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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

815–817

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ryan, Scott C.

Titel/Untertitel:

Divine Conflict and the Divine Warrior. Listening to Romans and Other Jewish Voices.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIX, 316 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 507. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-156501-4.

Rezensent:

Stefan Krauter

In der Paulusforschung stehen sich inzwischen nicht mehr nur eine »Alte« und eine »Neue Paulusperspektive« gegenüber, sondern es gibt zahlreiche »Paulusperspektiven«, die teilweise in scharf po­lemischer Auseinandersetzung zueinander stehen, teilweise auch in beziehungslosen Paralleluniversen nebeneinander zu existieren scheinen. Scott C. Ryans auf eine Dissertation an der Baylor University unter dem Mentorat von Beverly Roberts Gaventa zurückgehende Studie lässt sich – wie bei diesem Entstehungsort zu erwarten – einer Pauluslektüre zuordnen, die die Briefe des Apostels auf dem Hintergrund apokalyptischer Vorstellungen des antiken Judentums liest.
Auf eine kurze Einleitung (1–7) und einen sehr knappen Überblick über die bisherige Forschung zum »Divine Warrior« (7–19) folgt ein ebenso knappes Methodenkapitel (19–22). Mit nachvollziehbaren Argumenten entscheidet sich R. gegen eine im engen Sinne quellengeschichtliche Vorgehensweise (d. h. die Suche nach direkten Zitaten oder Anspielungen) oder auch eine motivgeschichtliche Arbeit (d. h. die Frage, woher Paulus bestimmte Formulierungen oder Vorstellungen hat) und für eine Art Diskursanalyse (d. h. eine möglichst breite Darstellung, wie im antiken Judentum über den »Divine Warrior« geredet werden konnte, und eine anschließende Verortung der paulinischen Aussagen zum Thema innerhalb dieses Rahmens).
Dementsprechend bieten die folgenden Kapitel vor allem einen Überblick über zahlreiche Texte, in denen über Gott als Krieger die Rede ist: altorientalische Mythen (23–25), Exodus 14–15 (26–32), Amos (32–43), Ezechiel (43–59), Daniel 7–12 (60–76), Jesaja (78–107), 1Henoch 1–11 und 37–71 (108–121), Psalmen Salomos (121–129), Sapientia Salomonis (130–140), Serekh haMilchamah (141–148) und 4Esra (149–156). R. stellt heraus, dass Gott als Krieger im Kampf gegen die Feinde Israels dargestellt werden kann, aber auch als Krieger, der sich unter Indienstnahme anderer Mächte gegen das abtrünnige Volk wendet. In einigen Texten überträgt Gott den Kampf an eine messianische Gestalt. Das ist alles akkurat und zuverlässig gearbeitet, zudem lesefreundlich mit Zusammenfassungen dargeboten. Allerdings bleibt R. an der Oberfläche der Texte, oft bietet er Nacherzählungen bzw. Zusammenfassungen der Quellen. Die Frage, welche Trägerkreise in welcher Situation und mit welcher Absicht die Vorstellung vom Kriegergott aufgreifen, tippt er meist nur an.
Die nun folgenden beiden Kapitel untersuchen auf diesem Hintergrund den Römerbrief. Zuerst widmet sich R. Röm 5–8, weil die entsprechenden Motive in diesen Kapiteln klar sichtbar und da-rum auch schon häufiger untersucht seien (160–197), anschließend sucht R. auch in Röm 1–3, Röm 9–11 und Röm 16,20 nach Aussa-gen über Gott als Krieger in einem kosmischen Kampf (198–241). R. kommt zum Schluss, dass Paulus im ganzen Brief die Gotteskriegertradition aufnimmt, aber auch entscheidend modifiziert. Gott kämpft nun für die ganze von ihm geliebte Schöpfung gegen die kosmischen Mächte Sünde und Tod, die die Schöpfung in ihre Gewalt gebracht und versklavt haben. Den entscheidenden Sieg hat dabei Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung bereits errungen, doch die endgültige Vernichtung der feindlichen Mächte steht noch aus. Bis dahin stellen die Erlösten ihre Leiber als Waffen im Kampf zur Verfügung, nehmen also in dieser Welt am überweltlichen, eschatologischen Kampfgeschehen teil.
