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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

775–781

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eßbach, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Religionssoziologie 2. Entfesselter Markt und Artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen. 2 Teilbde.

Verlag:

Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2019. Teilbd. 1: I–VI, 1–828 S. Teilbd. 2: I–VI, 829–1684 S. Geb. EUR 249,00. ISBN 978-3-7705-5820-9.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Eßbach, Wolfgang: Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014. 892 S. Geb. EUR 135,00. ISBN 978-3-7705-3971-0.


Max Stirner, über dessen Rolle für die Entwicklung des Historischen Materialismus Wolfgang Eßbach 1978 in Göttingen promovierte, hatte schon früh erkannt, dass sich Religion – anders als von Karl Marx prophezeit – im Zuge der Modernisierung sozialer Strukturen keineswegs erübrige. An die Überzeugung Stirners anknüpfend, dass Glauben-Können auf der menschlichen Fähigkeit basiere, »Wesen oder Ereignisse, Abstrakta oder Dinge zu sakralisieren« (E., 1, 754), versucht E. in seinen Typologisierung von Religion zu zeigen, dass es sich dabei nicht um »Ersatzreligionen« oder »Religionsersatz« für die schwindende Dominanz der »Bekenntnisreligion« handelt. Die von ihm porträtierten Religionsprofile widerspiegeln gleichgewichtige Versuche, auf je akute Herausforderungen irritierender, verstörender, bisweilen traumatisierender Zeiterfahrungen antworten zu müssen – und diese u. a. religiös zu bewältigen. Das Säkularisierungsparadigma, mit dem u. a. die Auflösung der christlichen Religion, die Loslösung von ihr und Phänomene wie Atheismus und Agnostizismus kommentiert wurden, wird dabei entschlossen verlassen.
In seinem mehr als zweieinhalbtausend Seiten umfassenden Opus magnum präsentiert der Freiburger Soziologe nicht nur die gesellschaftlichen Dynamiken, Themen und von ihm neu definierten Epochen der ca. 500-jährigen europäischen Religionsgeschichte der Moderne, sondern sachkundig behauene Bausteine einer kohärenten, sich Kapitel um Kapitel erschließenden Religionstheorie. Dank seiner interdisziplinären Anknüpfung an religionssoziologisch relevante Diskurse verschiedenster Provenienz und durch das Aufzeigen weitreichender Zusammenhänge zwischen Ereignissen, kollektiven Erfahrungen, deren Verarbeitung in den Quellenschriften der europäischen Geistesgeschichte und den jeweils gezogenen Konsequenzen für das Denken und Praktizieren von Religion besticht E.s Werk nicht nur durch seine klare Argumentation, es ist auch spannend zu lesen.
Im Unterschied zu anderen religionssoziologischen Konzeptionen geht E. – statt von einer Analyse sozialer Muster in den Weltreligionen, magischer Vorstellungen, atheistischer Positionen oder einer bipolaren Betrachtung von Christentum und Säkularismus, »heilig« und »profan« usw. – von historischen Fragen aus: Vor dem Hintergrund existenzerschütternder, ratlos machender »kollektiver Zeiterfahrungen« untersucht er, wie religiöses Denken und Verhalten sich präsentieren, wofür Religion jeweils in Anspruch genommen, wie sie gestaltet und verändert wird, in welche Dilemmata überlieferte religiöse Traditionen durch ihren plötzlichen Plausibilitätsverlust geraten – und unter Umständen neu rezipiert werden.
