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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

732–733

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bauer, Jochen

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 486 S. m. 10 Abb. = Religionspädagogik innovativ, 30. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-037460-7.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Wie der Buchtitel anzeigt, bezieht sich diese Göttinger sozialwissenschaftliche Dissertation (betreut von Bernd Schröder) auf den Hamburger »Religionsunterricht für alle«, betrifft aber zugleich ein weiterreichendes Anliegen: Ziel ist ein »systematisches fach-didaktisches Konzept«, das einen nicht nach Konfessions- und Re-ligionszugehörigkeit getrennt erteilten Religionsunterricht als »Grundlage« tragen soll (9). Der Verfasser Jochen Bauer ist Fachreferent in der Behörde für Schule und Berufsbildung in Hamburg sowie Fachseminarleiter am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, versteht seine Darstellung aber ausdrücklich als »private Studie« (10).
Der Band umfasst fünf Hauptteile: Zunächst wird die »didaktische Aufgabe« umrissen (13–84). Unter der Überschrift »Der didaktische Raum« werden sodann verschiedene Voraussetzungen für den Religionsunterricht dargestellt (85–172), ehe »didaktische Di­mensionen« (173–286) und »didaktische Orientierungen« (287–402) sowie schließlich die »didaktischen Akteure« (403–437) be­schrieben werden.
Die »didaktische Aufgabe« ergibt sich zunächst aus der Entwicklung des Religionsunterrichts in Hamburg, der in seiner Geschichte – vor allem aber im Blick auf die dort derzeit anstehende bzw. in Gang befindliche grundlegende Umstellung unter den Voraussetzungen der durch die Verträge mit den Religionsgemeinschaften neu bestimmten Situation (sogenannter Übergang von »RUfa 1.0« zu »RUfa 2.0«) – dargestellt wird. Insofern steht die hier vorgelegte »multitheologische Fachdidaktik« für das Anliegen, die Schwächen des ursprünglichen Hamburger Modells durch eine konsequent interreligiöse Fachdidaktik zu überwinden. Dabei wird zwischen einer »Fachdidaktik« auf der einen und den »religionsspezifischen Religionsdidaktiken« auf der anderen Seite unterschieden (69). Es brauche eine »Fachdidaktik, die die verschiedenen Theologien und Religionsdidaktiken aufeinander zu beziehen und zu integrieren vermag, ohne selbst eine Suprareligions-Didaktik zu werden« (ebd.). In dieser Formulierung wird auch das gewählte Vorgehen deutlich: Die angestrebte Fachdidaktik ist selbst keine Religionsdidaktik im Sinne des Bezugs auf eine oder mehrere Konfessionen oder Religionen, sondern soll die verschiedenen Reli-gionsdidaktiken übergreifen können. Gleichwohl soll auch diese Fachdidaktik eine »fachspezifische Didaktik des Religionsunterrichts für alle« sein (76). Ihre Fundierung ist jedoch nicht theo-logisch, sondern »kultur-, religions- und sozialwissenschaftlich« (81), zugleich aber anschlussfähig für theologisch-religionsdidaktische Bestimmungen (82).
Um dieses Ziel zu erreichen, wird zunächst der »didaktische Raum« für den Religionsunterricht vermessen, im Blick auf rechtliche Voraussetzungen, politische Implikationen (Demokratie und Frieden), aber auch hinsichtlich der Schülerinnen und Schüler mit ihrer Religiosität, was schließlich in Überlegungen zu fachlichen, schulischen und unterrichtlichen Aspekten mündet. Dem Vf. liegt an einem bekenntnisbezogenen Religionsunterricht, der von den beteiligten Religionsgemeinschaften inhaltlich mitverantwortet wird. Zugleich soll dieser Religionsunterricht auch in seiner gesellschaftlichen Bedeutung ausgewiesen sein sowie den Schülerinnen und Schülern gerecht werden. Angesichts der zunehmenden reli-giös-weltanschaulichen Pluralität sei nur ein gemeinsamer Reli-gionsunterricht für alle sinnvoll (169).
