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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

812–815

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Levine, Amy-Jill, and Ben Witherington III

Titel/Untertitel:

The Gospel of Luke.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2018. 715 S. = New Cambridge Bible Commentary. Geb. £ 90,00. ISBN 978-0-521-85950-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Aus der Kommentarliteratur unserer Tage sticht die vorliegende Auslegung des Evangeliums nach Lukas dank eines originellen Ansatzes hervor: Sie bildet durchgängig das Ergebnis eines Gespräches (in diesem Falle: des christlich-jüdischen) ab – und markiert so auf sichtbare Weise den Gewinn dialogischen Arbeitens. Beide Gesprächspartner sind auf dem Feld der Bibelwissenschaften seit Langem etabliert: Amy-Jill Levine nennt sich selbst eine »jüdische feministische agnostische Neutestamentlerin«; Ben Witherington III stellt sich als einen »methodistischen, evangelikalen Neutestamentler« vor. Die Erwartung, dass eine solche Konstellation Spannendes und Überraschendes bereithält, wird bei der Lektüre des Kommentars nicht enttäuscht. In bester Tradition rabbinischer Lehrgespräche bleiben (bei einem großen Schnittbereich gemeinsamer Überzeugungen) auch konträre Ansichten gleichberechtigt nebeneinanderstehen – nach dem Muster: »Amy-Jill says … but Ben is of the opinion …« (und umgekehrt). Auf unmittelbare Weise wird das Lesepublikum so in die dargelegten Problemstellungen verwickelt und an deren Lösung beteiligt: »Ours is not a debating commentary; ours is a ›come let us reason together and talk‹ commentary.« (6) Dass ein solches Verfahren neben der didaktisch geschickten Aufbereitung von Informationen zugleich auch ein großes Lesevergnügen bereitet, macht diesen Kommentar auf der Szene seines Genres zu einer Ausnahmeerscheinung.
Die klassischen Einleitungsfragen werden in einer kompakten »Introduction« (1–17) abgehandelt. Ihr Anspruch besteht nicht darin, klare Statements zu formulieren, sondern verschiedene Positionen und offene Fragen zu markieren. Die Identität des Autors Lukas bewegt sich zwischen der Annahme eines Paulusbegleiters und der Zuschreibung an einen anonymen Christen der 2./3. Generation; offen bleibt, ob er Diasporajude oder Gottesfürchtiger ist. Einigkeit herrscht zwischen Ben und Amy-Jill darüber, dass Lukas die LXX und die griechisch-römische Rhetorik gleichermaßen gut kennt und dass seine Sensibilität für soziale Fragen eher für eine Herkunft aus abhängigen Verhältnissen spricht. Dissens besteht vor allem mit Blick auf die Art, in der Lukas seine Quellen verarbeitet, sowie hinsichtlich seines Verständnisses von Geschichtsschreibung überhaupt. Thematisch entfaltet sich ein Diskurs über die Haltung des Lukas zum Judentum, seine Loyalität gegenüber Rom oder sein Rollenbild von Frauen. Daraus erwächst jedoch kein Schlagabtausch von Argumenten, sondern ein Gespräch, das mit Respekt und Aufmerksamkeit geführt wird. Wichtiger als das Recht einer Meinung ist dabei die Überzeugung, dass die Wahrheit nie einseitig fixiert werden kann und dass gerade die Pragmatik der Texte aus traditionellen Pattsituationen herauszuführen vermag – »Here we agree that the ›so what‹ question matters: if one believes in the Gospel’s supernatural claims, what difference do those beliefs make in one’s attitude and action?« (10) Dieses Spiel führen Amy-Jill und Ben auf mustergültige Weise vor: »We want our readers to see the same text through different lenses: Jewish and Christian (of particular sorts), historical and literary, behind the text and in front of the text as well as in the text.« (17)
