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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

837–840

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Höfele, Philipp

Titel/Untertitel:

Wollen und Lassen. Zur Ausdifferenzierung, Kritik und Rezeption des Willensparadigmas in der Philosophie Schellings.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2020. 488 S. = Beiträge zur Schelling-Forschung, 10. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-49112-6.

Rezensent:

Christian Danz

»Wollen ist Urseyn«, heißt es an prominenter Stelle in Schellings 1809 erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Seit dem späten 19. Jh. fungiert sie, damit aber auch der Willensbegriff, als wichtiger Parameter, an dem man die werkgeschichtliche Entwicklung seines Denkens gleichsam ablesen kann. So deutete Paul Tillich im Anschluss an Eduard von Hartmann in seiner philosophischen Dissertation von 1910 den Willensbegriff der Freiheitsschrift als Ausgangspunkt einer neuen Phase von Schellings Denken. Andere Autoren im 20. Jh. wie Martin Heidegger haben sich dieser Sichtweise, sie wurde bereits von dem Herausgeber der Werke Schellings vertreten, angeschlossen. Mit der Freiburger Dissertationsschrift von Philipp Höfele liegt nun erstmals eine umfassende und detaillierte Untersuchung zur werkgeschichtlichen Entwicklung des Willensbegriffs von Schelling vor, die dessen gesamtes Œuvre einbezieht. Der Titel der Studie, Wollen und Lassen. Zur Ausdifferenzierung, Kritik und Rezeption des Willensparadigmas in der Philosophie Schellings, ist insofern etwas ungenau, da es neben Schelling vor allem um Martin Heidegger geht. Anliegen von H. ist es zu zeigen, dass sich Schelling »in seinen Strukturanalysen des Willens und Wollens gerade in dem […] Spannungsfeld zwischen Wollen und ›Lassen‹ bewegt«, die insgesamt »im Gegenzug zu dem Gedanken eines unbedingten Willensprimats im idealistischen Kontext eine für das 19. und 20. Jh. bedeutsame ›Wende‹ im Willensdenken« (3) intonieren. Schon die Exposition der Leitfrage der Studie lässt erkennen, dass sie sich im Horizont von Heideggers Philosophie und dessen Deutung Schellings bewegt. Von dem Meisterdenker aus dem Schwarzwald soll indes lediglich die Fokussierung auf das Willensthema übernommen werden, um es kritisch von der werkgeschichtlichen Entwicklung von Schellings Willensverständnis her zu korrigieren. Denn bereits in der Willensauffassung des Leonberger Denkers finden sich kritische Reflexionen auf das Willensparadigma, gemeint ist ein absolut sich-selbst-setzender Wille, die als »Korrektiv« (7) an Heideggers Deutung der Philosophiegeschichte sowie Schellings insbesondere gelten können.
Strukturiert ist die Untersuchung in vier Hauptteile. Auf eine Einleitung (1–15), die den Gegenstand der Studie in die Forschungsgeschichte einordnet sowie ihr Procedere und ihre Fragestellung darlegt, erörtert der erste Hauptteil Schellings anfängliche Versuche einer Ausweitung des Willensparadigmas gegenüber Kant und Fichte (1795–1806) (17–99). Es folgt eine sehr ausführliche Darstellung von Schellings sogenannter mittlerer Periode zwischen Freiheitsschrift und den Erlanger Vorträgen mit der Überschrift Die Pluralisierung und Kritik des Willensparadigmas im Zeichen des Tragischen und das Denken der Gelassenheit (1809–1821) (101–251). Relativ knapp behandelt sodann der dritte Hauptteil, Die abschließende Zusammenfassung und partielle Aufwertung des Willensdenkens in der Münchener und Berliner Zeit (1827–1842), das Spätwerk Schellings (253–291), um sich im letzten Hauptteil Heideggers reduktionistischer Aufnahme der schellingschen Willenskonzeption in seiner Metaphysikkritik (293–438) ausführlich zuzuwenden. Bereits der Aufriss der Studie lässt erkennen, dass in der mittleren Periode Schellings zwischen 1809 und 1821 der Höhepunkt von dessen Reflexionen über den Willen gesehen wird. Entsprechend gestaltet sich die werkgenetische Entwicklung der Willenskonzeption als ein Dreischritt bzw. als eine zweimalige »Neujustierung« (11). Während der junge Schelling vor dem Hintergrund der Philosophie Spinozas den Willensbegriff der kantisch-fichteschen Philosophie aufnimmt und am Ende der 1790er Jahre ausweitet, formuliert die mittlere Periode mit dem Gelassenheitskonzept sowie einer mit diesem verbundenen Entzogenheit des Willens eine weitreichende Kritik an t ranszendentalphilosophischen Willensverständnissen. Im Spätwerk hingegen werden die beiden Dimensionen, Autonomie des Willens einerseits und deren Kritik, zusammengebunden, indem Schelling hier mit der »Figur des ›Herr des Seins‹ wieder in aller Deutlichkeit einen positiv konnotierten Willensbegriff ins Zentrum stell[t], ohne dass allerdings die in der ›mittleren‹ Philosophie gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Deformationen im Willen und Wollen ausgeklammert würden« (11 f.).
