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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

859–861

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Thomas, Günter

Titel/Untertitel:

Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. XII, 364 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-374-04906-6.

Rezensent:

Dirk Evers

Der Sammelband des Bochumer Systematischen Theologen Günter Thomas bringt Beiträge zusammen, die über mehrere Jahre entstanden sind und in dem Anliegen, ein theologisches Verständnis Gottes als eines lebendigen und also responsorischen und affizierbaren Gegenübers zu entwickeln, ihren gemeinsamen Fokus ha­ben. Die neun bereits publizierten Beiträge werden durch zwei bisher unveröffentlichte und genau auf diesen Fokus hin geschriebene Texte ergänzt, die im Besonderen programmatischen Charakter haben. Denn um eine Art theologisches Programm handelt es sich, mit dem einer theologischen Rede von Gott, die diesen allenfalls als begründungs- oder subjektivitätstheoretischen Referenzpunkt veranschlagt, eine ›realistische‹ und auf biblische Konzepte bezogene Alternative entgegengestellt werden soll. Gleich der für den Band neu geschriebene, hinführende erste Beitrag skizziert ebendieses Programm, indem die »Konturen einer Theologie der Lebendigkeit Gottes« (3) umrissen werden. Dazu muss Gott als affizierbar, als sich selbst korrigierend und also lernend und als risikobereit verstanden werden. Dafür entwickelt der Vf. ein konstruktiv-realistisches Mo­dell der Resonanz zwischen Gott und Schöpfung, das er gegenüber drei theologischen Alternativen (Gott als Grund, Kraft oder Begleiter) als relativ vorzugswürdig beschreibt. Im Resultat wird die Dynamik des göttlichen Lebens zu der relativ eigenständigen Entwicklungsdynamik von Welt, Israel und Kirche in Resonanz, aber gerade nicht in funktionaler (Un-)Abhängigkeit gesehen. Gott hält mit der Weiterentwicklung der eigenen Strategien und Handlungen seine langfristigen Pläne auch unter geänderten Bedingungen durch und bewährt darin seine Liebe und Treue.
Es folgen dann Erörterungen zu einzelnen Zügen dieser Ge­samtsicht, die eine trinitarische Grundstruktur erkennen lassen. So geht es zunächst um Inkarnation und Kreuz als Ausdruck der Risikobereitschaft Gottes, die in der Auferstehung produktiv wird. Das wird im dritten Beitrag noch einmal aufgenommen, wenn Kreuz und Auferstehung als Ausdruck der Verletzlichkeit, der Vulnerabilität Gottes verstanden werden. In der Auferweckung zeigt sich die Leidenschaft Gottes, die nicht einfach nur erträgt, sondern auch wider steht und verwandelt, und darin die Macht Gottes demonstriert, mit der er seine Absichten auch gegen Widerstand aufrechtzuerhalten vermag und die zu seiner Affizierbarkeit in keinem Widerspruch, sondern in einem Entsprechungsverhältnis steht. Fragen der Gotteslehre verhandelt der vierte Beitrag, der zunächst das klassische Motiv der Unveränderlichkeit Gottes in der Auseinandersetzung mit Philo von Alexandrien kritisch rekapituliert, dann den zeitgenössischen, christologisch orientierten Entwurf der Leidensfähigkeit Gottes bei Jürgen Moltmann diskutiert, um dann zu der eigenen These zu gelangen, dass die Frage nach der Veränderlichkeit Gottes eigentlich pneumatologisch zu behandeln ist, insofern der Geist Gottes für die Gottes Absichten sichernde und durchhaltende Mobilität Gottes steht. Das entfalten die Beiträge fünf und sechs noch einmal konkreter, die sich zum einen der Theologie des Gebets und zum anderen der Pneumatologie im engeren Sinne widmen. Die These der Lebendigkeit Gottes in Affizierbarkeit und Responsivität legt es nahe, Gebet nicht nur im Anschluss an Schleiermacher als Selbstbesinnung zu verstehen, sondern als wirklichen Interaktions- und Kommunikationsprozess zwischen Gott und den betenden Menschen. Und pneumatologisch wird der Geist Gottes als Macht der Aufmerksamkeit bestimmt. In Jesu Wirken bekundet Gott seine Aufmerksamkeit für die Not der Menschen und steuert und lenkt damit zugleich deren Aufmerksamkeit. Vor allem aber das Wirken des Heiligen Geistes, der die priesterliche und prophetische Funktion Christi fortsetzt, nimmt die Glaubenden in eine durch diese Aufmerksamkeit geleitete Bewegung des lebendigen Gottes selbst mit hinein.
