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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

830–832

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bohnert, Daniel Wolfgang

Titel/Untertitel:

Wittenberger Universitätstheologie im frühen 17. Jahrhundert. Eine Fallstudie zu Friedrich Balduin (1575–1627).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XII, 399 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 183. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-155474-2.

Rezensent:

Walter Sparn

Diese Dissertation verknüpft das Interesse am Autor Balduin und seiner Lebensgeschichte mit dem an seiner sozialen, religiösen und institutionellen Welt; die prosopographisch-kollektivbiographische Methode arbeitet qualitative und mittels serieller Daten auch quantitative Fragestellungen aus. Der bis vor Kurzem nur selektiv wahrgenommene Balduin, um 1620 außenwirksamster Wittenberger Professor, war eine gute Wahl für eine solche Fallstudie.
Kapitel I (11–19) skizziert die Bedeutung Balduins als eines Repräsentanten der Wittenberger Theologie nach 1591/92 in der Phase der Konsolidierung und um die Aktualität Luthers besorgten Generation. Der Vf. geht davon aus, dass die Amtsobliegenheiten Balduins (1605 Professor, 1607/8 Pfarrer der Stadtkirche und Generalsuperintendent des Kurkreises, 1616 Primarius) sein theologisches Werk prägten (16 ff.). Kapitel II (20–36) stellt die Forschung zur orthodoxen Lehrbildung, zur »Reformorthodoxie« und zum Praxis- und Lebensbezug der Theologie vor. Der Vf. hält das gän-gige Bild von ihr im Blick auf ihre »Lehre« für richtig und schiebt nach, dass »theologische Innovation« in der Orthodoxie »nicht möglich« war (17). Das restliche Bild will er – »Professionalisierung« – mit der Leitfrage revidieren, wie theologische Lehrer gestiegenen Kompetenzanforderungen gerecht zu werden versuchten; daher richtet er sein Augenmerk vor allem auf die »Formlehren« Hermeneutik und Methodik (31 ff.).
Kapitel III (37–122) zeichnet ergebnisreich die Wittenberger Fa­kultätsgeschichte 1580 bis 1627 aus Universitätsordnungen, Fakultätsbeschlüssen, Immatrikulations-, Promotions- und Ordina-tionslisten nach. Der Vf. charakterisiert Balduins Lehrer (Ä. Hun-nius, S. Gesner, D. Runge, L. Hutter), seine Kollegen (W. Franz, B. Meisner, N. Hunnius (45 ff.) und die kollektiven Gutachteraktivi-täten (D. Hofmann, J. Arndt, H. Rahtmann, Tübinger Christologie, 52 ff.). Die Biographie Balduins wird rekonstruiert nach geographischer und sozialer Herkunft, Ausbildung und Bildungsförderung, Wirkungsorten, Tätigkeitsfeldern, Besitz- und Familienstand (57 ff.121 f.). Kapitel IV (123–185) profiliert Balduins personalpoli-tische, ökonomische und aufsichtliche Amtstätigkeiten zwischen Stadtrat, Stadtkirche und Universität (123 ff.). Ergänzend sind Herkunft, Bildung und Wirkung der Ordinanden, auch die Kirchen- und Schulvisitationen 1608/9 und 1617/24 recherchiert (141 ff.). Balduins Ausbildungstätigkeit in Vorlesungen und Disputationen wird auch quantitativ erhoben; einer disputationshistorischen Skizze folgen die Themen und Nachweise zu Respondenten und Graduierten (154 ff.). Ein sympathischer Bild Balduins als Ephorus von Stipendiaten, als Stifter und Mediator zwischen Studenten und Stadt fehlt nicht (172 ff.183 ff.). Das umfänglichste Kapitel V charakterisiert Balduin als Vertreter der Wittenberger Universitätstheologie im frühen 17. Jh. (186–279).
Der Vf. zeichnet (1.) die »Grundlinien« der Theologie Balduins, zunächst anhand seines Theologiebegriffs, den dieser allerdings weder systematisch ausarbeitete noch an erste Stelle setzte. Die Feststellung, dass Balduin die analytische, den praktischen Disziplinen angemessene Diskursordnung nicht übernahm, sondern »theoretische« und »praktische Theologie« konservativ bloß nebeneinanderstellte, setzt der Vf. leider nicht Beziehung zu der auch von seinem Kollegen Meisner vorangetriebenen Revision des Theologiebegriffs, die auf die Integration des existenziellen (Luther) und des doktrinalen Motivs (Melanchthon) in die insgesamt religionsvermittelnde Praxis des Theologen zielte. Hinter dem philoso-phie-, literatur- und theologiehistorischen Forschungsstand zu­rück bleibt der Vf. auch im Blick auf die Hermeneutik, die der Vf. in deren Geschichte seit Luther am Leitfaden von K. Holl (!) einordnet (195 ff.). Der Vf. sieht vor allem nicht, dass schon M. Flacius, explizit J. C. Dannhauer 1630 aus theologischen Gründen eine allgemeine Hermeneutik anzielten, weil nur so behauptet werden kann, dass sich die heilsame Autorität der Bibel unabhängig von