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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

865–868

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dörfler-Dierken, Angelika [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und Militär. Wege und Irrwege in fünf Jahrhunderten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 320 S. m. 22 Abb. Geb. EUR 35,00. ISBN 978-3-525-31115-8.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Der Sammelband mit Beiträgen einer mehrtägigen Tagung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr im Jahr 2017 fragt nach der Bedeutung des Militärischen für die Reformation und umgekehrt, ab der Reformation bis zur Gegenwart. Im Vordergrund stehen neuere Forschungsergebnisse. Die 23 Beiträge mit Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen sind in sieben Kapitel unterteilt. Exemplarisch greife ich einige heraus.
Das erste Kapitel setzt mit Luthers Innovationen (17–45) ein. Volker Stümke (19–26) expliziert Luthers Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimentenlehre sowie dessen Rechtfertigungslehre und Berufsverständnis. Trotz der grundsätzlichen Bejahung von Militär und Soldatsein setzt Luther diesen Bereichen Grenzen. Dies gilt sowohl für den Staat (keine religiösen und Angriffskriege) als auch für den Soldaten (Gewissensbindung, keine Teilnahme an ungerechten Kriegen und Racheaktionen). In Anbetracht des »Böckenförde-Paradoxes« könne, so Stümke, bei der ethischen Fundierung des Soldatenberufs auch heute der Verweis auf Luthers Rechtfertigungslehre sinnvoll sein. Auf katholischer Seite ist, so Matthias Gillner (27–35), der (doppelte) Gewissensbegriff von Thomas von Aquin maßgeblich. Dessen Unbedingtheit der Gewissensbindung relativiert ähnlich wie Luther die Verpflichtungen gegenüber der weltlichen Autorität. Allerdings ist diese Einsicht erst seit dem Zweiten Vatikanum wirksam geworden, als sich die katholische Kirche für ein Recht auf Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen aussprach, was grundsätzlich auch für Soldatinnen und Soldaten gilt.
Die folgenden Kapitel sind primär geschichtlich orientiert. »Sicherung der Reformation durch Krieg« (47–126) behandelt verschiedene historische Stationen, Bündnisse und Gruppierungen, die der Reformation zu weiterer Verbreitung verhalfen und zugleich deren Bindung an das Militär verstärkten – mit Ausnahme der Täufer, deren Positionen zwischen einer radikalen Ablehnung von Gewalt (z. B. Hutterer) und deren Akzeptanz bei der weltlichen Obrigkeit (z. B. Hubmaier), bis hin zum Einsatz von Gewalt (Münster 1534/35) changierten, wie Astrid von Schlachta (49–61) zeigt. Im Weiteren (127–164) werden die Anfänge einer eigenen protestantischen Militärseelsorge bei Gustav Adolf von Schweden und deren Übernahme durch Preußen im 18. Jh. erläutert. Letztere war stark vom Halleschen Pietismus geprägt und zielte auf die soziale Disziplinierung der Soldaten, die primär aus einer an Tugenden von Gehorsam, Treue, Disziplin, Opferbereitschaft usw. ausgerichteten Militärethik bestand. Der preußische Wilhelminismus (165–231) des 19. Jh.s stilisierte Luther zum deutschen Nationalhelden und siegreichen Befreiungskämpfer (gegen Napoleon). Kaiser Wilhelm II. verstand sich – mittels Verknüpfung von Gottesgnadentum, lutherischer Zwei-Reiche-Lehre und Lehre vom gerechten Krieg – als ein von Gott erwählter protestantischer Landes- und Kirchenfürst und erklärte den Ersten Weltkrieg zum gerechten und heiligen (Verteidigungs-)Krieg (»Gott mit uns«). Dezidiert kritisch mit der Geschichtstheologie Luthers setzt sich Friedrich Lohmann (211–231) auseinander. Er hält diese für die Wurzel des Militarismus, der seit dem Wilhelminismus mit der »Deutung des Krieges als göttliche Offenbarung, als ›Gotteserlebnis‹« (211) – außerhalb von Christus – einen Höhepunkt erreichte. Die Alleinwirksamkeit Gottes, die Luthers Geschichtstheologie prägt, macht nach Lohmann Gott zum Herrscher der Geschichte, so dass Kriege als ein notwendiger Teil des göttlichen Wirkens ( sub contrario, als Strafe und Buße) erscheinen. Die Weltgeschichte wird zum Weltgericht. Anhand von R. Seeberg, P. Althaus und (dem jungen) P. Tillich zeigt Lohmann, wie diese Sichtweise Luthers zu einer Kriegstheologie verdichtet wurde, die bis in die liberale Theologie (M. Rade) hinein Wirkung zeigte und sogar in völkische Theologie (z. B. bei E. Hirsch) münden konnte. Lohmann setzt damit einen Kontrapunkt zur gängigen Rezeption der Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre Luthers mit der These von der »Eigengesetzlichkeit der Welt« als Grund des Militarismus.
