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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

728–730

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph

Titel/Untertitel:

Pilgern. Glauben auf dem Weg.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 270 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 36. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-374-05800-6.

Rezensent:

Traugott Roser

»Pilgern ist angesagt«, stellt Klaus Nagorni in seinem Beitrag zum Thema Pilgern im 3. Band des Handbuchs Evangelische Spiritua-lität lapidar fest. Die jährlich über 300.000 Pilger allein auf dem Jakobsweg, knapp 10 % davon aus Deutschland, sind eine Anfrage an kirchliche Angebote. Mittlerweile bilden sogar evangelische Landeskirchen Pilgerbegleiter aus. Nagorni fordert: »Ein protestantisches Verständnis des Pilgerns wird sich der Komplexität des historischen Pilgerwesens ebenso bewusst sein müssen wie der theologischen Kritik Martin Luthers. Die Aufgabe besteht darin, sich die Aspekte von Kontinuität und Differenz zwischen dem mittelalterlichen und einem zeitgemäßen evangelischen Verständnis des Pilgerns bewusst zu machen.« Jenseits der zahlreichen Erfahrungsberichte und Anleitungsliteratur hat das Thema aber bislang kaum Aufmerksamkeit innerhalb der Praktischen Theologie ge­funden.
Der Zürcher Praktische Theologe Ralph Kunz schließt mit »Pilgern. Glauben auf dem Weg« diese Lücke und leistet zugleich viel mehr. Auch K. stellt eingangs fest, dass Pilgern »in« sei, seine Motivation erklärt er jedoch mit eigenen »bescheidenen« Erfahrungen und der »Freude, die ich verspüre, wenn ich pilgernd losziehe«, mit »Pilgerbrüdern« regelmäßig zu Wanderungen mit Gesprächen über den eigenen Lebens- und Glaubensweg, Andachten, Schweigen: »Pilgern ist für mich ein Beten mit den Füßen« (45). Zugleich jedoch distanziert er sich – der Titelgrafik des Bandes widersprechend – vom Jakobsweg mit Muschel und Pilgerstock: »mit dem Camino konnte ich mich allerdings bislang nicht anfreunden.« Mit seiner Studie in acht Kapiteln geht K. dem Pilgern grundlegend nach, im Anschluss an Michael Meyer-Blancks Bestimmung Praktischer Theologie als erfahrungsbezogener theologischer Theorie, die auch eigene Erlebnisse und Deutungen zu ›empirischen Tatbeständen‹ zählt. Nicht wenig Aufwand verwendet K. darum auf die Einordnung seines Themas in inhaltliche und methodische Fragen Praktischer Theologie. Praktiken versteht K. mit Julia Koll in Bezug auf eine »Aufmerksamkeit für die offensichtliche Körperlichkeit«, auf den »Fokus auf ein inkorporiertes Wissen« und die Performa-tivität zwischen »Routine und Unterbrechung« (35 f.) als »stete soziale Praxis, die erlernt, eingeübt und mit anderen geteilt wird« (38). Folglich geht es weder metaphorisch um einen Pilgerstand noch historisch um das Pilgerwesen, sondern um den Pilgergang als körperlich vermittelter Sozialgestalt des Glaubens, ein Narrativ, das sich auf Jesus als – letztlich gescheiterten – Pilger gründet. Zur Einordnung der Praktik des Pilgerns in das Narrativ des Evange-liums und den mimetischen Bezug auf Jesus als ersten Pilger verbindet K. die Resonanztheorie Hartmut Rosas (»Pilgerinnen und Pilger als resonanzsensible Adressaten für die Kommunikation des Evangeliums«, 72) mit dem Anliegen Ernst Langes, Relevanz biblischer Leitbilder für den Lebenslauf zu erreichen, so dass im homo viator aufgrund der Deutung des eigenen Lebens im Licht der »biblischen Heilsbilder« der Wunsch entsteht, »ein homo peregrinus zu werden« (ebd., alle Hervorhebungen im Original).
