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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

717–719

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wils, Jean-Pierre

Titel/Untertitel:

Das Nachleben der Toten. Philosophie auf der Grenze.

Verlag:

Paderborn: Mentis Verlag 2019. 358 S. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-95743-158-5.

Rezensent:

Martin Hailer

Nach »Sterben. Zur Ethik der Euthanasie« (1999) und »ars moriendi. Über das Sterben« (2007) legt Jean-Pierre Wils, Professor für Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud-Universität in Nijmegen, seine dritte Monographie zu Themen rund um das Ende des menschlichen Lebens vor. Bezüge zu insbesondere »ars moriendi« sind deutlich erkennbar, der vorzustellende Band tritt aber mit dem Anspruch einer umfassenden Thanatologie an.
Der Tod ist kein Gegenstand wie andere Gegenstände, vorzüglich, weil er das Ende jeder Gegenständlichkeit ist: Wir können über den Tod und über Tote, aber nicht mit ihnen sprechen. Entsprechend muss eine Thanatologie sich über ihren eigentümlichen und stets prekären ›Gegenstands‹-Bezug ausweisen. Der Vf. zieht daraus den Schluss, dass suchend und fragend vorzugehen ist, und zwar unter Einbezug von Narration, Erzählung und Dichtung, und dies nicht nur als Dekor: »Es gibt tatsächlich so etwas wie eine literarische Denkform. Im Grunde handelt es sich um eine Art narrativer Fundamentalphilosophie des Todes.« (25) Weil sich der Tod jeder Doktrin entzieht, tut eine nichtdoktrinäre Philosophie not, die Dichtung und Erzählung nicht scheut und vielmehr als Verstehenshilfen nimmt. (34 f.39)
In diesem Sinn entfaltet der Vf. eine breit angelegte, philosophische Debatten wie Literatur und Dichtung gleichermaßen einbeziehende Gesamtschau von mit dem Tod verbundenen Phäno-menen. Er beginnt mit verschiedenen Todesarten, unter die der gewaltsame und der leichte Tod zählen. Die literarische Spurensuche dabei wird u. a. mit Hilfe von Paul Celans Todesfuge (»… ein Meister aus Deutschland«) und Robert Seethalers »Ein ganzes Leben« aufgenommen. Auch der Schlusschor aus J. S. Bachs Johannespassion kommt vor. Aus »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine« bei Bach wird beim Vf. freilich »wohlig ruhen« (71). Hier wird Idylle unterstellt, wo der Chor-Text sie genau nicht meint. Das Kapitel über den Todeszeitpunkt ist diskursiver angelegt, was sich schon von den entsprechenden Diskussionen in der Ethik her nahelegt. Die Idee des (Teil-)Hirntodkriteriums wird zurückgewiesen: Weil Leben immer organismisch ist, ist der Tod erst dann eingetreten, wenn der Organismus nicht ohne Substitute aufrechterhalten werden kann (100).
Todesangst und Todesfurcht werden breit verhandelt, wobei der Vf. Epikurs Argument von der Belanglosigkeit des Todes (»lebe ich, so ist der Tod nicht da; ist der Tod da, so bin ich nicht mehr vorhanden«) als rationalistische Verkürzung zurückweist (120 u. ö.). U. a. Schopenhauer, Feuerbach, Heidegger und Jaspers kommen in diesem Kapitel in prägnanten Referaten zur Sprache.
