intellek-tuelle CDA-Politiker erweist sich in seiner Diktion und seinen Definitionen: »Es geht zunächst um Wirtschaft, also die Kultur-leistung der menschlichen Daseinsvorsorge unter Bedingungen des Mangels.« (13) Jedoch sind Begrifflichkeit und Formulierungskraft in diesem 350-Seiten-Werk uneinheitlich verteilt. Maßgebend da­für kann sein, wie sehr sich Z. mit den Aspekten befasst hat, wie eng er mit den jeweiligen Sachverhalten innerlich verbunden er­scheint. Je mehr es um Probleme in der Praxis geht, die mit der Zeit größer geworden sind, desto eher scheint die Darstellung aus der Kür zu einer Pflichtübung geworden zu sein. Während in den Kapiteln 1–5 manch theoretische Einordnung exzellent vermittelt wird, ist dies für die Kapitel 6–8 weniger der Fall. Gerade dort erweist sich über längere Strecken, wie anscheinend Textgrundlagen Z.s eigene Ausführungen sprachlich tangiert haben. Beim 9. und letzten Kapitel fragte sich der Rezensent: Entsprach diese Beigabe von verschiedenen Aspekten einem Wunsch des Herder-Verlags?
Mit dem Buchtitel »Person und Ordnung« sind die zentralen Denkfelder mit ihren Grundstrukturen benannt, so dass sie nachvollziehbar sind, was wiederum ein Erinnern befördert; die Entstehung und beispielhafte Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft präsentiert Z. systematisch strukturiert unter diachro-nischen Zügen: Zentral sind seine Ausführungen zum »Ordo­libe-ralismus« und zur »katholischen Soziallehre«, gefolgt von denen zur »Personalität« sowie zu »Markt« und »Marktwirtschaft«. Z. fo­kussiert zudem auf »Eigentum« und »Mitbestimmung«, auf »Solidarität«, »Familie« und die »Gerechtigkeit«. – Ein Beispiel für eine Position von ihm wie auch seine Gedankenschärfe sei für einen prinzipiellen Punkt aufgeführt:
»Dabei ist Subsidiarität immer auf das Gemeinwohl bezogen – weniger auf das Gemeinwohl als die Summe aller in einer Gesellschaft vereinigten Werte als vielmehr auf die Bedingungen, die dem Menschen die volle Entfaltung der Werte ermöglichen. Gemeinwohl ist also auf die Entfaltung der Person bezogen und nicht Ausdruck eines ethischen Höchstwertes, der eine Gemeinschaft über die Person stellt. Das ist die innovative Seite des Prinzips der Subsidiarität: Das Gemeinwohl wird nicht primär inhaltlich gedeutet, sondern ist Resultat gerechter, den Menschen ertüchtigender Strukturen: Aus zentralistischen Strukturen kann keine Gerechtigkeit entstehen, die Voraussetzung dafür ist die Subsidiarität.« (115)
Wie Z. darlegt, ist die Soziale Marktwirtschaft bei ihren geistigen Schöpfern theologisch fundiert gewesen. Dass er dies grundsätzlich auf die katholische Soziallehre beschränkt, ist ein Defizit und bildet ein negatives Charakteristikum. Denn nur marginal erscheinen andere Aussagen von ihm: Viele involvierte Ordoliberale dachten als evangelische Christen (Endnote 68 zu Kapitel 2 auf S. 301); Z. spricht unter Bezug auf diese Gruppe von einer »religiöse[n] Grundierung« (53) oder zeigt dies mit der Erwähnung »der evangelischen Sozialethik« (35), ohne jedoch auf sie einzugehen. Und das in Anbetracht der entsprechenden Literatur, die leicht zu finden ist, sofern man nur dem Pfad der Veröffentlichungen von Traugott Jähnichen folgt, wie er ihn zwischen 1994 und 2010 beschritten hat, um einen konkreten Ansatz zu nennen.
Biblische Bezüge sind im Buch selten; verwunderlich ist, warum er das »will« im paulinischen Zitat: zu essen, ohne zu arbeiten, aus 2Thess 3,10 (184) nicht verwendet hat. Dass sich Gottes Wirken in dieser Welt nicht nur im menschlichen Antworten durch einen Ritus am religiösen Feiertag beschränkt, sondern Gedanken entwickelt, auf denen eine Wirtschaftsordnung entstanden ist – welche nicht wenige Menschen als menschlich erträglich einordnen –, kann als theologischer Tenor dem Werk zugesprochen werden.
Als viertes und letztes Charakteristikum kann die motivierende Seite von Z.s Erstaunen über die intellektuelle und ethische Qualität der christlich geprägten Gedanken aus der Schöpfungsphase der Sozialen Marktwirtschaft gewertet werden. Dies bildet die Basis, wie Z. zugleich Wesen und Stärken der Sozialen Marktwirtschaft verdeutlicht und damit sie als veritables Alternativmodell zur Planwirtschaft oder zum neoliberalen wie auch zum protektionis-tischen Kapitalismus anregt. Das Modell kann in einem »Wettbewerb der Ideen« (10) bestehen.