Das Problem der Textgliederung, die immer schon das Ergebnis zahlreicher exegetischer Vorentscheidungen ist und die eine eigenständige Interpretationsleistung darstellt, umschifft der Kommentar auf galante Weise: Er geht ganz einfach an den schon vorgegebenen 24 Kapiteln entlang und wählt für sie möglichst weit gespannte Überschriften (z. B. »Luke 5: healing, debating, forgiv-ing«). Jedes dieser Kapitel beginnt mit einer vollständigen Übersetzung. Die Feingliederung in Perikopen, die dabei vorgenommen wird, wiederholt sich dann in der anschließenden Auslegung, die versweise erfolgt. Den gemeinsamen Abschluss eines Kapitels bildet jeweils ein Abschnitt »bridging the horizons«, der themenorientiert angelegt ist und mit zum Teil sehr persönlichen, lebens-nahen Geschichten oder aussagekräftigen Szenen aus Literatur, Musik und Film aufzuwarten versteht. Hier schlägt das Herz des Kommentars besonders vernehmbar: Die Geschichten des Lukas und die Wirklichkeitserfahrung im 21. Jh. haben viel miteinander zu tun. Insgesamt sind zwölf Kästen mit Exkursen (gekennzeichnet als »a closer look«) in den Text eingefügt – über Lk 1–2 und die folgende Erzählung, die Cantica in Lk 1–2, die Beziehung zwischen Bergpredigt und Feldrede, über »Miriam of Migdal« (als mit Ab­stand längsten Exkurs), über Gleichnisse, die Samaritaner, die Gottesherrschaft, Himmel und Hölle im frühen Judentum, Judas Iskariot, den Prozess Jesu vor dem Synedrion, die Passa-Amnestie und die Kreuzigungsstrafe. Das Gespräch mit der Forschungsliteratur wird auf eine behutsame, stets kundige und klug ausgewählte Weise geführt. Fußnoten bleiben sparsam und informativ. Der Kommentar hat genug Eigenes zu sagen.
In der Durchführung begegnet auf jeder Seite jüdisch-christ-licher Dialog im Vollzug – mit besonderer Aufmerksamkeit für die sozialgeschichtliche Themenlinie der lukanischen Theologie. Die geraden Kapitel sind von Ben kommentiert, die ungeraden von Amy-Jill; geschrieben und gegenlesen haben den Text beide, wo-bei das Ergebnis gereift sei »wie guter Wein«. Aus der Fülle von originellen Textbeobachtungen und anregenden Interpretationen möchte ich im Folgenden nur wenige Beispiele herausgreifen, die für die strukturbildende Gesprächssituation in diesem Kommentar relevant sind.
Besonderes Interesse verdient die Episode vom Zwölfjährigen im Tempel (2,41–52), die lange Zeit als Ausweis der Überlegenheit Jesu über die jüdischen Lehrer schon im Kindesalter (miss)verstanden worden ist. Hier wird mit Sorgfalt die Frömmigkeit der Familie und ihre Verwurzelung im kultischen Leben des Judentums herausgearbeitet. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Marias Anrede des Knaben mit teknon ein Netz zu anderen »verlorenen Kindern« (15,31; 16,25) spannt. Zu vorsichtig bleibt hingegen der zutreffende Ansatz, das Kind Jesus den Lehrern nicht über-, sondern zuzuordnen: nämlich »hörend und fragend« unter denen, »die zu meinem Vater gehören« (und eben nicht Anspruch erhebend »im Haus meines Vaters«). Das Gleichnis von Altem und Neuem (5,36–39) galt die längste Zeit seiner Auslegung als Beleg für die Überlegenheit der »neuen« Lehre Jesu über das »alte« Judentum. Das weist der Kommentar entschieden zurück, indem er das Bild ernst nimmt: beides hat seinen Platz, nichts wird eliminiert, »context matters«. Die Frage, ob Jesus Schülerinnen hatte, entzündet sich vor allem an zwei Perikopen (8,1–3 / 24,1–12). In der vorliegenden Kommentierung kommt die gesamte Spannweite der Diskussion zur Darstellung: Ben sieht Frauen bei Lukas aufgewertet und den Männern der Jesusbewegung gleichgestellt; Amy-Jill notiert v or allem die Defizite und betont, dass auch das Frauenbild des Lukas nicht über die Konstellation nachgeordneter Hilfsdienste hinauskomme. Dabei wird auch der Zusammenhang zwischen den Frauen am Ostermorgen und der Frauengruppe aus Galiläa herausgearbeitet (24,6: »erinnert euch …«), begleitet von einem ausführlichen Exkurs zu Maria Magdalena, der die Wucherungen der Legende beiseite räumt. Deutlicher als an diesem Thema könnte die berühmte »lukanische Unbestimmtheit« kaum dargestellt werden. An der