Dabei kommen signifikante Brüche, Risse und Störungen im Repertoire der Lebensbewältigung in den Blick, ausgelöst durch je neuartige Erfahrungen, wie sie durch Glaubenskriege verursacht, in Revolutionen erlitten, unter den Bedingungen der Marktgesellschaft gemacht oder im Zuge der Artifizierung der Lebenswelt gesammelt wurden. Solche Erfahrungen schlagen sich in spezifischen »kollektiven Stimmungen« und Themen nieder, die über einen längeren Zeitraum die Kommunikation einer Gesellschaft prägen. Sie gehen mit der Wahrnehmung von Problemen einher, denen mit den überlieferten Bewältigungsstrategien nicht beizukommen ist; sie stellen die Religiosität von Menschen vor neue Herausforderungen, deren Bearbeitung dazu führt, dass sich das Gesicht der Religion der entsprechenden Epoche verändert. »Dominierende gesellschaftliche Zeiterfahrung erlittener, ungelöster Probleme und die Wiederkehr des Interesses an Religion, das Streben nach einer anderen Religiosität und das Bewusstsein ihrer Fraglichkeit gehen Hand in Hand, das ist die übergreifende These dieser Religionssoziologie.« (E., 1, 21) Das »Bewusstsein der Fraglichkeit« von Religion ist dabei nicht nur die Folge sich permanent ändernder gesamtgesellschaftlicher Situationen, die vor je neue Probleme stellen; da »Religion […] nicht immer die Antwort auf dieselbe Frage« ist (22), wird sie in dem Moment selbst zum Problem, wenn ihr Lösungspotential – obschon zunehmend in Zweifel stehend – heiliggesprochen und gleichsam für alle Zukunft eingefroren wird.
Bei der Recherche und Kommentierung jener signifikanten kollektiven Erfahrungen und ihrer »Bruchlinien« (vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt 2002) greift E. außer auf historische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen auf Texte zurück, in denen Intellektuelle versuchen, ihre beunruhigenden – insbesondere die Wahrnehmung der religiösen Situation ihrer Zeit betreffenden – Erfahrungen auf den Punkt zu bringen. In das Quellenmaterial sind »antike Philosophen und Propheten ebenso [einbezogen] wie mittelalterliche Klostergelehrsamkeit und Wanderpredigt, [der] Humanismus sowie die Juristen und Forscher der frühen Neuzeit und alle jene, die mit ihren Schriften und Werken […] bis heute sich ihre Öffentlichkeit zu schaffen bemüht haben. Diese Weite ist nötig, denn bis heute nähren Intellektuelle ihre Identität aus den Kornkammern der Tradition« (E., 1, 23 f.); sie kommt in diesen Texten in existentieller Dringlichkeit, größtmöglicher Klarheit, aber auch in ihrer je begrenzten Reichweite und mit den dadurch provozierten »religiösen Innovationen« (25) in den Blick.
»Die innere Dynamik Europas und die Typen von Religion« zu verstehen, »die zwischen Christentum und religiöser Indifferenz entstanden sind und zum Reichtum dieser Region gehören« (26), ist E. Herausforderung genug. Hierüber einen Überblick zu gewinnen und ein grundsätzlich neues Verständnis dafür zu schaffen, dass wir es in der Moderne weder mit einem unausweichlichen Niedergang noch mit einer Rückkehr der Religion noch mit konstanten Gestalten religiöser Kommunikation zu tun haben, sondern mit einem »religiösen Reichtum als einem in bestimmter Weise ge­schichteten, kumulativen Phänomen, dessen Elemente in einem spannungsreichen Gefüge zueinander stehen und kaum zu beruhigen sind« (2/2, 1432), dies alles setzt eine hinreichend komplexe Betrachtung und Bewertung voraus, die durch das Ausblenden globaler Kontraste nicht verfälscht wird, sondern an Tiefenschärfe gewinnt.
E. hat eine Sequenz von sechs »Religionstypen« herausgearbeitet. Jeder einzelne von ihnen enthält Varianten, ihre Elemente können sich mischen. Als idealtypische Modelle erfüllen sie gleichwohl die Funktion von »Dispositiven« im Foucaultschen Sinn: Sie helfen zu verstehen, wie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auf einen Notstand geantwortet wurde (vgl. M. Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, 120). So lassen sich in der Religionsgeschichte Europas – aufeinander folgend – folgende Typen unterscheiden: (1.) Bekenntnisreligion, (2.) Rationalreligion, (3.) Kunst-religion, (4.) Nationalreligion, (5.) Wissenschaftsreligion und (6.) ritual-technische Verfahrensreligion.