Mit den »didaktischen Dimensionen« sind die Zielsetzungen des Religionsunterrichts gemeint (173). Es geht um Inhalte, die der Vf. vor allem unter dem Aspekt des »kulturell-kollektiven Gedächtnisses« fasst (188). So gesehen stellt sich dem Religionsunterricht die Aufgabe einer »kritischen Vermittlung zwischen individuellem und kulturell-kollektivem Gedächtnis« (202), was jedoch bildungstheoretisch nur als kritisch-reflektierter Vorgang vorstellbar sei. Daneben geht es um die (religiöse) Identitätsbildung sowie die Wahrheitsfrage, die für einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht unverzichtbar bleibe und nun auch beim »Religionsunterricht für alle« zum Tragen kommen soll. Da die Glaubensüberzeugungen der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen im Blick auf Wahrheits- und Geltungsansprüche divergieren, muss auch der Religionsunterricht für solche Unterschiede offen sein. Der Vf. schließt sich in dieser Hinsicht der »komparativen Theologie« an (273), die sich auch für den Religionsunterricht fruchtbar machen lasse.
Bei den »didaktischen Orientierungen« geht es um die »didaktischen Prinzipien des Religionsunterrichts für alle« (287). Hier stützt sich der Vf. auf den Elementarisierungsansatz, der aber im Horizont einer »multitheologischen Fachdidaktik« zugleich überschritten werden müsse (288). Hervorgehoben wird der Begriff der »Orientierung«, den der Vf. als »didaktischen Begriff« auszulegen versucht (291). Auch dabei werden wie schon im vorangehenden Teil die »Inhaltsdimensionen«, die »Identitätsdimension« sowie die »Wahrheitsdimension« aufgenommen.
Bei den »didaktischen Akteuren« (403) geht es vor allem um die Lehrkräfte und deren Aufgabe, die hier mit den Begriffen »Positionalität«, »Wissenschaftsbezug«, »Schülerorientierung« u. a. beschrieben werden (410 f.). Auch die damit verbundenen Spannungen (man kann »nicht zugleich Katholik und Muslim sein«, 428) werden angesprochen, auch wenn die entsprechenden Beschreibungen in dieser Hinsicht etwas verhalten bleiben. Es scheint leicht vorstellbar, dass hier auch von Gegensätzen und Konflikten zu sprechen wäre, was der Vf. vermeidet.
Naturgemäß kann in einer kurzen Rezension die Fülle der Aspekte, die hier überaus kenntnisreich und auf weiten Strecken plausibel beschrieben und erörtert werden, nicht angemessen wiedergegeben werden. Zu nennen sind aber auch zwei Grenzen, die diesem Vorhaben gezogen sind: Zum einen bildet der Hamburger »Religionsunterricht für alle« eher eine Denkvoraussetzung als einen Gegenstand der Erörterung. Eine detaillierte Modelldiskussion wird nicht geboten. Insofern bleibt offen, warum nicht auch andere Wege zu einem interreligiös-dialogischen Religionsunterricht gegangen werden könnten oder sollten. Zum anderen handelt es sich gleichsam um eine »multitheologische« Fachdidaktik ohne Theologien: Dem Vf. ist bewusst, dass er keine Super- oder Supra-Theologie oder Religionsdidaktik bieten kann. Doch nimmt die von ihm angestrebte Fachdidaktik deutlich eine übergeordnete Position ein, so wie dies traditionell für die erziehungswissenschaftliche Allgemeine Didaktik in ihrem Verhältnis zu den Fachdidaktiken sein sollte. Heute wird jedoch ganz allgemein eher von kritisch-interaktiven Verhältnissen zwischen Fachdidaktik und Erziehungswissenschaft ausgegangen, was auch im vorliegenden Falle angemessen wäre: Die Theologien und theologischen Religionsdidaktiken werden sich kaum bruchlos in einen von Religions- und Sozialwissenschaft gezogenen Rahmen fügen wollen.