Während es R. an einigen Stellen gelingt, die paulinischen Aussagen auf dem Hintergrund der »Divine Warrior«-Tradition zu profilieren, sind andere Auslegungen einzelner Passagen abwegig. Es erschließt sich z. B. in keiner Weise, wo die Verbindung zwischen »den eigenen Sohn nicht verschonen« (Röm 8,32) und dem Motiv »die Feinde im Kampf schonungslos vernichten« liegen soll (184–186), außer dass das Wort pheidomai dasselbe ist. Ebenso unplausibel ist es, Röm 6,12 als Aufforderung an den Kriegergott zu verstehen, dafür zu kämpfen, dass die kosmische Macht der Sünde nicht über die sterblichen Leiber herrsche (192–194), weil der Imperativ 3. Person Singular auch Ps 67,2–4 LXX vorkomme.
An letzterer Stelle zeigt sich ein Grundproblem: R. blendet die Möglichkeit, dass Paulus (teilweise) metaphorisch redet, konsequent aus. Für ihn sind Sünde und Tod durchgehend »kosmische Mächte«. Hätte er die zahlreichen Texte hellenistischer oder frühkaiserzeitlicher Moralphilosophie auch nur zur Kenntnis genommen, dann wäre deutlich geworden, dass dort die Metaphern von Sklavendienst unter den Begierden und Kampf um Befreiung von diesen Tyrannen gängig sind. So aber schreibt R. etwa von Röm 7, ohne den Begriff Akrasie und die mit ihm verbundene intensive Forschungsdebatte auch nur zu erwähnen.
Sein apokalyptischer Paulus fällt also leider ganz deutlich unter die Kategorie »abgeschottetes Paralleluniversum« (wie auch ein Blick in das Literaturverzeichnis bestätigt). Das ist bedauerlich, denn dass Paulus apokalyptische Motive und Vorstellungen aufnimmt und das Heilhandeln Gottes in Christus mit ihrer Hilfe deutet und beschreibt, wird man kaum bestreiten wollen. Interessant und weiterführend wäre also gewesen, zu untersuchen, wie er diese Vorstellungen mit anderen verknüpft, die er z. B. aus der zeitgenössischen Popularphilosophie oder den antik-jüdischen Debat ten über die Auslegung der Tora nimmt. Notwendig wäre auch gewesen, den eigenen Ansatz eines apokalyptischen Paulus we-nigstens ansatzweise in ein Gespräch z. B. mit der New Perspective oder der Interpretation im Gefolge von Stanley Stowers zu bringen (dazu findet sich im ganzen Buch auf S. 165 f. eine Fußnote). Wenn R. ohne Weiteres behauptet, Paulus hebe die Dichotomie zwischen Israel und den bilderverehrenden Völkern auf und rede nur noch über die der Sünde unterworfene Menschheit, dann ist das angesichts der umfangreichen Forschungsdebatten der letzten Jahrzehnte zu diesem Thema zumindest irritierend.
R.s Betreuerin Gaventa sieht die von ihr maßgeblich vertre-tene apokalyptische Paulusdeutung als »Breitleinwand« gegenüber einem »pan and scan«-Format, das die kosmische Dimension der paulinischen Theologie ausblende. R.s Dissertation erweckt leider eher den Eindruck, dass aus der vielfältigen antiken Welt des Paulus und aus den vielen Ansätzen der Paulusforschung nur ein sehr schmaler Ausschnitt wahrgenommen wird. Bei aller sorgfältigen und auch durchaus weiterführenden Arbeit ist sie darum letztendlich eine vertane Chance.