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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

755–756

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Seewald, Michael

Titel/Untertitel:

Reform. Dieselbe Kirche anders denken.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 174 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-451-38349-6.

Rezensent:

Michael Weinrich

Der plakatierte Begriff »Reform« wird in den beiden großen Kirchen zumindest in Deutschland überaus unterschiedlich wahrgenommen. Während ihm im protestantischen Bereich aus der Erfahrung, dass er vor allem für die Konzentration und die Ökonomisierung des institutionellen Auftritts der Kirche steht, eher ein skeptisches Misstrauen entgegenschlägt, werden im katholischen Be­reich große Erwartungen und weitreichende Ermutigungen mit ihm verbunden, die gerade den ausdrücklich engagierten Anteil ihrer Mitglieder betreffen. Der Protestantismus empfindet sich vor allem praktisch-theologisch herausgefordert, während sich die katholische Kirche mit fundamentalen ekklesiologischen Anfragen konfrontiert sieht, die alle konventionalisierten Verbind-lichkeitshorizonte und etablierten Entscheidungshierarchien be­treffen. Vordergründig herrscht der Anschein, als schlügen sich beide großen Kirchen mit zumindest vergleichbaren Problemen he­rum – zweifellos ist das im Blick auf die aus dem gesellschaft-lichen Wandel resultierenden Herausforderungen durchaus auch der Fall–, aber unter der Oberfläche tun sich zwei überaus verschiedene Problematisierungsperspektiven auf.
Um die ganze Reichweite dieser Differenz erahnen zu können, sind auch für protestantische Leserinnen und Leser die Situationsanalysen und die historisch-systematischen Rekonstruktionen von Michael Seewalds offensiver Ausmessung eines angemessenen An­spruchs auf »Reform« im Blick auf die katholische Kirche sehr aufschlussreich. S. geht es um die Reklamation eines Spielraums des Möglichen für Reformen im Horizont ebender Moderne, in der die katholische Kirche die neuen Entscheidungsspielräume bisher vor allem für eine konsequente Selbstverabsolutierung ihrer lehramtlichen Autorität genutzt hat. S. möchte zeigen, dass die von der Kirche genutzte Inanspruchnahme von Modernität nur eine überaus einseitige und restriktiv instrumentalisierte Möglichkeit darstellt, sich dem von der Moderne erzeugten ständigen Entscheidungsdruck zu stellen. Es bieten sich auch ganz andere Möglichkeiten an, die nun neu zu denken an der Zeit sei. Die Kirche ist nicht darauf fixiert, die Moderne allein für ihr Projekt des Antimodernismus zu nutzen (64 f.).
Es gehört zu dem Charakteristikum der aufgeklärten Neuzeit, dass die Verlässlichkeiten nicht mehr einfach von der Treue zur Tradition gesteuert werden, vielmehr werden diese je neu zum Gegenstand von Entscheidungen. Die Tradition perpetuiert sich nicht mehr selbst, sondern sie wird zu einem Konstrukt von Entscheidungen, die zu fällen sind. Den Verlust der Autorität des Überkommenen hat die Kirche vor allem mit einer Steigerung ihrer eigenen Autorität und damit des Lehramtes zu kompensieren versucht. In diesem Gefälle beschreibt S. die historisch unvergleichliche Autorisierung der Lehramtlichkeit der Kirche seit dem 18. Jh. als eine »im strategischen Sinne modernitätssensible Konstruktion des Lehrens, die das Ziel hatte, die Lehre der Kirche in Form einer dogmatischen Lehre darzustellen, das heißt sie entscheidungsförmig und autoritätssanktioniert vorzutragen« (49 f.).
Die Kirche hat sich dabei zu einer vor allem richterlich agierenden Institution verwandelt, in welcher der Papst gleichsam als »Supertheologe« (52) agiert. So interpretiert S. die Entwicklung mit ihrem Höhepunkt im Ersten Vatikanischen Konzil (1869–1870). Die juridische Autorität (sie gibt sich mit äußerem Gehorsam zufrieden [69]) dominiert die der Kirche angemessene epistemische Autorität (sie zielt auf innere Einsicht [69]), anstatt in ein ausgewogenes Verhältnis zu ihr zu treten, und kreiert damit eine »Atmosphäre mangelnder Fehlertoleranz und […] mangelnder Bereitschaft zur Selbstkorrektur« (72). Tatsächlich aber begibt sich die Kirche in ihrer ana chronistischen »dogmatischen Selbstknebelung« (148) in die Ge­fahr, schließlich nur noch als ein »unter die Völker verstreutes Freilichtmuseum« (152) zu erscheinen.
»Sich über Reform Gedanken zu machen bedeutet nichts anderes, als über die dünne Grenzlinie zwischen Wirklichem und Möglichem nachzudenken.« (113) Mögliches wird zu Wirklichem und Wirkliches zu Möglichem transformiert. Dabei geht es weniger um eine Restitution als vielmehr um eine zukunftsorientierte Umgestaltung. Die im Auge zu haltende Kontinuität gelte es vor allem ekklesial und weniger doktrinal zu verstehen (120.123). Der Respekt vor dem bleibenden Geheimnis der göttlichen Wahrheit gebietet eine deutlichere Selbstrelativierung der kirchlichen Wahrheitseinsichten. Nicht eine wie auch immer gesicherte Unanfechtbarkeit der kirchlichen Lehre ist anzustreben, vielmehr ist die je neu zu bedenkende Frage nach dem angemessenen Bekennen der Kirche zu beantworten.
Gott teilt sich nicht in festzuhaltenden Sätzen mit, sondern in seinen Taten (135). Nirgends wird das deutlicher angezeigt als in der Auferweckung des Gekreuzigten, welche in unüberbietbarer Deutlichkeit für die andauernde Aktualität der im Leben Jesu vor Augen gerückten Königsherrschaft Gottes steht (127). Das Vertrauen liegt darauf, dass die Kraft des Evangeliums grundsätzlich über die Unvollkommenheit seiner kirchlichen Vergegenwärtigung hinausgeht (140 f.). Sie steht auch für eine beständige Dynamisierung der Kirche, die ihre Identität eben »nicht durch das Festhalten an einer mit juridischer Autorität unter Denkmalschutz gestellten Lehrarchitektur« (148) zu sichern vermag.
S. legt im Horizont einer ausgewiesenen Rekonstruktion eines fundamentalen neuzeitlichen Selbstmissverständnisses der katholischen Kirche ein anspruchsvoll begründetes Plädoyer für eine Re­form der Kirche vor, damit sich diese diskursfähig und glaubwürdig in die Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart begeben kann.