Das fünfte Kapitel (235–254) behandelt beispielhaft den militärischen (Moltke, Stauffenberg u. a.) und theologischen (Bonhoeffer) Widerstand. Die Situation in der DDR zeichnet Friedemann Stengel (257–266) nach. Während sich die evangelische Kirchenleitung (außer Thüringen) Mitte der 1960er Jahre für die (verfassungsmäßig garantierte) Ablehnung des Waffendienstes als »ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes« aussprach – ohne aber den Waffendienst als unchristlich zu verurteilen –, hat sie später auf Druck der SED und wegen innerkirchlicher Kritik dieses Votum nicht mehr öffentlich verlautbart. Selbst während der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre (»Schwerter zu Pflugscharen«) votierte sie lediglich für den besonderen Schutz für Verweigerer. Dieser Staat-Kirche-Konflikt erklärt die kritische Einstellung der Ost-Kirchen zur Militärseelsorge des Westens nach 1989. Im Westen wurden, wie Angelika Dörfler-Dierken (267–279) verdeutlicht, die Streitkräfte durch das von Graf Baudissin maßgeblich geprägte Konzept der »Inneren Führung« an die parlamentarische Kontrolle gebunden. Für jeden Soldaten galten alle Grundrechte des Grundgesetzes (»Staatsbürger in Uniform«). Zu deren Sicherung wurden politische und historische Bildung zur Pflicht des Soldatenberufs, wozu auch Militärpfarrer mit dem »lebenskundlichen Unterricht« beitrugen. Zu Baudissins Leistungen gehörten außerdem die Leitung des neu gegründeten Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Hamburg sowie die Mitarbeit am Arbeitskreis »Sicherung des Friedens« (als Gegengewicht zur Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre). Baudissin habe sich, so Dörfler-Dierken, durch ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit und Konflikttransformation ausgezeichnet.
Im siebten Kapitel über das Verhältnis von Politik und Religion (289–312) rekapituliert Hans-Peter Großhans (291–306) wesentliche Elemente von Luthers Zwei-Reiche-Lehre und deren Konsequenz, dass sich christliche Existenz in Ehe, Familie, Beruf und Arbeit bewähre. Damit einher gehe eine aktive Bejahung der Rechts- und Freiheitsordnung sowie der Sozial-, Arbeits- und Armutspolitik. Diese sei in lutherischen im Vergleich zu katholischen und reformierten Ländern sowie zu anderen Religionen (Islam, Hinduismus, Buddhismus usw.) am fortschrittlichsten gewesen. Auch die Aussagen Luthers zum Schwertamt, zu Militär und Krieg, als von Gott angeordneter Liebesdienst am Nächsten werden unmittelbar auf die heutige Situation übertragen, ohne die ambivalente Wirkungsgeschichte zu berücksichtigen, wie dies z. B. F. Lohmann tut. Rainer Anselm (307–312) schließt den Band mit einem offen formulierten Resümee ab. Die Verantwortung (als Aufgaben- sowie Zu­schreibungsverantwortung) für den Einsatz militärischer Gewalt sei sowohl legitimationsfähig als auch legitimationspflichtig. Die Verantwortungsinstanz verschiebe sich auf die menschliche Person und nicht mehr allein gegenüber Gott und die gottgesetzte Ordnung, wie noch zur Zeit der Reformation. Ins Zentrum rücke die individuelle Verantwortung anstatt des Ordnungsgedankens der Reformation, der »viel zu viele gewalttätige Vorgehensweisen zu legitimieren« (310) verhalf. Schließlich verweist Anselm – mit Verweis auf die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärun g– positiv auf die »konsequente Säkularisierung rechtlicher Strukturen« (312) und damit auf eine politische anstelle einer religiös-theologischen Interpretation des Rechts. Ob eine pazifizierende Wirkung politischer Konflikte von einer pragmatischen Deutung von Recht und militärischer Gewalt oder eher von dem »sakralisierte(n) Friedenskonzept« (312) des »Gerechten Friedens« der beiden christlichen Kirchen zu erwarten ist, lässt Anselm offen.
Die thematisch – extensional und intensional – vielschichtigen Beiträge bieten eine Vielzahl an historischen, politischen, theologischen und ethischen Einblicken, Anregungen und Details in (Dis-) Kontinuität reformatorischer Ideen bis in die Gegenwart. Dass die systematische Tiefe und die Kontextualisierung der Themen zwischen den einzelnen Beiträgen stark variieren, ist der Tagungsstruktur geschuldet. Dies betrifft auch manche Doppelung (z. B. zu Luther). Neben Bewährtem erfährt der Leser auch neuere Bewertungen in der Forschung. Die einzelnen Kapitel orientieren sich am historischen Ablauf. Wege und Irrwege der Reformation werden deutlich sichtbar. Der Band verweist letztendlich darauf, dass angesichts der weltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart weitere Veränderungen sowie Reflexionsbedarf auch in der Zu­kunft zu erwarten sind.