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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

845–847

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Reisebriefe 1877–1914.

Verlag:

Hrsg. v. R. Aldenhoff-Hübinger u. E. Hanke. M. e. Einleitungsessay v. H. Bruhns. = Max Weber – Ausgewählte Briefe, I. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIX, 241 S. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-156491-8.

Rezensent:

Konrad Hammann

»Nur im Reisen und Schauen entspannt er sich völlig. Dann wird er ganz jung und öffnet sich aller Erdenschönheit. Er kann dann gar nicht genug Welt in sich schlingen. An keinem Ort hält es ihn länger als höchstens 3 Tage. Was immer er sieht und erfährt, bemalt das schon vorhandene Wissen mit Farbe und Gestalt.« Dies hat Marianne Weber 1926 über ihren Mann Max Weber geschrieben. Ihre Beobachtung erfährt eine ebenso anschauliche wie faszinierende Bestätigung durch die Reisebriefe Max Webers, von denen dieses wohlfeile Bändchen eine instruktive Auswahl darbietet. Die Herausgeberinnen möchten mit ihrer kleinen Sammlung keinen »repräsentativen Querschnitt« aus dem umfangreichen Briefwerk des reisenden Gelehrten vorlegen, sondern »das Markante, das Weber-Typische, seinen ›besonderten‹ Blick auf die ihn umgebende Welt […] zeigen«. Das ist ihnen zweifellos gelungen. Wer beim Lesen dieser trefflich ausgewählten Briefe auf die Idee kommen sollte, es hätte unbedingt noch dieses oder jenes Stück aus den elf Briefbänden der Max-Weber-Gesamtausgabe berücksichtigt werden müssen, würde nur verkennen, dass diese Briefauswahl einem breiteren Lesepublikum einen exemplarischen Zugang zu dem reisenden Max Weber eröffnen möchte.
Dokumentiert sind Webers große Entdeckungsreisen nach Schottland und Irland 1895, Frankreich und Spanien 1897 sowie Amerika 1904. Dazu kommen die Reisen des Schülers in den Harz und das Saaletal sowie nach Schlesien und Prag, die Hochzeitsreise, die Max und Marianne Weber 1893 nach Paris und London führt, schließlich diverse Erholungsreisen 1902–1914. Auf Reisen schreibt Weber zumeist seiner Mutter oder seiner Frau, aber auch der weiteren Familie, in der seine ausführlichen Berichte zirkulieren, nicht zuletzt für sich selbst. Denn er hält in seinen Briefen Beobachtungen zu Sozialstrukturen, ökonomischen und religiösen Gegebenheiten in den besuchten Ländern, Gegenden und Städten fest, die er zum Teil in wissenschaftlichen Arbeiten auswerten möchte, und erbittet sich deshalb später auch etliche Briefe von seinen Adressaten zurück. Kann er seine kostenintensiven Reisen gelegentlich mit dem Hinweis auf ihren kulturgeschichtlichen Ertrag legitimieren (vgl. 148), so zerstreut er Bedenken seiner Mutter über die Beschwer des Briefeschreibens damit, dieses sei »die bequemste Zeitausfüllung nach dem Abendessen« und helfe ihm, sich das Erlebte noch einmal zu vergegenwärtigen (84).
Insbesondere in den Briefen von seinen Entdeckungsreisen er­weist Weber sich als aufgeschlossener Beobachter fremder Kulturen und als scharfer Analytiker ökonomischer und sozialer Entwicklungen. Auffallend ist sein großes Interesse an Kirchen und religiösen Gemeinschaften, an ihren Lehren, Organisationsformen und Praktiken. Schon der altkluge Schüler distanziert sich 1880 in Breslau vom Katholizismus (vgl. 14), vollends der Freiburger Ordinarius mokiert sich 1895 über das schauderhaft ungebildete »Ge­sindel« des »irischen niederen Clerus« (55). Die ausführliche Schilderung der Verhältnisse am Wallfahrtsort Lourdes mitsamt zweier Pilgerzüge auf ihrem Weg zur Grotte und der sich dort abspielenden Vorgänge gerät zu einer eindrücklichen Milieuskizze der durch »die psychischen