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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

810–812

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kobel, Esther

Titel/Untertitel:

Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen Positionierung des Apostels der Völker.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. XII, 273 S. m. Abb. u. Tab. = Studies in Cultural Contexts of the Bible, 1. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-506-70746-8.

Rezensent:

Christian Strecker

Bei der angezeigten Studie handelt es sich um die für den Druck leicht überarbeitete Version einer an der Universität Basel eingereichten Habilitationsschrift. Sie eröffnet zugleich die neue Reihe »Studies in Cultural Contexts of the Bible«. Ihr zentraler Gegenstand ist die Völkermission des Paulus. Esther Kobel deutet sie als »Kulturtransfer«. Der Apostel erscheine sowohl in seiner brieflichen Selbstdarstellung wie im neutestamentlichen Gesamtporträt seines Wirkens als eine persönlich »bikulturell« geprägte Person, die in der Rolle eines »interkulturellen Vermittlers« ein »immaterielles kulturelles Artefakt«, nämlich den Christusglauben, aus der jüdischen »Ausgangskultur« in die pagane »Zielkultur« transferiert habe. Zur Begründung ihrer These schreitet K. sukzessive von den größeren kulturellen Kontexten des Transfergeschehens zu dessen spezieller Konkretion: Nach einer theoretischen Grundlegung geht sie zunächst den kulturellen Prägungen des hellenistischen Mittelmeerraums nach, sie rekonstruiert dann wesentliche Züge der Person und der Vita des Apostels, beleuchtet daraufhin das Profil der paulinischen Adressatenschaft, um schließlich 1Kor 9,19–23. 24–27 als Schlüsseltext ihrer Thesen auszuleuchten. Die Arbeit ist in sieben Kapitel untergliedert.
Nach einer kurzen Einleitung (1–9) erläutert K. in einem Theoriekapitel (10–34) vorab das der Arbeit zugrunde gelegte Verständnis der Schlüsselbegriffe »Kultur« und »Kulturtransfer«. »Kultur« bestimmt K. unter Rekurs auf die Konzepte der Sozialpsychologen Geert Hofstede und Alexander Thomas als »kollektive Programmierung des Geistes« bzw. als ein das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln von Menschen bestimmendes »Orientierungs-system«, das sich in bestimmten »Kulturstandards« niederschlage. Beim Gebrauch des Begriffs »Kulturtransfer« folgt K. Thesen französischer Germanisten und Historiker zu kulturellen Übernahmeprozessen sowie deren Fortentwicklung im multiperspektivischen Konzept der Histoire croisée, welches auf die dynamische Wechselseitigkeit in den historischen Verflechtungen konkreter Gesellschaften, Kulturen oder Nationen abhebt.
Im dritten Kapitel (35–64) widmet K. sich dem hellenistischen Diasporajudentum als »Ausgangskultur« des postulierten Kulturtransfers. Erörtert werden u. a. die jüngeren Forschungen zur Überwindung der Dichotomie von Judentum und Hellenismus und die Konzepte der Bilingualität und Bikulturalität. Letztere erfassen K. zufolge die hellenistische Welt besser als die Kategorien des Synkretismus, der Hybridisierung, der Kreolisierung oder der Métissage.
Im vierten Kapitel (65–132) porträtiert K. Paulus als eine im Orientierungssystem des hellenistischen Judentums verwurzelte und zugleich von der nichtjüdischen Umwelt geprägte bikulturelle Persönlichkeit, die durch eine Lebenswende zum bedeutenden in­terkulturellen Vermittler des Christusglaubens wurde. Die Bikulturalität macht K. an Paulus’ Koine-Griechisch, Mehrsprachigkeit und Septuagintakenntnis fest, ferner an seiner Herkunft aus der Diaspora sowie an seiner Sozialisation sowohl im hellenistischen Bildungssystem wie auch in der jüdischen Welt der Synagoge und in Jerusalem. Die Paulusbriefe deutet K. als wichtige Medien der interkulturellen Vermittlung des Apostels. Formal würden sie sich an jüdischen gemeindeleitenden Briefen sowie an Elementen philophronetischer Briefe orientieren, in der salutatio des Präskripts aber auch eine Hinwendung zur paganen Adressatenschaft aufweisen. In den brieflichen Selbstdarstellungen stelle Paulus zudem seine Rolle als interkultureller Vermittler eigens heraus, so, wenn er sich als priesterlicher Diener Christi für die Völker beschreibe, sein Agieren an den jesajanischen Gottesknecht anlehne und sein Damaskuserlebnis als Auftrag zum Wirken unter den Völkern schildere. Paulus bleibe aber auch in der Rolle des interkulturellen Vermittlers ganz im Judentum verankert. Paulus’ Missionsverständnis, dessen Konturen K. in einem eigenen Unterabschnitt absteckt, impliziere keinen Bruch mit dem Judentum, wohl aber dessen Durchlässigkeit für Außenstehende.