Aussendung der 70/72 (10,1–24) erweist sich das lukanische Verständnis von Schülerschaft und Mission. Zweifellos hat Lukas diese doppelte Aussendung mit symbolischer Bedeutung versehen. Spannender als deren Nachzeichnung gerät jedoch die abschließende Reflexion, die das Phänomen »Mission« im Kontext unserer heutigen Gesellschaft problematisiert. Viel diskutiert und viel geschunden ist die Episode von Maria und Marta (10,38–42). Hier beweist die Auslegung Feingefühl und entgeht der Versuchung, gegeneinander auszuspielen, was Jesus offenlässt. Die Se­mantik von diakoneo wird weit gefasst; Diakonie bedarf der Unterstützung und der Konzentration gleichermaßen. Für die Überlie-ferung der Parabel vom ungerechten Verwalter (16,1–13) ist von Belang, wo die Pointe ausgemacht wird: Das geschieht im vorliegenden Falle bei 16,8a, womit das Lob dem Herrn des Gleichnisses zugeschrieben wird. Die folgenden Anwendungen (16,8b–13) dokumentieren dann bereits, wie die delikate Pointe in der Überlieferung zurechtgerückt und abgesichert werden muss. Eschatologie und Ethik sind die beherrschenden Themen der Geschichte von dem reichen Prasser und dem armen Lazarus (16,19–31). Die Auslegung arbeitet die Figurenkonstellation kleinteilig heraus und fügt das Jenseitsbild der Parabel in die religionsgeschichtliche Vorstellungswelt des frühen Judentums ein. Sie unterschätzt indessen den Schluss, der gerade heute wieder hochaktuell ist: »Mose und die Propheten« vermögen den Gotteswillen vollgültig auszusagen. Die auch bei Lukas (wenngleich deutlich weniger profiliert als bei Matt häus) vorhandene Pharisäer-Polemik wird vor allem durch die Geschichte von Pharisäer und Zöllner im Tempel (18,9–14) reguliert. Die Auslegung (namentlich von Amy-Jill) bürstet die Ge­schichte gegen den Strich: »both prayers have a problem«; der Pharisäer sagt zu viel, der Zöllner zu wenig; genau darin liegt die Pointe. Die Präposition para in 18,14b lässt sich besser im Sinne von »alongside« anstatt von »rather than« verstehen: Beide gehen gerechtfertigt nach Hause, wobei der Zöllner Anteil an dem »surplus« des Pharisäers erhält. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Schülern (22,14–23) hat bei Lukas eine auffällig eigenständige Gestalt. Hier liegt der Akzent der Auslegung auf dem Symposiumscharakter mit den anschließenden Mahlgesprächen; bemerkenswert ist die Reflexion über Waffenbesitz und den Umgang mit Gewalt angesichts der Schwerterepisode (22,35–38). Ein gutes Gespür für politische Konstellationen beweist die Auslegung der verschiedenen Verhörszenen (22/23). Während jedoch das Verhör vor dem Sanhedrin (22,66–71) in seiner rechtlichen Ambivalenz sorgfältig analysiert wird, bleibt die Funktion des Verhörs vor Herodes Antipas (23,6–12) in seiner Funktion, ein mustergültiges römisches Ak-kusationsverfahren herzustellen, un­berücksichtigt. Zeitgeschichtlich relativiert wird die Episode von der Passaamnestie (23,16–25), deren Praxis – wie eine Prüfung der Quellen ergibt – Konstrukt des Markus ist: »the scenario […] is a theological parable«. Der Kommentar klingt mit der nur knapp behandelten Himmelfahrtserzählung (24,50–53) eher leise aus. Dass Lukas hier ein Scharnierstück zur folgenden Apostelgeschichte platziert hat und dass diese letzte Szene nichts anderes als ein abschließender Erscheinungsbericht ist, findet keine Erwähnung mehr; betont werden der Segensgestus des Auferstandenen und seine Anbetung durch die Schüler. Ein letzter Brückenschlag gilt dem Dialog: »We see in part, but a good dialogue can help us see more clearly.«
Diese Beispiele müssen genügen. Sie zeigen, dass in der Kommentarliteratur bei Weitem noch nicht alles gesagt ist. Im Vorwort hieß es: »We have written this commentary in order to be read and not simply consultet.« (6) Wer einmal zu lesen begonnen hat, wird diesen besonderen Kommentar in der Tat so schnell nicht wieder aus der Hand legen.