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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

730–731

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Morgenthaler, Christoph

Titel/Untertitel:

Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis.

Verlag:

6., aktualisierte Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 334 S. m. 22 Abb. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-17-036168-3.

Rezensent:

Johannes Greifenstein

Eine »Systemische Seelsorge« legte der seit 2012 emeritierte Berner Praktische Theologe Christoph Morgenthaler erstmals 1999 vor. Es spricht für das Thema sowie für das ihm gewidmete Buch, wenn es nach zwanzig Jahren in sechster Auflage erscheint. Für sie wurde »der Text der fünften, vollständig überarbeiteten Auflage korrigiert und aktualisiert« (8). Auf genauen Vergleich kommt es jetzt zwar nicht an. Doch weist zumindest das Literaturverzeichnis kaum Titel auf, die seit der fünften Auflage im Jahr 2014 erschienen sind, und zufolge der Seitenangaben des Inhaltsverzeichnisses gibt es bei den Kapiteln und Abschnitten keine einzige Änderung. Die Aktualisierung hält sich wohl in Grenzen. So formuliert die Einleitung exakt wie in der fünften Auflage: »Es wurde Zeit für eine gründliche Überarbeitung. Der Text wurde deshalb sprachlich und inhaltlich vollständig revidiert, aktualisiert« (11 f.). Zuvor heißt es im Rückblick auf die Erstauflage: »Heute – 15 Jahre später« (11) – erneut unverändert der Text der fünften Auflage. Das hätte zumindest dem Lektorat auffallen können (vgl. 21.38). Auch inhaltlich macht das Buch gelegentlich den Eindruck, etwas in die Jahre gekommen zu sein. Etwa beim Thema Kasualien übernimmt (54) oder trifft M. selbst (161.193) manches Urteil, das mittlerweile (zumindest) an Grenzen gerät.
Das Literaturverzeichnis zeigt freilich auch, dass M. in den letzten Jahren selbst weitere Beiträge geliefert hat. Vor allem hat er seit der Erstauflage ein eigenes Lehrbuch vorgelegt (Seelsorge, Gütersloh 2009 [32017]) sowie die systemische Perspektive in einem Handbuch vorgestellt (in: Wilfried Engemann [Hrsg.]: Handbuch der Seelsorge, Leipzig 2007 [32016]).
Das Buch ist zweigeteilt. Der erste Teil widmet sich »Grund-lagen« (9). Für die Einführung in systemische Seelsorge ist der Hinweis wichtig, »der systemische Blickwinkel auf die Beziehungs-systeme im persönlichen Umfeld« werde »in zwei Richtungen aus-geweitet: psychosystemisch und ökosystemisch« (16). Denn das be­deutet zum einen die (bleibende) Rücksicht auf einzelne Personen, zum anderen die Beachtung gesellschaftlicher, auch politischer Kontexte (76–78). Diskutiert werden ferner die Familie, »Menschen in ihren Beziehungssystemen« (59) und »Religiosität als Konfliktherd und Ressource im System« (79). Es wird ein systemischer Blick auf die Seelsorgenden selbst geworfen, auf »Spiritualität und Theologie als Quelle systemischen Denkens und Handelns« (114) sowie schließlich auf »Geist, Haltung und Technik« (133).
Der zweite Teil stellt »Arbeitsmodelle« vor, und er setzt ein mit der Frage, wie das, was zuvor »in Grundzügen« beschrieben wurde, nun »konkret umgesetzt werden« kann (151). Einleitend werden »Grundformen systemischer Seelsorge« (159–162) vorgestellt: »Be­gleitende systemische Seelsorge«, die oft durch implizite Aufträge zustande kommt, »[p]räventive systemische Seelsorge«, etwa durch Kurse oder spezielle Angebote auf Gemeindeebene, »[r]ituelle systemische Seelsorge«, wie sie vor allem die Kasualseelsorge prägt, »systemische Seelsorge als Krisenintervention«, die auf konkrete Situationen reagiert, und systemische Seelsorge »in religiösen Konflikten und Entwicklungen«.