Diese religionsgeschichtlich rekonstruierten Antworten auf die Konfessionalisierung von Territorien, auf Glaubenskriege, Revolutionen usw. sind nach E. einerseits das historische Ergebnis einer »kompetitiven Differenzierung, bei der das je neue Gesicht der Religion die Situation grundlegend verändert und die älteren Gesichter der Religion zu Antworten [ge]nötigt« hat (1, 26) – und zu deren Formulierung Intellektuelle Schlüsselbegriffe und neue Fragen beigesteuert haben. Andererseits ist die facettenreich nachgezeichnete Genese des religiösen Pluralismus in Europa eine herausragende hermeneutische Leistung: Es versteht sich keineswegs von selbst, aus der sich dynamisch wandelnden Gemengelage von Staat und Religion, Kirchenkritik und Religionsfreiheit, aus enthusiastischen Neuaufbrüchen und Gewalterfahrungen, individueller und kollektiver (nationaler) Intensivierung religiösen Erlebens, aus der Warenform von Religion im Zeitalter der entfesselten Marktwirtschaft oder dem Zusammenhang von Technisierung und Ästhetisierung der Lebenswelt – um nur die grundlegenden Reflexionsperspektiven zu benennen – ein derart scharf profiliertes Gesamtbild der Soziologie der Religionen in Europa zu zeichnen.
E. folgt im Aufbau seines Werkes der Sequenz der sechs Religionstypen, indem er jeweils deren Vorgeschichte, eigene Dynamik und ihre Konsequenzen in den Blick nimmt. Dazwischengeschaltete Einleitungen, »Unterbrechungen« und Ausblicke vertiefen signifikante Parallelentwicklungen in angrenzenden, von den Religionstypen jeweils mitbetroffenen bzw. von ihnen ausgelösten gesellschaftlichen Diskursen (z. B. Philosophie, Medizin, Ästhetik, Ethik usw.). Daraus ergibt sich folgende Gesamtkonzeption:
Band 1 nimmt im ersten Teil (35–318) die Entwicklung zweier Religionstypen in den Blick, die als Nachwirkungen der Glaubenskriege dargestellt werden: Während die Bekenntnisreligion (Kapitel 1) aus der spannungsreichen Verknüpfung von Heilsfragen mit Kirche und territorialer Herrschaft wichtige Impulse empfängt, aus denen sich u. a. der Druck zur Bekenntniskonformität ergibt, amalgamieren sich in der Rationalreligion (Kapitel 2) Dogmen-, Institutions- und Kirchenkritik als historische Begleitumstände von Religionsfriede und -freiheit. Menschen wird die »Kompetenz zur vernunftgemäßen Einsicht in die göttliche Ordnung« zugetraut, womit Religiosität »zu einem anthropologischen Basisbegriff« wird (158). Von diesen Beobachtungen aus werden (Kapitel 3) rationalreligiöse Entwicklungslinien in Holland, England, Frankreich, Deutschland und Nordamerika aufgezeigt, die u. a. in der Frage nach den Menschenrechten zusammenlaufen. Unter der Überschrift »Geheimnis des Herzens« (Kapitel 4) nimmt E. bis in die Gegenwart reichende Elemente der ›Innensteuerung‹ des Menschen in den Blick: aus der Bewältigung der Erfahrung der Glaubenskriege erwachsene Haltungen, in denen sich u. a. die »Trennung von Religion und Religiosität«, religiöse Innerlichkeit und die »Zen- tralstellung der Gewissensfreiheit« manifestieren.
E.s Ausführungen laufen u. a. auf das Plädoyer hinaus, »die mo-derne Bekenntnisreligion nicht als alleingültigen Maßstab« religionssoziologischer Forschung gelten zu lassen und »rationale Religionsformate als minderwertige Surrogate zu behandeln« (315). Eine sich anschließende 60-seitige brillante Analyse der durch die Aufklärung ausgelösten »Prozesse der Entteufelung« (durch die »Medizinisierung des Dämonischen«, die »Ästhetisierung des Hässlichen« und die »Moralisierung des Bösen«) dokumentiert die komplexen, bis in die Gegenwart reichenden gesellschaftlichen Be­mühungen um das Kleinmachen und -halten des »Teufels« sowie die Rückwirkung dieser Impulse auf alle nachfolgenden Typen von Religion.