privilegierten Auslegern zur Geltung bringe. Balduin sei »mehr Exeget als Dogmatiker« (198), weil er der Exegese den Vorrang vor der Dogmatik zuschreibe? Kein Orthodoxer hat das je anders gesagt – der Vf. verschleiert das Problem aller Protestanten, auch der (leider ganz abwesenden) reformierten, die prekäre Beziehung von Philologie und Logik schon innerhalb der Texthermeneutik. Der Vf. be­schränkt sich auf die exegetischen Regeln, die er Balduins Antrittsvorlesung, Vorreden zu Bibelkommentaren und dem Phosphorus veri Catholicismi (1626) entnimmt, und auf die Methode ihrer An­wendung in der Klärung der Disposition und des Skopus eines Textes und seiner philologisch genauen Auslegung und Erklärung (analysis, explicatio, 212 ff.).
Nach der guten Seite schlägt die Beschränkung auf den Autor Balduin aus in der Darstellung seiner beiden Handbücher zur Theologenausbildung. Der Vf. stellt (2.) die Brevis institutio minis-trorum verbi (1621) vor, die eine praxisnahe Amtstheologie, das Kompetenzprofil des Predigers, auch die in der Anfechtung zu erwerbende Selbsterkenntnis (221 ff.), die Praxisfelder und seine tugendhafte Lebensführung umfasst (238 ff.). Dass Balduin die Dogmatik zwar »voraussetzt«, seine »Basis« jedoch 1Tim, die Alte Kirche und CA 5 bzw. 14 bilden, erkennt der Vf. daran, dass das Examen den Willen und die Fähigkeit prüft, die Schrift selbständig auszulegen und der Gemeinde »nützlich«, d. h. aufgrund der Un­terscheidung von Gesetz und Evangelium in inventio (Themenfindung), elocutio und pronuntiatio zu predigen (235 ff.). Eine Schlüsselrolle für die Arbeit an den Affekten des Herzens spielt die bib-lische, auch die pagane und augustinisch überformende Rhetorik (3.) in der Idea Dispositionum Biblicarum (1622; 243 ff.). Hier führt Balduin mit Regelkatalogen und Beispielen die ratio tractandi bib­lischer Texte vor Augen, vor allem die Disposition von Versen, Perikopen, Büchern bis zur Bibel im Ganzen. »Homiletik als Exegese« nennt der Vf. den Gang vom Gebet und der Meditation des Sinns zum stimmigen, skopusorientierten Gebrauch des Textes (247 ff.). Hier kommt auch die applikative Hermeneutik zur Sprache, die (immer bei Nicht-Widerspruch zum Literalsinn) einen Text auch mit allegorischen Mitteln auf die Erbauung des Hörers hin »lehrt« (252 ff.). Sorgfältig referiert der Vf. die Regeln für die scholastische und die populäre Auslegung historischer, didaktischer und »ge­mischter« Bücher (254 ff.). Bei diesen rekurriert Balduin betont auch auf die Typologie, die den mystischen Sinnzusammenhang zweier Geschichten od er Personen markiert. Diese Form mystischer Exegese begründet den Christus-Sinn der Schrift und ist daher die wichtigste neben der literalen Exegese (262 ff.). An Balduins Postillen, Leichenpredigten und dem Biblisch Betbüchlein (1617) zeigt der Vf. punktuell, wie der anfangs eher lehrhafte Balduin zum einfachen, erbaulichen Gebrauch der Bibel anleitete, auch abweichend vom Vorbild Luther (266 ff.). Er skizziert (4.) den Anfang des Tractatus de casibus conscientiae (post. 1628), der zwar kein neues literarisches Genus einführt, der aber, Exegese, Homiletik und Gutachten verbindend, Gewissensentscheidungen vorbereitet. Balduins Analyse der conscientia bleibt leider völlig isoliert von der damals heftigen philosophischen und theologischen Diskussion (273 ff.).
Kapitel VI (281–284) fasst den Beitrag Balduins zum Wittenberger Modell zusammen: eine Methode des Theologietreibens, die Auslegung und Predigt der Heiligen Schrift in einem Prozess verknüpft. Der Vf. spricht von einer »Ineinssetzung von Exegese und Homiletik«, die die Dogmatik »eigentlich ersetzen« könne (284) – nachdem er gesagt hatte, dass Balduin stets »auf die dogmatischen Probleme der Zeit fixiert war« (198, Anm. 2) und immer »Luthers Theologie« zum Ergebnis hatte (9 u. ö.). Auch vermutet der Vf. in Balduins Ausrichtung auf praktischen Nutzen analog zur Medizin »ein gewisses Maß an Utilitarismus«, der »Säkularisierung wider Willen« begünstigt haben könnte (198.284). Sahen Balduins Kollegen das auch so?
Der Anhang enthält die vollständige Bibliographie Balduins in chronologischer Folge (289 ff.); eine Liste der fast 100 erhaltenen Briefe von und an Balduin und die Edition von 20, deren Orte, Personen und Ereignisse weitgehend verifiziert sind (309 ff.). Das Re-gister zum Wittenberger Ordiniertenbuch Bd. VI dokumentiert 815 Examina und Ordinationen zwischen 1605 und 1627 sowie elf Li­zentiaten- und Doktorpromotionen (328 ff.). Archivalische (353 ff.) und gedruckte (358 ff.) Quellen, Literatur (367 ff.), Personenregister (393 ff.).