Machtmittel der katholischen Kirche« hervorgerufenen nervösen Erregung der Menschenmassen (72). Wovor Protestanten »einen unbeschreiblichen Abscheu empfinden« müssten (72) – Weber selbst tritt immerhin »einen Augenblick der kalte Schweiß auf die Stirn« (71) –, das analysiert der Religionssoziologe als Fallbeispiel der religiösen Inszenierung, die die katholische Kirche mittels psychologischer Machtmittel ins Werk setze. Eine etwas andere Wendung erhält dann die in Spanien gemachte Beobachtung einer von den Jesuiten durchgesetzten strengen Kirchenzucht in kontrastierender Verbindung mit der demokratischen Verfassung der Gesellschaft wie auch mit modernsten Produktionsmethoden: »Auf diesem Untergrunde entfaltet sich nun der modernste Capitalismus mit unerhörter Wucht.« (89)
Aus Amerika berichtet Weber 1904 über verschiedene Denominationen, wie sie ihre Gottesdienste feiern, welche Lieder die Methodisten singen, dass der Pfarrer einer deutschen Freikirche ein vergleichsweise geringes Gehalt bezieht und sich nicht auf eine soziale Absicherung stützen kann (vgl. 103 f.). Ihm fällt das undogmatische Christentum auf, das in diesen Gemeinden gepredigt wird. Offenkundig sieht er hier den Idealtypus »Sekte« verwirklicht; die Unterscheidung zwischen »Sekte« und »Kirche« wird er wenig später in seiner Studie »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus« verdeutlichen. In Chicago haben die Pres byterianer »die Prädestinationslehre und die Verdammnis der ungetauft Sterbenden abgeschafft«, bei den Scientisten ersetzen mitunter Vorträge über Harnacks »Dogmengeschichte« den Gottesdienst (109, vgl. 141 f.). Der deutsche Besucher nimmt in den protestantischen Denominationen Amerikas Spannungen zwischen der überlieferten Lehre und Praxis sowie neueren Tendenzen zum Indifferentismus wahr, sieht aber »die Macht der kirchlichen Gemeinschaften« immer noch als »gewaltig im Vergleich zu unserem Protestantismus« an (110). Nur: Ihm geht es weniger um innerkirchliche Gegensätze als vielmehr um die Bedeutung der Religion überhaupt angesichts des unaufhaltsamen Einbruchs der Moderne. Vielleicht nicht ganz zufällig wirft er nach dem Bericht über diverse »Sekten« abrupt einen Blick in die Stockyards Chicagos, in denen täglich tausende Tiere entsprechend dem Rhythmus der Maschinen geschlachtet und verarbeitet werden – ein Beispiel für »die gewaltige Intensität der Arbeit« in der von kapitalistischer Zweckrationalität beherrschten Moderne (110).
In den Niederlanden hat Weber 1903 eine von der reformierten Tradition bestimmte Kultur kennengelernt. Verglichen mit »Rembrandts in Freiheit u. Armuth gewachsener protestantischer Seele« mutet ihn Rubens, »dessen Bildern man die Jesuiten-Erziehung anmerkt«, als ungenießbar an (158). Allein, gegenüber den demokratieoffenen und auf religiöse Selbstmotivation ihrer Mitglieder setzenden »Sekten« in Amerika ist die reformierte Kirche mit ihrer strengen Orthodoxie und starren sozialen Hierarchie eine anstaltlich verfasste Religionsgemeinschaft, die ihm kaum modernekompatibel erscheint (vgl. 160). Freilich, die Gelegenheit zum Kauf von ziemlich vielen Büchern über den Calvinismus, die dann in der »protestantischen Ethik« ausgewertet werden, lässt Weber sich nicht entgehen. Alles in allem liegt ein kurzweiliger Band vor, der nicht nur den teilnehmend beobachtenden Religionssoziologen, sondern gelegentlich auch – in verstörender Weise – den Rassisten zu erkennen gibt, der trotz seines Interesses an der untergehenden Indianerkultur und an der »Rassenfrage« von den »Halbaffen […] in den Plantagen und Negerhütten des Cotton Belt’s« spricht. Man sieht, Bildung schützt vor einem ungenierten Rassismus nicht.