Der weitere Durchgang widmet sich zunächst der Einzelseelsorge. Sie soll nämlich auch dann nicht aus dem Blick geraten, wenn sich die systemische Seelsorge von einem »individuumszentrierten Paradigma der Seelsorge« zugunsten des Fokus auf »Beziehungssysteme« (15) distanziert. Vielmehr gilt: »Eine am Einzelnen orientierte Seelsorge wird also nicht gegen eine an systemischen Zusammenhängen interessierte Seelsorge ausgespielt.« (16) Danach geht es erneut um Familie, eine zentrale Größe für »ein Konzept systemischer Seelsorge […], das an den Schnittstellen der beiden sozialen Grössen [sic!] Familie und Religion ansetzt.« (52) Umfänglichere Ausführungen sind schließlich der Kasual- und Krankenhausseelsorge sowie der Seelsorge in der Gemeinde gewidmet.
An mehreren Stellen ist erkennbar, wie im systemischen Kontext Fragestellungen auch der allgemeineren Seelsorgediskussion wiederkehren. So widmet sich das Kapitel zu »Seelsorgerin und Seelsorger im Netz« der Relevanz von Erfahrungen, die Seelsorgende selbst mit und in Systemen machen und gemacht haben – es geht also (abstrakter gesagt) um das Thema ›Person‹. Ein weiteres Beispiel wäre der Fokus auf die Gemeinde. An Stellen wie diesen ließe sich doch aber auch einmal nach ›außersystemischen‹ Debatten fragen. So könnte etwa die gegenwärtige Kirchentheorie auf so manche Grundannahme dieses Buchs ein helleres Licht werfen: Wie ist es um die gegenwärtige Lage einer »für Kirche grundlegenden kooperativen Praxis der Nächstenliebe, einer unbedingten wechselseitigen Freundschaftlichkeit« (118) bestellt? Warum sieht man einen »ekklesiologischen Ausgangspunkt einer systemischen Seelsorge« (119) nicht in einen ekklesiologischen oder kirchentheoretischen Kontext eingeordnet? Welche Begriffe von Kirche und Gemeinde sind überhaupt leitend?
Bei M. bleiben einige solcher möglichen Dialoge mit einschlägigen ›Parallelen‹ zu seinen Themen aus (z. B. noch die neuere Pastoraltheologie). So sehr sich die systemische Seelsorge grundsätzlich interdisziplinärer Offenheit verdankt, hinsichtlich des innertheologischen Diskurses kann sie durchaus ›unsystemisch‹ verfahren. Ist ihre Perspektive so eigentümlich, dass sie eher unverbunden neben nicht dezidiert systemischen Perspektiven stehen muss – obgleich die Herausforderungen der Praxis bei allen Unterschieden in Zugang und Wahrnehmung doch nicht gänzlich andere sind? Diesen Eindruck kann man nun freilich unterschiedlich bewerten. Einerseits lässt sich bedauern, dass bestimmte Anschlussmöglichkeiten nicht fruchtbar gemacht werden. Andererseits lässt es sich als Anregungspotential bewerten, dass ein Buch zu weiterem Austausch anregt, ohne ihn selbst integrieren zu können.
Das Fazit des Rezensenten lautet: Nach zwanzig Jahren hält das Buch einen bestimmten Stand der Reflexion auf »Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis« (so der Untertitel) fest. Das wirft die Frage nach weiteren oder anderen Impulsen sowie weiterer oder anderer Reflexion solcher Impulse auf, die jetzt von weiteren oder anderen Büchern zu erwarten sind. Sie dürften durch M.s Beitrag allerdings ebenso wertvolle Anregungen erhalten wie diejenigen, die es heute zum ersten Mal lesen.