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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

738–740

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grümme, Bernhard

Titel/Untertitel:

Religionspädagogische Denkformen. Eine kritische Revision im Kontext von Heterogenität.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 192 S. = Quaestiones disputatae, 299. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-451-02299-9.

Rezensent:

Oliver Reis

Das Buch zu den Religionspädagogischen Denkformen des katholischen Religionspädagogen Bernhard Grümme von der Ruhr-Universität Bochum steht in enger Verbindung zu seinem früheren Werk Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Herder: Freiburg i. Br. 2017. Schon in diesem Buch hat G. die Aufgeklärte Heterogenität als Paradigma etabliert und gegenüber anderen vergleichbaren differenztheoretischen Ansätzen wie der Inklusion, Intersektionalität, Pluralität oder Diversity kurz diskutiert. In seinem Buch von 2017 hat G. ebenfalls den Begriff der »Denkform« benutzt, um in verschiedenen Handlungskontexten wie interreligiöse Bildung, Inklusion oder Bildungsgerechtigkeit implizite dominante Argumentationsformen herauszuarbeiten. Dieser Hintergrund ist wichtig, um das Anliegen des Buches zu den Religionspädagogischen Denkformen von 2019 zu verstehen.
Dieses Buch ist zum einen eine Verdichtung und Zuspitzung der Thesen von 2017. Was dort kursorisch und skizzenhaft geblieben ist, wird nun zentral: die Denkformanalyse der verschiedenen differenztheoretischen Ansätze. Was dort breit entwickelt wurde: die Aufgeklärte Heterogenität und die Handlungskontexte, tritt nun zurück und wird eher zu einem Rahmen. Ganz ohne Kenntnis der differenztheoretischen Debatte und der Thesen von 2017 kann man der Darstellung nur schwer folgen.
Dieses Buch formuliert zum anderen mit der Denkformanalyse eine Grundfrage an die deutschsprachige Religionspädagogik, die das Buch auch zu Recht in die Reihe der Quaestiones führt. G. fragt kritisch nach den unhinterfragten impliziten Axiomen der Religionspädagogik, die sich mit Differenzsensibilität auf der richtigen Seite wähnt: »Wegen ihrer axiomatischen Bedeutung entscheidet sich auf der Ebene der Denkform die Heterogenitätsfähigkeit der Religionspädagogik. Auch die heterogenitätsfähigste Methodik, auch die heterogenitätssensibelste Didaktik würde unterlaufen, wäre die Religionspädagogik grundlagentheoretisch letztlich identitätslogisch konstruiert« (Grümme 2017, 108). Und genau dieses Problem zeigt er zu Beginn des neuen Buches an zwei Beispiel-Texten der Religionspädagogik überzeugend auf, die diskursintern als gut gearbeitet und differenzsensibel gelten und die er explizit auch als solche würdigt. Aber auch sie benutzen unreflektierte Vorannahmen in ihren religionspädagogischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen:
»Was aber unterbleibt, ist eine kritische Selbstreflexion dieser eigenen Metatheorie selber, ihrer Begriffe und der Mechanismen und Operationen. […] Denn bleibt diese selbstreflexive Metareflexion aus, so wird religionspädagogische Wissenschaftstheorie blind für die Prozesse, die in ihr jeweils performativ mitgesetzt werden. Die mit einer begriffslogischen Konsequenz vorkommenden und später noch zu erläuternden Tendenzen zu Essentialisierung, Exklusion, Reifizierung und Subjektivierung […] würden selbst dort unreflektiert wirksam, wo sich Ansätze um eine Anerkennung des Anderen oder um eine alteritätssensible Religionspädagogik bemühen.« (37 f.)
Um dies zu vermeiden, ist für G. eine wissenschaftstheoretische Denkformanalyse notwendig, die zunächst relativ kurz die religionspädagogischen Kontexte (z. B. weltanschauliche Pluralisierung, Ge­rechtigkeitskonflikte oder Digitalisierung) benennt (Kapitel 3) und dann die in der Religionspädagogik erkennbaren Denkformen auf ihre Annahmen, Wirkweisen und Folgen untersucht (Kapitel 4). Dieser Teil stellt denn auch den Hauptteil dieses Buches dar, dem noch ein kurzes Plädoyer für die Denkform der Aufgeklärten Heterogenität folgt (Kapitel 5).
Im Hauptkapitel, auf das ich mich ebenfalls an dieser Stelle konzentriere, hat G. die zu diskutierenden Denkformen so angeordnet, dass auch aus schreibästhetischen Gesichtspunkten eine sehr überzeugende Ordnung entsteht, in der jeweils die Überschüsse und blinden Flecken von der nächsten Denkform aufgenommen werden. So entsteht der Eindruck einer Diskursordnung, die sich der Kernfrage wirklich tastend nähert: Wie können Differenzen so bearbeitet werden, dass die damit einhergehenden Identifizierungs- und Subjektivierungsprozesse in den Diskursen nicht erneut machtvoll marginalisierend auf die Individuen zurückschlagen? Er beginnt mit der Pluralität und macht auf die unterstellte Wertschätzung der Vielfalt aufmerksam, die schon in