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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

741–743

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Käbisch, David, u. Johannes Wischmeyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Transnationale Dimensionen religiöser Bildung in der Moderne.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 496 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 122. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-55845-4.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die im Band versammelten 23 Aufsätze namhafter Vertreter der his-torischen Bildungsforschung sowie einiger Nachwuchswissenschaftler sind im Kontext einer Tagung vom 30. September bis 2. Oktober 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main entstanden. Der Textteil des beeindruckenden Bandes ist in vier Kapitel gegliedert, die durch eine Einführung der Herausgeber und eine Bilanz des Nestors der Religionspädagogik, des Tübinger Professors Friedrich Schweitzer, gerahmt werden. Register, gegliedert nach Personen, Orten und Ländern sowie Sachen runden den Band ab und erschließen die Fülle an Informationen, die in den Aufsätzen bereitgestellt werden.
Das mit 32 Druckseiten recht umfangreiche Einleitungskapitel beider Herausgeber stellt den Stand der Forschung dar und entwickelt erste Linien künftiger Bearbeitung des großen Themenfeldes. Deutlich wird der Anspruch, »mit dem vorliegenden Sammelband eine Austauschplattform für einschlägige Forschungsprojekte zu schaffen, die bislang oft ohne wechselseitige Wahrnehmung nebeneinanderherliefen« (11). Konsequent richten die Herausgeber und die von ihnen eingeladenen Referentinnen und Referenten den Blick »auf transnationale Transfer- und Kommunikationsprozesse innerhalb und zwischen verschiedenen Religionen, Konfessionen und Ländern« (11). Auch wenn die Aufsatzsammlung noch nicht mit dem Anspruch einer Synthese eines Forschungsfeldes an die Öffentlichkeit tritt, ist bemerkenswert, wie intensiv das behauptete »Neuland« durch die Beiträge vermessen wird. Damit erhält der Band den Rang eines Standardwerkes, wenn auch eines einführenden. Zunächst erläutern die Herausgeber die systematische Gliederung des Bandes nach Me­dien, Netzwerken und schließlich nach Organisationsmodellen religiöser Bildung. Die bearbeiteten Fallbeispiele stammen aus dem 19. und 20. Jh. und wurden nach Maßgabe dessen ausgewählt, was sich aus ihnen im Blick auf die drei Generalthemen der Konferenz generalisierend herauslesen lässt. Einleitend verweisen die Herausgeber in vier Kapiteln auf die grundlegenden methodischen und heuristischen Fragenkreise, die es abzuarbeiten gilt. Dabei ist unübersehbar, dass eine konsequent transnationale Geschichte der religiösen Bildung ebenso konsequent interdisziplinär und komparatistisch auszurichten ist. Methodisch, sachbezogen thematisch gilt es, das »Neuland« (11) der transnationalen Bildungsgeschichte im Kontext der historischen Religionspädagogik und der komparativen Religionspädagogik zu verorten. Obwohl die Autoren dieser Einleitung vorzugsweise Forschungsdesiderate bisheriger Arbeit benennen, belegt der Anmerkungsapparat eine stupende Literaturkenntnis und eine weitgespannte Übersicht zu dem Feld künftiger Forschung. Zugleich wird auch erkennbar, dass sich die Autoren bereits schon seit einiger Zeit publizistisch auf diesen Feldern bewegen.
Mit drei Aufsätzen beginnt der materiale Teil der Sammlung. Sie sind alle unter dem titelgebenden Stichwort »Methodologie« zu­sam­mengefasst.