Im Einzelnen bietet H. eine prägnante Rekonstruktion zuächst von Schellings früher Auseinandersetzung mit dem Willenskonzept zwischen 1795 und 1806 im Spannungsfeld von Kant und Fichte einerseits und Spinoza andererseits, die anhand der Abfolge der frühen Schriften Schellings bündig herausgearbeitet wird. Der Zuspitzung auf den Willensbegriff ist es geschuldet, dass die Naturphilosophie nur sehr knapp abgehandelt wird (Die Randständigkeit des Wollensbegriffs und die zunehmende Eigenständigkeit der Naturphilosophie in den Schriften von 1797 bis 1799, 58–64). Schelling verwendet in der Tat den Willensbegriff im Kontext der Naturphilosophie nicht. Eine andere Frage ist es jedoch, wie es um das naturphilosophische Verständnis der Kraft und deren Verhältnis zum Willen steht. Werkgeschichtlich ist dies insofern von Bedeutung, als Schellings triadische Potenzenlehre, deren Ausarbeitung um 1800 auf das naturphilosophische Materieverständnis zurückgeht und in der weiteren Werkgeschichte bis hin zum Spätwerk mit dem Willensbegriff verbunden wird, in der Untersuchung unterbelichtet ist. Das zeigt sich auch an der Darstellung der Identitätsphilosophie ( Verneinung und Wiederentdeckung des Willensparadigmas in der ›absoluten Identität‹, 80–95), die von vornherein nur als Durchgangstufe zum ›reife[n]‹ Willensdenken der Freiheitsschrift und der Weltalter (95) in den Blick kommt und als statisch charakterisiert wird. Erst die 1806 der zweiten Auflage der Weltseele vorangestellte Abhandlung Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur gelange zu einer willenstheoretischen Fassung des Prinzips und folglich zu einer Dynamisierung des Systems (89–95). Damit bahnen sich in den frühen Schriften Schellings, worauf H. in seiner Darstellung ständig verweist, Motive an, die das Willensverständnis des Idealismus brechen, aber erst mit der Freiheitsschrift werde das Willensparadigma der Idealismus von Kant und Fichte explizit der Kritik unterzogen und den Willen relativierende Phänomene wie Liebe, Gelassenheit und Nicht-Wollen in den Vordergrund gerückt. Ausgeführt wird Schellings Neujustierung des Willens in der Abfolge seiner Texte ab 1809 bis hin zu den Erlanger Vorlesungen, also vor allem an dem Weltalterprojekt, an dem der Philosoph seit 1810 arbeitete und das er nicht zum Abschluss brachte. Souverän zeichnet H. die Pluralisierung des Willensverständnisses von Schelling in dieser Periode nach, diskutiert einzelne Dimensionen des Willens wie das Tragische, Ekstase, Gelassenheit etc. unter durchgehender Einbeziehung von anderen Positionen wie etwa der Hegels (207–213) und Schopenhauers (241–247).
Das Münchener (255–273) und Berliner Spätwerk Schellings (274–291) bietet eine abermalige Neujustierung des Willenskonzepts, indem Motive der Frühphilosophie mit denen der mittleren Phase in der Ausarbeitung einer negativen und einer positiven Philosophie verbunden werden. Zu Recht macht H. auf die werkgeschichtliche Entwicklung zwischen der Münchener und der Berliner Zeit Schellings aufmerksam, da dieser erst in den 1840er Jahren eine negative Philosophie ausarbeitet, in der willenskritische Motive der mittleren Phase aufgenommen werden. Heideggers Auseinandersetzung mit Schelling ist der abschließende vierte Hauptteil gewidmet. Vor dem Hintergrund der dargestellten werkgeschichtlichen Analyse von Schellings Willensbegriff rekonstruiert H. eingehend das Willensverständnis Heideggers und dessen Ausarbeitung von Sein und Zeit bis zu den Vorlesungen der 1940er Jahre.
Ohne Zweifel hat H. eine grundlegende und wichtige Untersuchung zu Schellings Willensverständnis vorgelegt. Ob aber H. gut daran getan hat, die triadische Potenzenstruktur nicht in ihrem systematischen Gewicht (auch für den Willensbegriff) zu berücksichtigen, ist eine Frage, die nicht nur ihre Funktion für den Systemaufbau betrifft. Bezieht man diese, die seit 1801 die Form als Darstellung des nichtdarstellbaren Wesens expliziert, in die Erörterung des Willensverständnisses und seiner naturphilosophischen Grundlagen mit ein, gelangt man nicht nur zu einem anderen Verständnis der werkgeschichtlichen Entwicklung Schellings als H., man sieht dann auch, dass die von H. so genannte Pluralisierung und Kritik des Willens bereits für das System von 1801 konstitutiv ist und nicht erst für die Werkphase ab 1809.