Der zweite Teil des 1. Bandes (379–752) geht von der »sich wiederholenden Revolution« als der beherrschenden »Zeiterfahrung im Europa der Jahre 1789–1848« (381) aus. Sie ist von einem enthusiastischen Erwachen, einem »intensiven Werteerleben«, einer sich euphorisch steigernden Bewusstwerdung geprägt. Daraus gehen zum einen neue Kollektivkonzepte im Sinne völkische Bewegungen hervor, deren Anhänger von der Heiligkeit der Nation überzeugt sind (Nationalreligion). Zum anderen inkarniert sich der aufschäumende Enthusiasmus mit »individualisierender Intensität« (29) im kunstreligiösen Erleben – also als Kunstreligion. Dieser Enthusiasmus fördert den Glauben an die Ewigkeitswerte der Kunst (744); er manifestiert sich sowohl in der »stillen Andacht in den Museen« als auch – hierin zeigt sich exemplarisch die latente Kontinuität der sich übereinander lagernden Schichten von Reli-gion – in den als göttlich empfundenen »Ekstasen von Rock und Pop« (29). (In diesem Zusammenhang wäre z. B. auch auf Martin Nicols Studie zur religiösen Dimension der Rezeption Beethovens zu verweisen [Gottesklang und Fingersatz. Beethovens Klavier-sonaten als religiöses Erlebnis, Bonn 2015]). Zur Vertiefung dieser beiden neuen Religionen werden die vielfältigen Austauschbewegungen zwischen Kunst und Religion (z. B. mit Bezug auf Richard Wagner) dargestellt und Versuche analysiert, »Nation als symbo-lische Form, soziale Konstruktion, kollektive Identität und fiktive Gemeinschaft begreifbar zu machen« (E., 1, 453).
Diesen Ausführungen ist unter dem Titel »Ursprung und Ziel der Begeisterung« ein ca. 70seitiges Kapitel historischer, philosophischer, theologischer, politischer und soziologischer Prolegomena vorgeschaltet, das die Vorgeschichte und Entwicklung einzelner Elemente und Facetten der enthusiastischen Dimension von Religion interdisziplinär erschließt. Darin werden u. a. auch Schleiermachers »Neubestimmung religiöser Kommunikation«, seine Kritik am Typus der Rationalreligion und seine Option für eine »Verschwisterung von Religion und Kunst« (381) in einen auf­schlussreichen Zusammenhang gestellt (432–444). Das nachgestellte Kapitel »Ewige Rechte, ewige Linke« deckt die religionssoziologische Dimension der politischen Rechts-Links-Unterscheidung auf, wobei die spezifischen Intensitäten des religiösen Fundamentalismus einerseits (»Erweckung«) und des religiösen Radikalismus andererseits (»Erwachen«) herausgearbeitet werden. Konsequenterweise unternimmt E. darüber hinaus den Versuch, »die erstaunliche Persistenz der Recht-Links-Unterscheidung« auf »gegensätzliche Seiten des theologischen Erbes« zu beziehen (600–616), wobei der Bogen von der ›links-gerichteten‹ geschichtstheoretischen Ausarbeitung der Verheißung des Reiches Gottes über Wolfhart Pannenbergs Modell von der »Selbstoffenbarung Gottes in der geschichtlichen Zeit« (601 f.615) bis hin zu rechts-gerichteten, anti-utopistischen Positionen fundamentalistischer Apokalyptik gespannt wird.