Gerd-Rainer Horn erörtert Methode und Praxis transnationaler Geschichtsschreibung unter besonderer Berücksichtigung der im angloamerikanischen Raum vorherrschenden Religious Studies, die dort die in Europa noch vorherrschende Dominanz der akademischen Theologie abgelöst haben. Silvia Kesper-Biermann erschließt das Feld der Bildungsgeschichte mit Hilfe des Konzepts der »educational spaces«. Sie nimmt damit das in der deutschsprachigen Forschung schon länger traktierte Thema der Bildungsräume oder -landschaften auf, die aus ihrer Sicht in Spannung zu den klassischen Feldern der Nation, Territorien, Bevölkerungsentwicklungen, Minderheiten und Migrationsforschung stehen. Gleichwohl will sie diese thematischen Ausrichtungen nicht gegeneinander ausspielen, sondern erkennt im Raumparadigma eine Möglichkeit der konzentrierten Zusammenführung der differenzierten Forschungserträge. Bernhard Dressler arbeitet sich an den Stichworten von »Bildungsgeschichte und Bildungstheorie« ab und versucht das Feld der Genese und Geltung der Religionspädagogik zu vermessen. Dabei geht er von einer Begriffsbestimmung über die Verhältnisbestimmung von Religionspädagogik und Theologie vorwärts bis zu unterschiedlichen Ausprägungen des Religionsverfassungsrechtes, etwa im Unterschied von Frankreich zu Deutschland.
Sechs Beiträge formieren den zweiten Abschnitt unter dem Titel »Medien«.
Thomas Schlag verweist auf die Entwicklung eines transnationalen Bildungsprogramms am Beispiel der Basler Mission im 19. Jh. Robert Schelander erkennt im Medium Sprache die nationale Ausprägung des protestantischen Religionsunterrichts im Habsburger Reich. Peter Scheuchenpflug analysiert geistliche Bücher von Johann Michael Sailer als transnationales Bildungsmedium. Ruth Conrad wendet sich transnationalen Aspekten christlich-pädagogischer Enzyklopädik im 19. und frühen 20. Jh. zu. Werner Simon erörtert Anspruch und Wirklichkeit des Projektes eines Welteinheitskatechismus. Sara Haen untersucht in interkonfessioneller Perspektive religionspädagogische Zeitschriften. Sie macht in ihrer Untersuchung deutlich, dass die Zeitschriften nur bedingt in der Lage sind, die systematischen Fragen, die aus der Forschung an sie gerichtet werden, zu beantworten. Alle Beiträgerinnen und Beiträger betonen die Erweiterung der Forschungsperspektive durch den transnationalen Ansatz, durch welchen in besonderer Weise blinde Flecken bisheriger Zugangsformen ausgeleuchtet und erkundet werden. Zugleich wird deutlich, dass die transnationale Bildungsforschung in erheblichen Teilen mit der Kulturtransfertheorie korreliert, durch welche, folgt man Michael Espagne, eine bloße Komparatistik qualitativ ausgeweitet wird.
Der dritte Hauptteil behandelt »Netzwerke« transnationaler religiöser Bildung.
Am Beispiel der Phasenentwicklung des Princeton Theological Seminary zeigt Gordon S. Mikoski, wie zunächst deutsche Theologie die Ausbildung im Osten der USA dominierte, sodann in einer zweiten Phase sich emanzipatorische Tendenzen Raum verschafften. Er stellt zu Recht die Frage, wie ein ausbalanciertes Miteinander interdependenter Transferprozesse in der nun beginnenden dritten Phase des presbyterianischen Seminars gelingen kann. Antje Roggenkamp untersucht deutsche und französische Friedensnetzwerke in der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Henrik Simojoki rekonstruiert die transnationalen Netzwerke und die Wissenschaftskommunikation im Vorfeld der Weltkirchenkonferenz in Oxford 1937. Markus Müller erörtert die Entwicklungen katholischer Religionspädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg in der Spannung von »re-education«, dem Schlagwort der alliierten Umerziehungsprozesse unmittelbar nach Kriegsende, und dem katholischen Anspruch auf Weltmission. Die stark historisch ausgerichteten Beiträge berühren religionspädagogische Aspekte nur am Rande, am stärksten noch bei Markus Müller.
Der vierte größere Abschnitt enthält sieben Beiträge zu den Organisationsmodellen religiöser Bildung.