Nach einem Blick auf Ludwig Wittgensteins Wendung »Den Tod erlebt man nicht« (Tractatus 6.411) kommt der Vf. ausführlich und zustimmend auf V. Jankélévitchs opus magnum »Der Tod« zu sprechen. Seine Leitunterscheidung kennt drei Tode: den der ersten Person, also meinen Tod, den der zweiten im Sinne des Todes eines Nahestehenden und den der dritten Person im Sinne eines (beliebigen, unbekannten) Anderen. Die drei werden phänomenologisch ausgeschritten, wobei sich eine Levinas-Interpretation anschließt, die Fragen aufwirft: Als Philosoph moralischer Pflicht (so 163) ist er wohl kaum richtig verstanden, geht es bei ihm doch um die unmittelbare Evidenz dessen, was sich im Antlitz des Anderen zeigt. Das Ergebnis ist jedenfalls eine »resignative Mystik«: Resignativ, weil angesichts des Todes nur ein Sich-Fügen bleibt, Mystik, weil wir an der Grenze des Wissbaren stehen und von einem unnennbaren Drüben unverstehbare Botschaften kommen könnten: »Als gäbe es da einen Grund auf der anderen Seite des Seins, dessen Botschaft wir allerdings nicht verstehen.« (176)
Die Betrachtung wechselt danach wieder stärker ins literarische Fach: Die Trauer, ferner Wirklichkeit und Grenzen des Tröstens werden bedacht, in einem dicht gearbeiteten Kapitel auch Visionen und Träume vom Tod (251 ff.). Betrachtungen zu Büchern von Péter Nádas und Harold Brodkey – der eine berichtet von einer Nahtoderfahrung, der andere beschreibt sein Sterben an AIDS bis kurz vor dem Ende – sind noch einmal Beispiele für die Instruktivität des Erzählens in den Grenzlagen des Lebens (283 ff.).
Das Schlusskapitel ist dem Totengedenken gewidmet. Der Vf. diagnostiziert eine Tendenz zum Verschwindenlassen der Toten – u. a. durch die Feuerbestattung, aber auch durch den selbstgewählten Wunsch des Aufgehens im natürlichen Zusammenhang – und zur Internalisierung der Trauer: Sie hört tendenziell auf, sozial vorhanden zu sein, und wird zur Trauerarbeit im Innern der einzelnen Hinterbliebenen. Dem setzt er das Plädoyer für den sozialen und öffentlichen Ritus des Trauerns und für die bleibende Sichtbarkeit der Toten entgegen, wie sie etwa durch die Erdbestattung und die Präsenz durch Grabmale jenseits protziger Mausoleen gewährleistet wird. Ritualisierung und Sichtbarkeit sind dabei Ausdruck einer Klugheitsregel: »Die Toten sind unsere andere Hälfte. Was wir für sie tun (oder ihnen antun) spiegelt sich in und an uns.« (331, im Original teilw. Herv.) Das sicht- und hörbare Totengedächtnis ist also wohlverstandene Selbstsorge der Lebenden. Gibt es, so lautet die Rückfrage, Sorge um die Toten auch um ihrer selbst willen?
Eine konsequente Thanatologie im Rahmen einer nichttheis-tischen Philosophie wird an dieser Sachstelle wohl kaum weiter-gehen können, weil ihr etwa der Aspekt des getrosten Lassens der Toten in der ewigen Behütung Gottes unerschwinglich ist. Gleichwohl zeigt sich hier säkularisiert-katholisches Erbe: Innerlichkeit allein gilt ihm als Übertribunalisierung des Subjekts. Entlastungsgewinne erzielen demgegenüber die Berufung auf verbindliche Gemeinschaft, auf vertrauenswürdige Riten und auf Erinnerungsorte. Kirchengemeinschaft, Kultvollzug und der »Gang auf die Gräber« zu Allerheiligen erhalten so ihr Pendant extra muros ecclesiae.
Nicht nur dieser säkular-katholische Zug liest sich wie eine Einladung an die theologische Thanatologie, die Grenzen des Lebens gerade in ihrer bleibenden Sperrigkeit zu thematisieren und nicht durch Bezug auf ›die letzten Dinge‹ flott stillzustellen. Betrachtungen wie Jürgen Moltmanns jüngst erschienenes Büchlein »Auferstanden in das ewige Leben« (Gütersloh 2020) dürfen durchaus noch weitere Wortmeldungen im Sinne einer meditatio mortis et vitae aeternae nach sich ziehen.