Die 831 Seiten des zweiten Bandes (2/1) sind den Erfahrungen, Mustern und Wirkungen der »entfesselten Marktwirtschaft als Wiege neuer Religionen« gewidmet. Die sie prägende Zeiterfahrung ist nicht von Krieg, sondern von Konkurrenz bestimmt, nicht von enthusiastischem Erwachen, sondern von materiellen Interessen (823). Die Wissenschaft, die verlässliches Wissen zur Marktbeherrschung bereitstellt, wird nicht nur zur neuen Autorität, sondern »zur letzten Instanz, zum absoluten Wert« (ebd.). Indem sie die »Balance von Glauben und Wissen« verwirft (Kapitel II. 3), »Aktivität gegenüber Kontemplation« privilegiert, indem sie die Wirklichkeit segmentiert und sich vor allem für die »Regelhaftigkeit und Kontrollierbarkeit des gewählten Ausschnitts«, für Messbares und Quantifizierbares interessiert und einem Pragmatismus folgt, »der weniger nach Gründen als nach Erfolgen fragt«, zwingt sie »alle anderen Religionen untereinander in Konkurrenzverhältnisse auf dem Gebiet des Geistigen« (823). Diese Konkurrenzverhältnisse etablieren sich in der »sozialen Form eines Religionsmarktes«, der die einzelnen Anbieter dazu nötigt, sich durch Schärfung ihres Profils entweder abzugrenzen »oder sich flexibel zu machen, um religiöse Innovationen der Konkurrenten übernehmen zu können. Alle modernen europäischen Religionen gewinnen in dieser Struktur eine mehr oder weniger ausgeprägte Warenform als ein Angebot, auf das man sich einlassen kann oder nicht« (11 f.).
Zum theoretischen Horizont dieser Betrachtungsweise gehören für E. die Gleichrangigkeit von Religion, Metaphysik und Ideologie sowie die Möglichkeit, jegliche »Zumutungen des Sollens als eine ›heilige Sache‹«qualifizieren zu können (10 f.). Die »Rede von der ›Religion des Kapitalismus‹, vom Geld als einer dämonischen Macht oder dem neuen Gott [… zeugt] von einer anhaltenden Unsicherheit, eine religiöse Formation auszuweisen, die mit der epochalen Er-fahrung entfesselter Marktgesellschaft als einer unheimlichen Erfahrung kor-respondiert« (11, vgl. auch 61–107). Bei seinem Vorschlag, die religiöse Formation des entfesselten Marktes als Wissenschaftsreligion zu begreifen, hat E. Versuche im Blick, die jene Unsicherheit überwinden sollen, wie etwa die Wiederauferstehung des Weltanschauungsbegriffs in der Formulierung »wissenschaftliche Weltanschauung« oder den Handel mit ihr auf dem Markt der Religionen (521–656). Vor diesem Hintergrund werden auch die Ursachen von Religionsimporten, die religiöse Dimension des Pessimismus als weltanschauliche Strömung und – auf höchst originelle Weise – die Prinzipien des Religionsunternehmertums erklärt.
In diesen Band ist eine sorgfältige Spurensicherung der Entwicklung der weitverzweigten »Wissenschaften von der Religion« einbezogen. Sie setzt mit der Analyse von Konzeptionen des Religiösen ein, die um 1900 entwickelt wurden, um Religion wissenschaftlich zu definieren. E. verdeutlicht, wie es dazu kam, dass es zur Interpretation und Bewertung von Religion in der Moderne nicht mehr ausreichte, mit der etablierten, im Grunde formalen Unterscheidung von »Religion und Religiosität« zu arbeiten. Es galt, »den Kernbereich des Gegenstandes Religion auch inhaltlich genauer zu bestimmen« (2/1, 660). Die sich daraus ergebenden »Suchbewegungen« kommen bei E. als latente »Fluchtbewegungen« angesichts von Konkurrenzerfahrungen auf dem religiösen Markt in den Blick (690): Dazu gehören s. E. William James’ Interesse für die »religiösen Virtuosen am Rande der Gesellschaft« (690), Religionsvergleiche früher Hochkulturen, die Erörterung des Ursprungs der Religion, ihre Spuren im anarchischen Triebleben (Sigmund Freud) und last not least Rudolf Ottos Versuch, das Wesen von Religiosität phänomenologisch zu bestimmen und die Erfahrung des Heiligen als numinosum tremendum et fascinosum hervorzuheben. Diese Erörterungen bilden den Anfang eines großangelegten religionswissenschaftlichen Gesamtporträts.
