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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

624–626

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rothenbusch, Ralf, u. Karlheinz Ruhstorfer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 232 S. = Quaestiones disputatae, 296. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-02296-8.

Rezensent:

Clemens Hägele

Bischof Karl Kardinal Lehmann, Widmungsträger des Bandes, hatte 2013 anlässlich einer Tagung zu 50 Jahren Dei Verbum angemahnt, weiter nach der Schriftinspiration zu fragen. 2015 wurde Lehmanns Wunsch auf einer Tagung des Bistums Mainz entsprochen. Der Band versammelt die Tagungsbeiträge, sechs katholische und einen protestantischen (Letzterer kam später hinzu). Mitgewirkt haben ein Neutestamentler, drei (!) Alttestamentler und drei Dogmatiker.
Thomas Söding schreibt über »Inspirierte Exegese. Eine paulinische Perspektive« (11–32). Söding bezieht sich überwiegend auf Paulus als Exegeten des Alten Testaments im 1. Korintherbrief. Er de-finiert den Inspirationsbegriff weit, nicht nur bezogen auf das Schreiben und Lesen heiliger Texte, sondern auch als gottgewirkte Glaubenserkenntnis. Der Rahmen dieser Glaubenserkenntnis prägt nun Paulus als Exegeten des Alten Testaments: »Im Spiegel seiner exegetischen Praxis betrachtet, erweist sich die Inspiration des Exegeten Paulus darin, die richtigen Stellen zu finden, die das Geheimnis des Glaubens erschließen, und sie als Schlüsselstellen inspirierter Gottesrede für heute zu deuten.« (30)
Christoph Dohmen stellt die Frage: »Inspirierter Text – inspirierter Sinn?« (33–51) Ausgehend von der Entstehungslegende der Septuaginta erörtert Dohmen in seinem Text u. a. die Fragen, ob eine Übersetzung als inspiriert gelten könne, ob sich ihre Inspiration nicht durch den gleichen Sinn wie den des hebräischen Ausgangstextes erweisen müsse, und wie sich das zu dem Umstand verhält, dass rabbinische Exegese gerade die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten als göttliches Merkmal der Schrift ansehen kann. Von Interesse für Anhänger einer gesamtbiblischen Theologie dürfte das katholische Konzept des »sensus plenior« (46–51) sein, das versucht, neben der historischen Auslegung biblischer Einzeltexte den Tiefensinn im Gesamt aller Texte wahrzunehmen.
Manfred Oeming stellt sich der Frage: »Das Alte Testament als inspiriertes Gotteswort? Protestantische Perspektiven« (52–99). Oeming bietet einen fulminanten Ritt durch die Geschichte pro-testantischen Schriftverständnisses, u. a. unter der Frage nach einer theologischen Lesart der Bibel, und bilanziert: »Wenn man es im globalen Maßstab betrachtet, dann kann man wohl ohne Übertreibung behaupten, dass außerhalb der akademischen, europäischen Theologie die Bibel heute von mehr Protestanten als im 16. bis 19. Jahrhundert theologisch gelesen wird. Die Krise des Schriftprinzips ist auf akademische Zirkel beschränkt.« (85) Zur Frage nach der Inspiration des Alten Testaments verweist Oeming u. a. auf die Glaubenserfahrungen der Menschen, die im Alten Testament zu Wort kommen und deren Aussagen dann als inspiriert gelten können, wenn sie eine »zeitübergreifende Bedeutung« (93) haben.
Ralf Rothenbusch spricht zu »Inspiration und theologische Schrifthermeneutik. Überlegungen im Anschluss an das Dokument der Bibelkommission zur ›Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift‹ (2014)« (100–135). Rothenbusch bezieht sich über das Papier von 2014 hinaus auf Aussagen von Dei Verbum allgemein. Zwei seiner Aspekte greife ich heraus: 1. die Betonung der Schrift als von Gott inspiriertes Menschen(!)wort. Die menschliche Seite der Schrift ist Teil des Offenbarungsgeschehens und als solche in der Hermeneutik zu achten und zu beachten. 2. Die Betonung des Zusammenhangs von Inspiration und Kanon, die sich zwingend in der Auslegung der Schrift als Kanon niederschlagen muss.
Helmut Gabel spricht zu »Engführungen und Neuaufbrüche. Die Inspirationstheologie in Geschichte und Gegenwart« (136–184). Dieser Aufsatz besticht u. a. durch zweierlei: Zum einen zeigt Gabel, wie verschiedene Inspirationstheologien notwendig be­stimmte hermeneutische Konsequenzen nach sich ziehen. Zum anderen widerlegt er gängige Missverständnisse in Blick auf be­stimmte Inspirationslehre(n): Inspiration verstanden als Diktat sei eine theologiegeschichtliche Ausnahme. Auch habe es schon früh die Auffassung gegeben, dass sich der Inspirationsprozess nicht allein auf den Autor, sondern auch auf den Leser beziehe (Origenes). Weiter sei der frühchristliche Glaube an die Inspiration bestimmter Schriften nicht auf biblische Schriften beschränkt gewesen.
Johanna Rahner nennt ihren Text: »Zwischen Wahrheit und Ambiguität. Irrtumslosigkeit und Suffizienz der Schrift – noch zeitgemäß?« (185–204) Angeregt durch Thomas Bauers Buch Eine andere Geschichte des Islam, in der Bauer dem klassischen Islam eine hohe Ambiguitätssensibilität zubilligt, fragt Rahner, ob umgekehrt die christliche Inspirationslehre nicht zu einem Schwinden der Ambiguitätstoleranz im Christentum führen müsse. Im Gefolge der soteriologisch akzentuierten Offenbarungskonstitution von Vaticanum II versucht sie, eine andere Sicht auf die Heilige Schrift plausibel zu machen.
Karlheinz Ruhstorfer entfaltet unter dem Titel »Inspiration — Geist — Vernunft. Die fundamentaltheologische Bedeutung der In­spirationslehre« (205–230) eine spekulative Begründung der Inspirationslehre. In seinen eigenen Worten: »Die Inspiration ist nicht primär durch die Behauptung der göttlichen Verursachung zu begründen, sondern durch einen Rückschluss von der Wirkung auf die Ursache. Die Wirkung meint hier zunächst die Vernunftgeschichte unserer Tradition. Die Bibel hat eine Vernunftgeschichte verursacht. Weil aber die Heilige Schrift auf die Vernunft inspirierend gewirkt hat, dürfen wir annehmen, dass sie selbst inspiriert ist.« (219, Hervorhebungen getilgt, C. H.)
Die Lektüre lohnt sich. Hervorzuheben sind die theologiegeschichtlichen Überblicke und die für evangelische Leser wichtigen Einführungen in Konzilsdokumente. Als Frage bleibt, ob der Inspirationsbegriff nicht in manchen Beiträgen so weit gefasst wird, dass, wenn gleichzeitig eine historische Begründung der Schrift-autorität zurücktritt, eine theologische Schriftlehre fast unmöglich wird.