Das fünfte Kapitel (133–152) nimmt die intendierte Adressatenschaft der Briefe als »Zielkultur« des paulinischen Kulturtransfers in den Blick. Diese bestünde primär aus Proselyten und Gottesfürchtigen, also nichtjüdischen, gleichwohl der Synagoge nahestehenden und insofern ihrerseits bikulturellen Menschen. Exemplarisch durchleuchtet K. dann die mutmaßliche Zusammensetzung der korinthischen Gemeinde.
Im sechsten Kapitel (153–214) bestimmt K. 1Kor 9,19–23 als Schlüsseltext ihrer kulturwissenschaftlichen Deutung. Sie unterzieht die Aussagen einer genauen Auslegung. Paulus’ Programm der Anpassung an differente Adressaten führt sie auf das antike philosophisch-rhetorische Konzept der Adaptabilität und eine Nachahmung Jesu offener Kommensalität zurück. Ungeachtet aller Flexibilität bleibe der Apostel aber ein Ioudaios. Die durch den Christusglauben bedingten Verschiebungen seines jüdischen Orientierungssystems erlaubten ihm jedoch, mit »seinen Identitätsanteilen zu spielen« (177), so, wie alle Berufenen ihre angestammte Identität behielten und doch in Christus transformiert seien (1Kor 7,17–24). Das Prinzip, »allen alles zu werden« (1Kor 9,22), setze Paulus dann in 1Kor 9,24–27 in der auf die christusgläubige und apos-tolische Existenz bezogenen Agonmetaphorik direkt um. In Anbetracht der Isthmischen Spiele würde Paulus den Korinthern dergestalt wie ein Korinther werden. In einer Konklusion (215–222) fasst K. wichtige Ergebnisse zusammen.
Die Studie erschließt ein wichtiges Thema mittels eines neuen kulturtheoretischen Zugriffs. Ihr besonderer Wert liegt indes we­niger in der konkreten exegetischen Verarbeitung kulturwissenschaftlicher Modelle, die nicht allzu intensiv erfolgt, als vielmehr in der instruktiven Diskussion internationaler Forschungen zur Welt des Paulus und zu seinem Agieren in dieser. Begrüßenswert ist, dass K. dabei u. a. Positionen der im angloamerikanischen Raum unter dem Label »radical perspective« oder auch »Paul within Judaism« firmierenden Paulusdeutung präsentiert, die hierzulande nur unzureichend beachtet werden. Dass man über einige Thesen selbstredend streiten mag, ist kein Manko. Schwerer wiegen grundsätzliche Anfragen: Sind Hofstedes Konzept der Kulturdimensionen und Thomas’ Kulturstandardforschung, die im kulturwissenschaftlichen Diskurs in der Kritik stehen, Reduktionismen, Essenzialismen und Stereotypisierungen zu befördern, der neutes-tamentlichen Forschung wirklich dienlich? Ist die exklusiv am Phänomen moderner Nationalkulturen entwickelte Kulturtransferforschung ohne Verzerrungen auf die antike Welt übertragbar? Auch die Beschränkung der exegetischen Fundierung auf 1Kor 9, 19–24 wirft Fragen auf. Viele einschlägige Paulustexte werden übergangen. Die programmatischen Sätze über Ioudaioi und Hellenen in Gal 3,28 und 1Kor 12,13 bleiben samt den interkulturellen Implikationen von Taufe und Herrenmahl ebenso unerörtert wie die Verwerfung der jüdischen Statusmarker in Phil 3,7–9 oder die gewichtigen Reflexionen in Röm 9–11. Schließlich: Ist eine Bestimmung des Christusglaubens als transferierbares »kulturelles Artefakt« angemessen? Im Unterschied zur »Ausgangs-« und zu der »Zielkultur« widmet K. dem Transferinhalt leider kein eigenes Kapitel. So lässt sich festhalten: K. formuliert in ihrer Studie wichtige Fragen und gibt wichtige Anstöße in Bezug auf ein Thema, dessen Komplexität gleichwohl eine noch breiter angelegte Erforschung verlangt.