E. schreitet einen weiten Bogen religionssoziologisch relevanter Diskurse ab – ausgehend von Émile Durkheims Analyse der »Krise sozialer Kohäsion« (und der Funktion der Religion, diese Kohäsion zu stärken) über E. Troeltschs Thesen zu den sozialen Rahmen-bedingungen von Kirche, Sekte und Mystik (und die Frage nach der institutionellen Gestalt des christlichen Glaubens), über M. Webers Positionierung in der Frage, »welche Dimension der verschiedenen Weltreligionen einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung förderlich sind und welche nicht« (826), Nietzsches Blick auf die drohende »Selbstauflösung christlicher Religion« bis hin zu G. Simmels Verständnis von Religiosität als einer Tendenz, »bei der sich aus Religionsfragmenten […] ein Persönlichkeitskern bildet« (826). Anhand zahlreicher Quellen und historischer Details gelingt es E., das einende Band dieser langen Galerie von Religionsbildern, von denen hier nur einige genannt werden konnten, im­mer wieder zum Vorschein zu bringen: ihren je spezifischen Bezug z u Herausforderungen der modernen Marktgesellschaft, zu der mittlerweile auch die marktförmige Konkurrenz der Religionen gehörte.
Im dritten Teilband (2/2) dieser Religionssoziologie erzählt E. von den im 20. Jh. aufbrechenden »religiösen Suchbewegungen«, die die Erfahrung einer zunehmenden »Artifizierung der Lebenswelt« ausgelöst hat. Diese Erfahrung ist von der »konkurrenten Ambivalenz von Technikbegeisterung und Technikfeindschaft«, vom »Zusammenhang von Sozialwelt und Artefakten« und der »Überhöhung der Dinge als Kultobjekte« geprägt; überdies mani-festiert sie sich in der Ausprägung eines »neues Subjekttypus«, dem des Konsumenten (831). Damit kommen insofern »unfertige Religionen« zur Sprache, als sie »aus einer spezifischen Ratlosigkeit« (1423) geboren werden, die bald mit »›primitiven‹ Religionen« und ihrem illiteraten Objektzauber jenseits der Welt der Bücher sympathisieren (989–1122), bald sich – nachdem gewohnte Ganzheits vorstellungen u. a. durch Relativitätstheorie und Atomphysik einen Riss bekommen haben und apokalyptische Vorstellungen an Popularität gewinnen – an »Neuformatierungen eines Ganzheitsglaubens« wie etwa der »Sakralisierung der Natur« versuchen (1123–1266).
In den Formen und Facetten »orthopraktischer Religiosität« kommt die als ritual-technische Verfahrensreligion gefasste Suchbewegung, die von einer »Verschiebung von Glaubensinhalten hin zu rituell getönten Praktiken« gekennzeichnet ist (1421 f.), besonders deutlich zum Vorschein. Sie manifestiert sich z. B. in der Hingabe, mit der Menschen in Fragen eines »richtigen« Lebens, der »Aktivierung der Selbstheilungskräfte«, ihres Zeitmanagements, der Erneuerung ihres Körpers bis hin zum Körperkult (1383–1418), des Designs und Stils, des Experimentierens mit neuen Formen der Beziehung zwischen Mann und Frau und v. a. m. bestimmten Prozeduren folgen. »In diesem Laboratorium zeichneten sich verschiedene Methoden eines Doing Religion ab, ein Glaube an die Wirksamkeit von Verfahren und Techniken, […] Regeln und Ratschlägen […] für alle möglichen Dimensionen der Lebensführung« (1442), und zwar jenseits der Frage nach Heil und Heilung – ohne von aufwendiger Sinnsuche in Unruhe versetzt zu werden.
E.s Werk knüpft durch die Fülle und universale Provenienz seiner literarischen Quellen ein dichtes Netz kohärenter religionssoziologischer Argumentationsmuster. Die dabei erreichte Komplexität qualifiziert diese Religionssoziologie für vielversprechende interdisziplinäre Vertiefungen und Anknüpfungen.
