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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

751–753

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Ruhstorfer, Karlheinz

Titel/Untertitel:

Befreiung des »Katholischen«. An der Schwelle zu globaler Identität.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 253 S. Geb. EUR 26,00. ISBN 978-3-451-38265-9.

Rezensent:

Annemarie C. Mayer

Unsere Zeit ist schnelllebig; alles ist im Fluss. Auch wenn konstante Veränderung unsere Lebenswelt bestimmt, spricht einiges für die Intuition des Autors, dass manche derzeitigen Veränderungen nicht alltäglich sind, sondern auf eine Zeitenwende hindeuten. Die Postmoderne erfährt zunehmend Gegendynamiken. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind wir an der Schwelle zu einer neuen Epoche, die sich noch nicht deutlich abzeichnet, erst umrisshaft aufbricht. Dennoch, so der Freiburger katholische Dogmatiker, ist es Aufgabe der Theologie, ihre Stimme in dieser Umbruchszeit zu er­heben und sie theologisch zu deuten.
Für das Unterfangen einer Zeitdiagnose der Gegenwart aus theologischer Perspektive ist der Titel auf den ersten Blick etwas irreführend. Es geht nicht um einen Befreiungsschlag der katholischen Kirche, obwohl sich Kapitel 1 und 8 in der Spannung zwischen konfessionell-katholisch und global-katholisch bewegen. Der Untertitel gibt die Thematik präzise an: »Katholisch« steht hier als Chiffre für globale Identität. Vielleicht wäre er ein adäquaterer Buchtitel gewesen. In jedem Fall zählt der Inhalt, und dieser be­sticht dadurch, dass er Probleme offen beim Namen nennt, ihren Bezug zu theologischen Fragen aufweist und sich nicht um Handlungsfelder herumdrückt.
Den Kairos der gegenwärtigen Zeitenwende sieht Karlheinz Ruhstorfer darin, dass sich neu die »Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts und mehr noch der weltweiten Ge­meinschaft« (7) zeigt. Entgegen postmoderner Differenzierungs- und Relativierungstrends sollen sich der globale Zusammenhalt, das Bewusstsein weltweiter Solidarität in der ›einen Welt‹ und der Erhalt universaler Werte in die ›neue‹ Zeit hinüberretten. Zugleich dürfen Errungenschaften der Postmoderne, wie Wertschätzung von Vielfalt, Offenheit, Diversität, nicht verloren gehen. Die »Emanzipation von marginalisierten Menschen (Schwule, Lesben, Schwarze, Muslime, Unterprivilegierte aller Art) – sollte mit Blick auf das Aufbrechen von harten Identitäten neu bestimmt werden« (8), heißt es in teils umstrittener Wortwahl. Das Rezept für die Zeitenwende lautet: »Nur die Anerkennung eines Allgemeinen, das zugleich dem Besonderen Raum gibt und im Einzelnen wirklich wird, kann vor einem drohenden Clash der Identitäten bewahren« (8). In diesem Sinn ist das »Katholische« im Buch zu verstehen: als »ökumenische Wirklichkeit in globaler Weite« (108), als »das Eine, das offen ist für das Andere, das Umfassende, das Abweichung ermöglicht, die Identität, die sensibel bleibt für Differenzen [… jedoch] jede ausschließliche Fixierung auf das Besondere vermeidet« (9). Damit hat sich R. ein Thema gestellt, das äußerst spannend und weltweit von höchstem Belang zu sein verspricht. Allerdings schränkt er den Referenzbereich sogleich ein und begrenzt ihn auf westliches Christentum, europäische Theologie und abendländische Vernunftgeschichte. Drängende Fragen, z. B. die einer Deko-lonialisierung westlicher Theologie, werden so notwendig ausgeblendet, auch wenn R. insistiert, dass er den Anteil der Anteilslosen und Marginalisierten nicht aus dem Blick verliert.
Eine theologische Deutung der Zeitenwende unternimmt das vorliegende Buch in vier Themenkomplexen (Zeiten – Wahrheiten – Sprechen – Handeln) mit jeweils zwei Kapiteln. Es wird unter anderem gefragt, was Thomas von Aquin mit Pegida zu tun hat, wie man die »Moderne« differenziert betrachtet, wie Gott heute spricht, warum wir uns einmischen müssen und wie wir dies tun können. Die Einleitung gibt notwendige Weichenstellungen und Leseanweisungen. Ein Schlusskapitel hätte sich abzeichnende Trends zu­sammenführen und wichtige Ergebnisse sichern können.
Das zweite Kapitel »Trinität und Identität – nach der Postmoderne« ist das umfangreichste (38–109). R. selbst identifiziert es als »systematischen Kern dieses Buches« (38). Um den Leserinnen und Lesern das Neuartige seines Identitätsverständnisses beständig vor Augen zu führen, spricht er von nun an von »Identität**« als »Universalität, die Alterität Raum gibt« (38). Mit dem Philosophen Claus-Arthur Scheier skizziert er eine Apologie christlicher Trinitätslehre. Angezielt ist ein geschichtsbewusstes Trinitätsdenken als innerstes Moment christlicher Religion, dessen Relevanz dadurch zum Tragen kommt, dass die Verhältnisbestimmung von immanenter und ökonomischer Trinität den Ort der trinitarischen Strukturen in Ge­schichte und Welt identifiziert, wobei Trinität als Prinzip von Ge­schichte bestimmt wird. »Die immanente Trinität manifestiert sich in fünf Phasen« (71), die der Reihe nach vorgestellt werden. Sie gipfeln bisher in einer »reflexiven Aneignung der Trinität durch postmodernes Denken« (93), das R. anhand von Jean-Luc Nancy und Giorgio Agamben exemplarisch vorstellt. Gegen Gefahren an der Zeitenwende wie »hyperreligiöse Erhebung« (93) oder Sinnwüsten medialer Verherrlichungsmaschinerien ermöglicht eine trinitarische Grundstruktur, »dass sich Gott selbst im Besonderen zu denken gibt und sich darin selbst als das Allgemeine reflektiert. In diesem Spannungsfeld entfaltet sich die Freiheit des Einzelnen. Die göttliche Herrlichkeit bricht sich in der irdischen Pluralität. Es gibt verschiedene Fragmente Gottes in den religiösen Weltgegenden. Diese diffundieren verstärkt seit der medialen Moderne oder Postmoderne ineinander, befruchten sich gegenseitig und setzen ein neues Be­dürfnis der Vermittlung von Universalität und Identität frei« (104). Von diesem Kernstück aus entfaltet sich der Rest des Buches über Inspirationslehre und Migration bis zur Debatte um Frauenordination mit Kardinal Ladaria als Gegenpol.
Die ausführliche Bibliographie und das Personenregister sind hilfreich. Laut Quellenverzeichnis ist neben der Einleitung der Abschnitt 8.1 (224–229) speziell für diese Publikation geschrieben. Heutzutage ist das »Recycling« von Aufsätzen und Vorträgen in Publikationen wie dieser weit verbreitet. Dies erklärt vermutlich die wunderliche Tatsache, dass R. nur Kapitel 2, nicht das gesamte Buch einem seiner akademischen Lehrer gewidmet hat. Insgesamt gibt die Lektüre des Buches wertvolle Denkanstöße, allerdings nicht für Theologinnen und Theologen, die sich bloß einreden, weltpolitisch von Belang zu sein, sondern für solche, die mit ihrer Theologie wirklich an einer besseren Welt mitbauen möchten.