Der zweite Teil des Bandes steht dann unter eschatologischem Vorzeichen, insofern die Lebendigkeit und Beweglichkeit Gottes einerseits durch das nicht Abgegoltene der Schöpfung bewegt wird, andererseits die Schöpfung auf das noch Ausstehende zubewegt und es heraufzuführen sucht. Dieser Teil beginnt mit einer Studie zum leeren Grab als Zeichen der neuen Schöpfung. Hier interpretiert der Vf. das Auferstehungsereignis als einen tatsächlichen, aber nicht beschreibbaren Vorgang, für den das leere Grab als Zeichen steht, und zwar möglicherweise nicht nur als literarische Chiffre, sondern als reale Möglichkeit. Das Auferstehungsereignis konstituiert einen neuen und veränderten Möglichkeitshorizont, in den unsere Wirklichkeit als offen für die Neuschöpfung der Welt eingebettet ist. Grundsätzlicher argumentiert dann der nächste Beitrag, der von einer vorausgesetzten Neuschöpfung her danach fragt, wie sich von dort die klassischen Bestimmungen theologischer Themenfelder verschieben. Hier spielt wieder der Modellbegriff eine entscheidende Rolle. Der Vf. unterscheidet drei eschatologische Modelltypen: Restitution, Substitution und Transformation, die jeweils in zwei Untertypen als vollendend oder rettend gedacht werden können. Als den biblischen Traditionen und speziell dem Christusereignis am ehesten entsprechend sieht er das Modell rettender Transformation an und nimmt dann von dort her Schöpfungslehre, Gotteslehre, Vorsehungslehre, Theologie des Gebets, Pneumatologie, Christologie und Ekklesiologie neu in den Blick. Der nächste Aufsatz versucht, die Vorstellung des göttlichen Endgerichts als eines Vollzugs schöpferischer Gerechtigkeit zu entwickeln, mit dem sich Gott sowohl dem Sünder als auch den Opfern des Sündigens neu-schöpferisch zuwen det. Damit wendet sich der Vf. gegen eine Tendenz christlicher Eschatologie der Gegenwart, die nach seiner Analyse Gottes Ewigkeit als ereignislos versteht und entsprechend das ewige Leben als Hoffnungsgut nur in der Verewigung des gelebten menschlichen Lebens sehen kann, so dass entsprechend das Endgericht nur als Auf-de-ckung des faktisch Gewesenen verstanden wird. Der Vf. hingegen versteht das Endgericht als zentrales Element einer Neuschöpfung, in der Gottes aktive Gerechtigkeit zu einem Täter-Opfer-Ausgleich führt, der unter einem neuen Himmel auf einer neuen Erde neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Das Himmelsmotiv nimmt der folgende Beitrag wieder auf, der sich in Fortführung von Barth, Moltmann und Welker zunächst um eine Wiedergewinnung des Himmelssymbols bemüht und dann von daher die Neuschöpfung des Himmels bedenken möchte. Symboltheoretisch wird der Himmel als eine verschiedene Wissensgebiete orientierend zusammenschließende »kognitive Ordnungsform« (278) verstanden, die in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden kann, damit aber auch dynamischen Verschiebungen unterliegt. Mit dieser Symbolik greift die christliche Hoffnung auf eine allumfassende rettende Transformation aus, die auch die mit dem ›Himmel‹ aufgerufenen Aspekte der Schöpfung wie z. B. überindividuelle, Menschen unfrei ma-chende und sich selbst perpetuierende Mächte und Kräfte mit umfasst.
Der letzte Beitrag des Bandes kontrastiert noch einmal das Mo­dell einer rettenden mit dem einer vollendenden Transformation. Ein solches sieht der Vf. in Entwürfen eines theologischen Naturalismus gegeben, wie er im englischsprachigen Raum in enger Anlehnung an evolutionäres, naturwissenschaftlich geprägtes Denken entwickelt wurde und für das er sich auf den englischen Biochemiker und Theologen Arthur Peacocke bezieht. An ihm kritisiert der Vf., dass zum einen Gottes differenziertes Verhältnis zu den verschiedenen Gestalten der Schöpfung nicht wahrgenommen werden kann und zum anderen das eschatologisch Neue nicht gedacht wird, in dem Gott sich gerade den Opfern von Geschichte und Schöpfung (sic!) neu zuwendet und sie eben rettet und nicht einfach vollendet. Für dieses Konzept einer rettenden Neuschöpfung muss ein radikal Neues in Anschlag gebracht werden, das nicht einfach mit dem natürlichen Zielpunkt geschöpflichen Werdens identisch sein kann.
Mit dem vorliegenden Band entwickelt der Vf. in eigenständiger und an Luhmann und sozialwissenschaftlichen Denkformen ge­schulter Weise Motive von Barth, Moltmann und Welker weiter und schlägt ein Modell theologischer Gottesrede vor, das Gott als responsorische und schöpferische Liebe versteht, ohne sich auf prozessphilosophische Großtheorien zu verpflichten. Eine solche Form theologischer Wirklichkeitsbeschreibung mit besonderem Bezug auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge steht quer zu Ansätzen protestantischer deutscher Theologie, die sich auf die Selbstauslegung des religiösen Subjekts zurückgenommen haben, aber auch zu metaphysisch-analytischen Theologien. Der Vf. argumentiert dabei modelltheoretisch reflektiert und kulturwissenschaftlich informiert und schlägt Brücken zu englischsprachigen Debatten. So verdient der anregende Band auf jeden Fall eine kritisch-konstruktive Rezeption.