Pilgern als individuelle Praxis – ob religiös oder nicht – bedarf theologischer Reflexion, um kirchliches und theologisches Erbe als Deutungshilfe fruchtbar zu machen. Aber K. belässt es nicht bei der Deutung einer populären Praxis gelebten Glaubens; er sieht ihr kritisches Potential für kirchliche und gemeindliche Praxis: Es ist »meine Hauptintention und -motivation, dieses Büchlein zu schreiben, […] als Doppelfrage formuliert: Was geschieht, wenn der homo viator nach Hause kommt? Und was bewegt sich in einer Ortsgemeinde, die entdeckt, dass sie dem Wesen nach eine communio viatorum ist?« (26) Entsprechend reflektiert K. Pilgern als »kirchliche Praktik« in dezidiert theologischem Interesse, »die Praktiker an Gottes Welt teilhaben zu lassen […] anders gesagt: dass die peregrinatio der Kirche ein Teil der peregrinatio dei wird und sich dafür am ersten Pilger Jesus Christus orientiert«. Nach einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Karl Barths christologisch konzentrierter und pneumatologisch konturierter Ekklesiologie präzisiert K. seine Orientierung der Gemeinde als mimetische Identifikation mit Christus als erstem Pilger und Christi sakramentale Identifikation der Gemeinde als konkreter sichtbarer Körperschaft als »sein Leib«, »ein Prädikat seines Seins« (213). Gott komme dem Pilger, auch der ihn suchenden Gemeinde immer schon zuvor. »Die Unruhe, die vom Homo Viator ausgeht und ihn zum Homo Faber macht, findet bei Barth in Jesus Christus ihren theologischen Ruhepunkt und führt zugleich in eine heilsame Unruhe.« (198) Auf diese Weise gelingt es dem reformierten Theologen, in der Pilgerbewegung nicht einen Ausdruck der Privatisierung und Entinstitutionalisierung von Religion zu sehen, sondern sie ekklesiologisch zu reflektieren und auf Gemeinde und Kirche als Subjekt Praktischer Theologie zu beziehen. Spannend ist es zu lesen, wie K. dabei verfährt. Er deutet nicht nur das Pilgern anhand dogmatischer Entwürfe, sondern bemüht sich um eine Relecture der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths mit den Augen des Pilgers, der lesende Pilger ist ein pilgernder Leser – und in beiden Richtungen gelingen ihm erhellende Einsichten. Zu den Leseerkundungen, an denen K. uns teilhaben lässt, gehört ein in dieser Form vielleicht einmaliger Gang durch eine reich gefüllte Bibliothek protestantischer Pilgertheologie (D. Lienau, W. Nigg und R. Jensen) sowie reformierter und lutherischer Kritik am Pilgerwesen. K. erweist sich als kundiger Vermittler zwischen den Welten: den Pilgerinnen und Pilgern ist er ein kritisch-solidarischer Theologe, den Theologinnen und Theologen ein Apologet des Pilgerns.
Selten gewährt ein Autor dabei so offen Einblick in seine Er­kenntnisprozesse wie K., der gesteht, was ihn »mit großer Wucht getroffen« habe: »Gott sendet seinen Sohn als Pilger. Der Gedanke der Peregrinatio Dei – das Vorwort und das Vorzeichen vor jeder christlichen Pilgerschaft – hat mich gepackt!« (8) Immer wieder klingt das Ergriffensein aus seinen Zeilen: »Jesus Christus stellt den Glauben auf die Füße, der Heilige Geist macht ihm Beine.« (215) Ähnlich ist es auch in der Entdeckung des Psalters als »Reisebuch« (77). Bei allem Staunen bewahrt er sich die gebotene Distanz zum Gegenstand und entwickelt Pilgertheologie im Modus »religiöser Religionskritik« (112, im Anschluss an U. Körtner), schließlich versteht er Praktische Theologie als historisch und systematisch fundierte theologische Aufgabe der Unterscheidung nach Kriterien, die einen Weg vom Sehen zum Handeln begründet (vgl. Anm. 115), so dass er entmystifizierend dem Pilgern an heilige Orte misstraut, wie auch der Vorstellung einer Ortsverhaftung des Heiligen, auch hier dem Beispiel Jesu folgend: »Schließlich ist auch die Wanders chaft Jesu als Wallfahrt nach Jerusalem verzeichnet. Eine Wallfahrt allerdings, die einen Kontrast bildet, der größer nicht sein könnte! Jesus als ein Pilger, der kein Aszet sein wollte […] ein Pilger, der am Wallfahrtsort nicht gut ankommt und doch sein Ziel er­reicht.« (77)
Der Band erweist sich in mehrfacher Hinsicht als eine belesene, (selbst)kritische und erkennbar reformierte Annäherung an ein Phänomen, das von vielen mit Begeisterung für einen spirituellen, selbstoptimierenden und ökonomisch ergiebigen Trend jenseits kirchlicher Bindungen oder für Re-Evangelisierung instrumentalisiert wird, von anderen dagegen als vorübergehende Mode übergangen wird. K. gelingt es, das Pilgern als komplexen, aber lohnenden Gegenstand evangelischer Theologie zu beschreiben.