Die starke Gewichtung des pathischen Profils signifikanter Zeiterfahrungen für die Entwicklung einer Religion (vgl. V. v. Weizsäckers »pathische Anthropologie« in seiner Pathosophie, 21967, 62) ist E.s Antwort auf die s. E. unbefriedigende Alternative, entweder alle möglichen Erscheinungen als »religiös« zu apostrophieren oder den Religionsbegriff immer nur im Kontext der Weltreligionen zu verhandeln. Die »Erstmaligkeit« der von ihm beobachteten Phänomene betrifft – analog zu wegweisenden soziologischen Entwürfen, in denen z. B. das »Risiko« oder das »Erlebnis« als Schlüsselerfahrung fungierte – deren epochale Etablierung bzw. Ablagerung im religiösen Gedächtnis der Gesellschaft; das schließt die punktuelle Vorzeitigkeit oder spätere Wiederkehr entsprechender Erfahrungen nicht aus, sondern ein.
Die Analyse kompetitiver religiöser Profile, ihres historischen und diskursgeschichtlichen Movens sowie ihrer je eigenen Lö­sungsansätze schärft den Blick für gegenwärtige Problemlagen religiöser Praxis und die Möglichkeiten ihrer Bearbeitung. E.s offensichtliche Favorisierung einer (von der theologia tripertita Varros inspirierten) theologia fabulosa (E., 2/2, 209 f.), die nicht vom Verhältnis eines Volks zu dem von ihm geheiligten Herrscher oder von naturphilosophischen Prinzipien ausgeht, sondern visionär angelegt ist, weist in eine interessante Richtung. Eine theologia fabulosa artikuliert ihre Perspektiven mit poetischen und mythischen Mitteln, sie imaginiert gemeinsames Leben im Möglichkeitshorizont Gottes, sie antizipiert Zukunfts- und Heilsvorstellungen in Bildern und Erzählungen gleichsam unter veränderten Umständen. Sie stellt Utopien bereit, die sich zu einer neuen Denkrichtung verdichten und Erwartungshaltungen begründen, die mit einem leidenschaftlichen Lebensgefühl einhergehen – kein leichtes Unterfangen für die »enthusiasmusgeschädigten Deutschen« (1, 415).
Einer solchen Theologie Rechnung zu tragen hieße u. a., auf dem Markt der Religionen nicht virtuos (oder auch nur primär) mit Antworten und Bekenntnissen zu dealen, die im Horizont früherer Zeiterfahrungen als hilfreich empfunden und Teil eines konfessionellen Bekenntnisses wurden. Eine Theologie, die fragt, wie sich Leben aus Glauben (den es nicht als Substrat, sondern letztlich immer nur als jemandes Glauben gibt) heute artikuliert, und was die Religion zur Aneignung von Freiheit beitragen kann, wird sich mit den Kristallisationspunkten gegenwärtiger Zeiterfahrungen auseinandersetzen und dem vielgescholtenen »Zeitgeist« – als diffuser Stimmungslage solcher Erfahrungen – vielleicht etwas mehr Respekt zollen. Sie wird der Kirche nicht zumuten, Glauben und Freiheit wie Geschenke zu verteilen und dies als evangelisch zu proklamieren. Weil Glauben und Freiheit im Kern soziale bzw. Beziehungskategorien sind, weil nicht allein das Sich-Durcharbeiten zu dogmatisch ausformulierten Gewissheiten, sondern ebenso das Gewahrwerden tragender Beziehungen und sich eröffnender Spielräume über die Begehbarkeit der Freiheit und über Anhaltspunkte des Glaubens entscheiden, wird sich eine zeitgenössische Theologie mit Manifestationen dieses Glaubens auch jenseits etablierter Bekenntnisformeln auseinandersetzen und die sich darin abzeichnende religiöse Praxis kritisch-konstruktiv begleiten. Andernfalls werden sicherlich nicht immer mehr Menschen vom Glauben abfallen; wahrscheinlicher ist, dass der Glaube, reduziert auf sein Bekenntnisformat – ohne empirisches Wurzelwerk im Menschsein des Menschen – von den Menschen abfällt.