religiösen Fragen letztlich identitätslogisch argumentiert, aber auch nicht in der Lage ist, vertikale und horizontale Differenzen zu unterscheiden (82). Daran schließt sich die Inklusion an, die durchaus sensibler mit der Aporie von Einheit und Differenz umgeht, die aber in ihren Entscheidungen, die Aporie zu bearbeiten, selbst unbestimmt bleibt und deshalb die eigenen Homogenisierungen von Differenz nicht begründen kann (102). Dann folgt die Religionspädagogik der Vielfalt. G. macht deutlich, dass diese Denkform gerade durch die Aufnahme der Intersektionalität in der Lage ist, vertikale und horizontale Ebenen zu unterscheiden und sensibel ist für die Machtkonstruktion in den Diskursen. Sie trifft durchaus Entscheidungen auf der metatheoretischen Ebene, aber diese Entscheidungen folgen normativen Vorstellungen, die selbst nicht in der Denkform begründet sind. Es fehlten deshalb begründungsfähige Urteilskriterien. Auch die Übertragung der egalitären Differenz auf die religiöse Vielfalt ist nicht unproblematisch, da die damit verbundene dialogische Theologie mit dem Verzicht auf Absolutheitsansprüche Religion und Religiosität stark zurichten muss (122 f.). Den Abschluss bildet die Denkform der Aufgeklärten Heterogenität, die G. systematisch aus den blinden Flecken wie z. B. den Reifizierungseffekten (132) des Heterogenitätsdiskurses ent-wickelt. Selbst die am Ende stark gemachte Aufgeklärte Heterogenität, die alteritätstheoretisch um die nicht auflösbare Spannung des un­verfügbaren und verfügbar gemachten Anderen weiß und deshalb »den Hang der Vernunft zur ›Synthesis des Heterogenen‹ kritisch unterlaufen« (151) kann, hält er dauer-kontingent offen. Hier liegt die radikale Pointe, dass diese starke Vernunft durchaus universal in den verschiedenen Kontexten und Praxen analytisch wirksam werden kann, aber immer die Bedingungen ihres Wissens mitthematisieren muss (151–154).
Das Buch macht es seinen Lesern aufgrund seiner hohen Abstraktheit nicht leicht. Aber G. verfolgt mit hoher Leidenschaft ein sehr relevantes Thema: die Frage nach den religionspädagogischen Ur­teilsmaßstäben, wenn man das Vielfalts-/Pluralitäts-/Heterogenitätsparadigma ernst nimmt. Und hier ist G.s Bezug auf die Denkform sehr produktiv. Die Frage nach den religionspädagogischen Prämissen, die G. sehr elaboriert aufmacht, wird die Religionspädagogik so schnell nicht loslassen. Außerdem ist die Art stilbildend, wie G. trotz des eigenen apologetischen Anliegens das eigene Konzept in dem vorgegebenen Rahmen kritisch reflektiert und selbst begrenzt.
In der Durchführung der Denkformanalyse fällt zugleich auf – und G. selbst ist das auch bewusst (39) –, dass die Denkformen stark schematisierte Formen sind, um die Differenzen untereinander zu erhalten. Dabei werden die Konzepte in ihrer internen Heterogenität stark geschliffen. Der Inklusionsdiskurs trägt in sich z. B. eine Heterogenität von Denkformen, bei der die Aufgeklärte Heterogenität eine diskursive Position sein könnte. Es ist schon verständlich, dass er diese Heterogenität nicht weiterverfolgt. Das hätte die aufgemachte Diskursordnung unterlaufen und vor allem die Apologetik beeinträchtigt. Das gewählte Vorgehen hat aber zur Folge, dass sowohl die Ordnung der Denkformen als auch die Ordnung der Differenzen in vertikal und horizontal einer implizit gebliebenen Denkform geschuldet ist, die nur begrenzt diskutiert wird. Die vordergründigen Denkformen sind bei dieser Vorgehensweise letztlich nicht praxeologisch und kontextuell rekonstruiert, son dern theoretisch entworfen worden. So entsteht ein normatives Gefälle zwischen Theorie und Praxis, zwischen idealen Denkformen und real-wirksamen. Dies könnte einer der Gründe sein, warum die Aufgeklärte Heterogenität noch keine rechte Aufnahme in die praktischen Reflexionsvollzüge, z. B. des inklusiven Religionsunterrichts, gefunden hat.
Eine andere Frage ist, ob die Aufgeklärte Heterogenität wirklich eine Denkform ist, die vorempirisch die Handlungsauffassung prägt. Ist sie nicht noch ein Konzept, dessen Konstruiertheit so offensichtlich ist, dass ihm gerade das Wesentliche einer Denkform fehlt, weil sie so direkt in Erscheinung tritt (Grümme 2017, 108)? So lässt sich das Buch als Versuch lesen, die Denkform als Akteur zu etablieren und zu normalisieren. Ganz sicher stört sie genau auf diese Weise die zuweilen selbstzufriedene Differenzsensibilität der Religionspädagogik – dafür muss sie im Gewand einer konkurrierenden Denkform vertreten werden. Die Problematisierung ist mit diesem Buch voll und ganz gelungen. Jede Arbeit zu den Differenztheorien wird hier fündig und wird sich selbstkritisch mit der eigenen Denkform auseinandersetzen müssen. So wird das Buch sicher seine Spuren in der Religionspädagogik, der Fundamentalpädagogik, der Bildungsphilosophie hinterlassen.