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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

617–621

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, Jost, Michael R., u. Franz Tóth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Autorschaft und Autorisierungsstrategien in apokalyptischen Texten. Hrsg. unter Mitwirkung v. J. Stettner.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XII, 462 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 426. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-157024-7.

Rezensent:

Armin D. Baum

Manche Textsorten sind schwer zu verstehen, besonders wenn man ihre Autoren nicht mehr befragen kann. Die Verfasserangaben in apokalyptischen Schriften wie dem äthiopischen Henochbuch oder dem 4. Esrabuch sind besonders rätselhaft. Ihnen ist dieser an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich entstandene Sammelband zu Autorisierungsstrategien apokalyptischer Texte ge­widmet. Seine Fragestellung lautet, »welche Autorschaftskonzepte zur Selbstvergewisserung und Anerkennung beitragen und welche Legitimationsstrategien den Autoritätsanspruch der apokalyptischen Schrift gewährleisten« (11).
Franz Tóth (Universität Zürich) bietet in seinem sehr nützlichen Einleitungskapitel über »Autorschaft und Autorisation«
(3–47) einen breiten Überblick über Forschungsbeiträge aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu unterschiedlichsten Verfasserschaftskonzepten. Dabei trifft er eine Reihe von notwendigen Differenzierungen: Die Frage nach dem Autor bzw. Urheber eines Texts kann man auf vier Ebenen stellen (12–15): erstens im Blick auf seine Quellen (»precursory authorship«), zweitens im Blick auf seinen Schreiber (»executive authorship«), drittens im Blick auf seine Verfasserschaftsangabe (»declarative authorship«) und viertens im Blick auf nachträgliche Bearbeitungen durch Redaktoren oder Herausgeber (»revisionary authorship«). Bei manchen Texten lassen sich mindestens drei Kommunikationsebenen unterscheiden (26–41): erstens die Ebene des realen Autors (der Quellenautor, Schreiber oder Bearbeiter sein kann), zweitens die Ebene des abstrakten bzw. impliziten Autors (der als Autoritätsinstanz dient) und drittens die Ebene des fiktiven Erzählers (den der reale Autor häufig in der 1. Person sprechen lässt). In seiner Anwendung auf die Johannesoffenbarung unterscheidet Tóth zwischen vier Kommunikationsebenen (41–47): erstens dem realen Autor (der unbekannt ist), zweitens dem abstrakten Autor (Gott bzw. Christus als Autoritätsinstanz), drittens dem impliziten Autor (einem judenchristlichen Wanderprediger) und viertens einem fiktiven Erzähler (dem Visionär Johannes, der aufschreibt, was er gesehen und gehört hat). Diese vier Ebenen zu bedienen und auseinanderzuhalten, muss für den historischen Autor der Johannesapokalypse eine erhebliche Herausforderung gewesen sein. Falls der Erzähler »Johannes« mit dem impliziten und dem historischen Autor identisch war (was ich für wahrscheinlicher halte), mussten der Verfasser und die Leser der Johannesoffenbarung nur zwischen zwei Kommunikationsebenen unterscheiden: der Stimme des menschlichen Autors »Johannes« und der göttlichen Autoritätsinstanz, in deren Auftrag er schrieb.
Martina Janßen (Universität Göttingen) behandelt in ihrem quellengesättigten und sehr lebendig geschriebenen Kapitel »Vorstellungen und (Selbst-)Inszenierungen von Autorschaft in der Antike« (49–108). Zunächst unterscheidet sie in der griechisch-römischen Dichtung zwischen zwei alternativen Verfasserschaftskonzepten: dem des prophetischen Dichters (poeta vates), das in ihm (mit Plato) ein Sprachrohr der Götter oder Muse sah, das sein Werk aufgrund göttlicher Inspiration verfasste, und dem des gelehrten Dichters (poeta doctus), das seine Texte (mit Aristoteles) als Ergebnisse handwerklichen Könnens deutete. Dazwischen gab es verschiedene Zwischenpositionen, die die beiden Pole in unterschiedlicher Weise miteinander kombinieren (49–64). Den onymen bzw. orthonymen Texten der griechisch-römischen Dichtung stellt Janßen die anonymen bzw. pseudonymen Apokalypsen des antiken Judentums gegenüber (97–108). Weil diese keine expliziten Reflexionen über das Verfasserschaftskonzept ihrer Autoren enthalten, ist die Rekonstruktion dieses Konzepts ungleich schwieriger. Nicht nur die jüdischen Apokalypsen, sondern auch die Werke einiger griechisch-römischer Dichter handeln von Träumen, Visionen, Entrückungen und Himmelsreisen. Im Unterschied zur griechisch-römischen Dichtung bleiben die realen Autoren der Apokalypsen aber unsichtbar. Darum kann ihnen auch nicht an zeitgenössischer Anerkennung ihrer literarischen Leistung oder an postmortalem Ruhm gelegen gewesen sein (99–101). In der römischen Dichtung galt Vergil als »anderer Homer (alter Homerus)« und Cicero als »Nachahmer Platos (Platonis aemulus)«. Sie waren dies aber unter ihren eigenen Namen. Im Unterschied dazu zogen sich die Verfasser der frühjüdischen Apokalypsen die Masken von Henoch oder Esra über das Gesicht, ohne ihre eigenen Namen zu nennen (107). In der Diskussion, ob es sich bei den apokalyptischen Schilderungen des Jenseitigen und Übernatürlichen um kunstvolle literarische Kompositionen (so M. Hengel) oder um den Inhalt von erlebten Visionen (so D. S. Russell) handelt, erwägt Janßen eine Zwischenlösung. Denn »das Bewusstsein, vom Göttlichen inspiriert zu sein, und die kunstvolle Gestaltung einer Apokalypse als (Auslegungs-)Literatur müssen einander nicht ausschließen« (105).