Mustafa Gencer fragt nach Institutionen religiöser Bildung im Umbruch vom Osmanischen Reich zur kemalistischen türkischen Republik. Michael Wermke analysiert die Absolventen der Frankfurter pädagogischen Akademie, die von 1927 bis 1933 etliche Menschen für die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland, in Palästina/Israel und in der Türkei ausgebildet hatte. Damit war sie ein idealer Partner für den Export deutscher Pädagogik ins In- und Ausland. Bernd Schröder beschreibt das jüdische Schulwesen im Umbruch des Landes von osmanischer Herrschaft zur Besatzung durch die Kolonialmächte, dem Jishuv und schließlich im eigenen Staat. Unterschiedliche Geisteshaltungen nahmen auf den Unterricht Einfluss, die auch aus der jeweiligen Herrschaftsform resultierten. Ein weiteres nahöstliches Territorium untersucht Esther Möller, wenn sie nach der »Mission laïque française« im Libanon zwischen 1909 und 1943 fragt. Nordafrika wendet sich Viktoria Gräbe zu, wenn sie die »halbherzige« Umsetzung des Laizismus in der Volksrepublik Algerien zwischen 1962 und 1978 thematisiert. Alle drei letztgenannten Beiträge behandeln Territorien unter kolonialer Besatzung bzw. kurz danach. Das gesamte Themen- und Methodenpotential der sog. »postcolonial history« ist also mit zu berücksichtigen. Zwei weitere Beiträge wenden sich dem religiösen Unterricht in den Niederlanden und Frankreich zu. Sibren Miedema vergleicht die Formen des Islam-Unterrichts in den Niederlanden und Frankreich, während Wilna A. J. Meijer den sich um den Islamunterricht entzündenden Schulstreit rekonstruiert.
In seiner Bilanz zum Abschluss der Tagung und des breit gefächerten Aufsatzbandes hebt Friedrich Schweitzer noch einmal zusammenfassend die Bedeutung der transnationalen Perspektive für die Religionspädagogik im Besonderen, allerdings für zahlreiche weitere, vor allem historisch arbeitende Wissenschaftsdisziplinen hervor. In der Folge können historische Bewertungen und die Herausforderungen der religiösen Bildung überdacht und re-formuliert werden. Schweitzer beschränkt sich nicht auf die bloße Frage, sondern beschreibt konkrete Ansätze zu ihrer Beantwortung. Er behandelt den Umbruch des 19. Jh.s in seiner Bedeutung für die transnationale Dimension religiöser Bildungsbemühungen und thematisiert die unscharfe Differenzierung zwischen transnat ionaler und vergleichender Forschung. Der Beitrag – und damit der Band – schließt mit einigen offenen Fragen, deren Beantwortung für die künftige Forschung von erheblicher Bedeutung sein dürfte: Was ist transnationale Forschung – und was nicht? Wie kann in der transnationalen Betrachtung den nationalen Entwicklungen Gerechtigkeit widerfahren? Welche Bedeutung kommt den Sprachen der Quellen wie der Untersuchungen zu? Welche Ausprägungen des Transnationalismus sollten untersucht werden? Ist die Transnationalismusforschung ein Forschungsgegenstand sui ge-neris? Wie werden nationale und transnationale Bedeutungen miteinander in Beziehung gesetzt? Der Beitrag schließt mit einem Appell an die Forschenden, die transnationale Perspektive zu einer multilateralen werden zu lassen, und dem Rückblick auf eine facettenreiche Tagung, welche die Notwendigkeit der Beschäftigung mit diesem Thema noch einmal unterstreicht.
Dem kann der Leser nur zustimmen. Den Herausgebern ist es gelungen, ein weites Feld höchst unterschiedlicher Relationen zu vermessen. Dass dieser Band nur ein Anfang sein kann, versteht sich fast von selbst. Aber es ist ein Anfang, an dem künftige religionspädagogische Forschung nicht vorbeikann. Die weitere Arbeit wird möglicherweise den Herausgebern und Initiatoren der Ta­gung ein hohes Maß an Weitblick attestieren, das in reziprokem Verhältnis zu den traditionellen Gesamtdarstellungen zur Ge­schichte und Ausprägung religionspädagogischer Bemühungen steht. Einleitung und Ausblick gelingt es mustergültig, das Feld zu vermessen und die 21 Detailstudien sinnvoll miteinander zu verbinden.