Weitere Beiträge stammen von Konrad Schmid (How the Prophets Became Biblical Authors and How the Biblical Authors Became Prophets), Erich Bosshard-Nepustil (»Forscht nach in der Schrift Jhwhs und lest« [Jes 34,16]: Jhwh als Autor des Jesaja-Buchs?), John J. Collins (Torah and Higher Revelation in the Jewish Apocalypses), Matthew J. Goff   (Reading Jewish Wisdom From Before the Flood: Authorship, Prophecy, and Textuality in Enochic Literature), Stefan Krauter (Warum Esra? – Beobachtungen zum Autorkonzept des 4. Esrabuches), István Czachesz (Visions with Authority: Reconsidering the Origins and Transmission of Apocalyptic Visions, with Special Attention to Jewish and Christian Pseud-epigrapha), Jordash Kiff[i]ak (Pseudonymity in 2 Baruch: Jeremiah 45.1–5 as the Fertile Seedbed for a Hopeful Exhortation), Christfried Böttrich (Der Stammvater als Offenbarungsträger: Autorisationsstrategien in der apokryphen »Leiter Jakobs«), Michael Tilly (Apokalyptik und Mystik im rabbinischen Judentum), Adela Yarbro Collins (The Construction of the Author’s Authority in the Book of Revelation as a Whole), Jan Dochhorn (Zur Konstruktion von Autorschaft in der Ascensio Jesaiae), Tobias Nicklas (Petrusoffenbarung, Christusoffenbarung und ihre Funktion: Autoritätskonstruktion in der Petrusapokalypse), Thomas J. Kraus (»Wieviel ›Paulus‹ ist in der Apokalypse des Paulus/Visio Pauli?« Eine Apokalypse und ihr Protagonist) und Gerhard Regn (Die Apokalypse im Irdischen Paradies: Offenbarung, Allegorie und Dichtung in Dantes Commedia).

Ich greife nur zwei zentrale Fragestellungen heraus, die in mehreren Beiträgen aufgegriffen werden.
Erstens: Welche Bedeutung hatten die namentlichen Zuschreibungen im Alten Testament? Es ist eindeutig, dass sich das Verfasserschaftskonzept der alttestamentlichen Geschichtsschreibung, die durchgehend anonym verfasst wurde, von dem der durch-gehend namentlich publizierten Geschichtsschreibung der griechisch-römischen Welt unterschied. Gibt es einen ähnlich klaren Unterschied zwischen den Verfasserschaftskonzepten der namentlich veröffentlichten Schriften des Alten Testaments und den ebenfalls namentlich veröffentlichten Schriften griechisch-römischer Autoren? Bedeuteten die namentlichen Zuschreibungen in den alttestamentlichen Prophetenbüchern (und Weisheitstexten) etwas anderes als in der griechisch-römischen Literatur? Karel van der Toorn hat in seiner wichtigen Gesamtdarstellung des Themas beispielsweise die Zuschreibung des Deuteronomiums an Mose als Verfasserangabe mit Täuschungsabsicht gedeutet: »The fraud may have been pious, but a fraud it was« (Scribal Culture and the Mak-ing of the Hebrew Bibel [Cambridge: Harvard University Press 2007], 34). Dagegen interpretiert Tóth die alttestamentlichen Schriften einschließlich des Deuteronomiums – im Unterschied zur uns zu­gänglicheren griechisch-römischen »Autorenliteratur« – als »Fortschreibungsliteratur« mit einem anderen Verfasserschaftskonzept: Die Namensangaben in den großen Prophetenbüchern verwiesen nicht auf deren Autoren, sondern auf die prophetischen Autoritäten bzw. Diskursgründer (wie Mose, Salomo oder Jesaja) hinter diesen Schriften. Deren Gedanken haben Diskursgemeinschaften weitergedacht und ihre Fortschreibungen Mose, Salomo oder Jesaja »in den Mund gelegt und damit autorisiert« (15–21). Konrad Schmid (Universität Zürich) ist der Ansicht, dass mit der Zuschreibung des Jesajabuchs an »Jesaja« nicht nur der historische Prophet dieses Namens gemeint war, sondern auch spätere anonyme Autoren, die an der Abfassung des Buches beteiligt waren (126 f.). In diesem Fall lassen sich alttestamentliche Prophetenbücher (und Weisheitsschriften) nicht als literarische Fälschungen bezeichnen. Aber wie genau verhält sich die Hypothese, die Zuschreibung an Mose, Jesaja usw. habe diese lediglich als Diskursgründer bezeichnet bzw. spätere Fortschreiber eingeschlossen, zu den namentlichen Zu­schreibungen in Erzählabschnitten wie Jer 36 (besonders Verse 4.18.32) sowie in zahlreichen Subscriptionen (bzw. Kolophonen) und Superscriptionen (wie 2Sam 22,1; Jes 38,9; 45,1; Prov 25,1; 30,1; 31,1; Sir 39,32 usw.)? Verwiesen die namentlichen Zuschreibungen teilweise auf Autoren und teilweise auf Diskursgründer? Und wie konnte man gegebenenfalls die unterschiedlichen Zuschreibungen voneinander unterscheiden? Was genau ist im Rahmen einer Fortschreibungsliteratur unter Pseudepigraphie = Falschzuschreibung zu verstehen? Anhand welcher Kriterien unterschied man zwischen legitimen und illegitimen Diskursbeiträgen? Und wie lässt sich das anhand des verfügbaren Textmaterials nachvoll-
ziehen?
Zweitens: Welche Bedeutung hatten die namentlichen Zuschreibungen in frühjüdischen Apokalypsen? Jan Dochhorn (University of Durham) erinnert in seinem Beitrag über die Himmelfahrt des Jesaja daran, dass in der biblischen und parabiblischen Literatur zwischen drei Arten von »Pseudepigraphen« unterschieden werden muss: Texten (wie 4Esra), die als Ganze einen falschen Verfassernamen trugen, anonymen Texten (wie AscJes), in die Prophetien unter falschem Verfassernamen eingebettet wurden, und Texten (wie TestHiob), in denen beides gleichzeitig der Fall war (331 f.). Die Debatte über das Verfasserschaftskonzept in frühjüdischen Apokalypsen verläuft analog zu der über die alttestamentliche Literatur. Van der Toorn interpretiert die namentlichen Zuschreibungen in den frühjüdischen Apokalypsen – in Übereinstimmung mit antiken Lesern wie Tertullian – als Verfasserangaben: »the alledged
authors are presented as the real authors in the sense that they purportedly wrote the books that go under their name« (Scribal Cult-ure, 39). Dagegen geht Matthew Goff (Florida State University) – im Anschluss an Hindy Naiman (vgl. ThLZ 129 [2004], 766 f.) – davon aus, dass mit der Namenszuschreibung »Henoch« in frühjüdischen Apokalypsen ein Diskursgründer be­zeichnet wurde, dessen Gedanken in späteren Epochen unter seinem Namen weitergedacht wurden (172 f.). Der Name des Diskursgründers Henoch diente nicht als Verfasserangabe, sondern be­zeichnete die Autoritätsinstanz hinter diesen Texten (176 f.). Auch Jordash Kiffiak (Universität Zürich) bezeichnet die namentlichen Zuschreibungen in apokalyptischen Texten als transparent (228–230). Die Kategorie der literarischen Fälschung wäre daher auch für diese Literatur unangemessen.
Hier stellen sich ähnliche Fragen wie zu den alttestamentlichen Zuschreibungen: Was genau wäre unter diesen Bedingungen Pseud-epigraphie? Und wie genau verhält sich diese Hypothese zu der einzigen nennenswerten Verfasserschaftsreflexion, die sich in frühjüdischen Apokalypsen findet? Goff verweist in einer Fußnote (188, Anm. 59) auf grHen 104,10–11: Die Sünder »schreiben die Schriften unter ihren eigenen Namen«. Sollte das besagen, dass es in apokalyptischen Kreisen als unethisch galt, unter eigenem Na­men zu schreiben (wie Loren Stuckenbruck vermutet)?
Vor allem: Wie verhält sich die These, die Zuschreibung eines Textes an Henoch habe diesen lediglich als Diskursgründer be­zeichnen wollen, zu der wiederholten Betonung der Henochschriften, Henoch habe die von ihm verfassten Texte vor seinem Tod an seinen Sohn Methusala übergeben, damit sie an Kinder und Kindeskinder weiterüberliefert wurden (äthHen 82,1–2: »Bewahre, mein Sohn, das Buch [aus] der Hand deines Vaters, damit du es an die Generationen der Welt weitergibst …«, u. ö.)? Widerspricht ein solcher Anspruch nicht der Interpretation, mit den namentlichen Zuschreibungen hätten die unbekannten Apokalyptiker Henoch nicht als Autor, sondern lediglich als Diskursgründer bzw. Autoritätsinstanz identifizieren wollen (vgl. BBR 21 [2011], 88–91)?