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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

714–716

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hoppe, Sabrina

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus als Forum und Faktor. Sozialethische Netzwerke im Protestantismus der frühen Bundesrepublik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIII, 435 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-156018-7.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Diese von Christian Albrecht betreute Münchener Dissertation von Sabrina Hoppe bietet die Ergebnisse eines Teilprojekts der DFG-Forschergruppe »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989«. Dieser Kontext wird im Rahmen von Teil »A) Vorüberlegungen« eingehend dargelegt (vgl. 11–14). Vor dem Hintergrund seiner Kartierung durch Al­brecht und Reiner Anselm geht H. von einem offenen Verständnis des Protestantismus aus, der sein spezifisches Profil durch das Engagement von christlich geprägten Akteuren in den ethischen Diskursen der Nachkriegszeit gewinnt und sich dadurch hochgradig plural auffächert, weil kirchliche, öffentliche und personale Bezüge jeweils unterschiedlich konstelliert und gewichtet werden. Neben der Positionierung in den Diskursen sind auch die Kommun ikationsformen profilgebend. Ausgehend von der historischen Netzwerkanalyse (vgl. 15–20) untersucht H. in der Perspektive der »egozentrierten Netzwerkanalyse« das sozialprotestantische Wirken des Unternehmers und Ökonomen Friedrich Karrenberg (1904–1966) im Rheinland und des Theologen Eberhard Müller (1906–1989) in Württemberg.
Der umfangreiche Hauptteil »B) Historische Darstellung« ist dreigeteilt. Im ersten Abschnitt präsentiert H. zunächst die »Wurzeln und Entwicklungen der sozialkirchlichen Arbeit im Pro-testantismus«, die in das 19. Jh. zurückreichen: Innere Mission, Evangelisch-Sozialer Kongress, Sozialpfarrämter und Evangelische Arbeitervereine, Apologetische Centrale und die Evangelisch-So­ziale Schule. Spezifische Impulse für die protestantischen Netzwerke in der frühen Bundesrepublik gehen während der Zeit der Weimarer Republik von jugendbewegten Verbünden wie der »Deutschen Christlichen Studentenvereinigung«, der mit dem Religiösen Sozialismus verbundenen »Neuwerk-Bewegung« und der »Liturgischen Bewegung« aus. Jenseits der durch die Gleichschaltungspolitik der nationalsozialistischen Regierung verfügten Diskontinuitäten arbeitet H. die institutionellen und personellen Kontinuitäten heraus. Sie bringt sie auf den in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung gebräuchlichen Begriff der Verschiebung (vgl. 80 f.). Die protestantischen Netzwerke der Nachkriegszeit knüpfen einerseits an die Netzwerke der Weimarer Zeit und ihr subkutanes Fortwirken während der NS-Zeit an, werden andererseits regional, personell und institutionell neu konfiguriert. »Sowohl die Knoten, das heißt die Akteure der Netzwerke, als auch deren Kanten, deren Beziehungen und Informationswege zueinander, veränderten sich unter den neuen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Be­dingungen.« (81) Im Ergebnis führt dies zu einer starken Aufwertung der sogenannten Laien. Der bundesdeutsche Nachkriegsprotestantismus »wollte seine nicht-klerikalen Vertreter nicht nur in die Kirche integrieren, sondern machte sie zu integralen Be­standteilen, zu tragenden Säulen seines Selbstverständnisses« (92). An­ders als in der Weimarer Zeit, in der sich die Laien im sozialen Verbandsprotestantismus engagierten, ging es bei den Netzwerken der frühen BRD um ein eher kirchennahes Engagement. »Dabei konnten die Laien in der Selbstdarstellung des Protestantismus teilweise sogar als die besseren, da glaubwürdigeren Christen gelten, die ihr Expertentum aus Alltag und Beruf in die Kirche hineintrugen.« (Ebd.)
Im zweiten und dritten Abschnitt entfaltet H. die Netzwerkarbeit der beiden Protagonisten Müller und Karrenberg. Die Darstellungen gehen vom jeweils aktuellen Forschungsstand aus, sind aus den Quellen gearbeitet und setzen für die weitere zeitgeschicht-liche Forschung hohe Standards. Der Lesefluss wird indes etwas gehemmt, weil H. die Komplexität der Netzwerke auch abbildet. Dadurch gewinnt die Darstellung streckenweise protokollhafte Züge und ein Wimmelbuch-Effekt stellt sich ein, wenn H. die vielen auftretenden Personen nennt und kurz vorstellt, dann aber wieder abtreten lässt. So fällt es dem Leser bisweilen schwer, den Überblick zu behalten. Allerdings gelingt es H. in den resümierenden Passagen stets, ihre Ergebnisse zu bündeln. Die wichtigsten »Knoten« von Müllers Netzwerk waren die von ihm gegründete Evangelische Akademie Bad Boll, der Kronberger Kreis, dessen Mitglieder sich auf der Basis einer evangelisch-konservativen Grundhaltung heraus von den bruderrätlichen Netzwerken abgrenzten und die Westpolitik Adenauers unterstützten, sowie sein letztlich gescheitertes Engagement für eine eigene protestantische Wochenzeitung. Dem Netzwerker Karrenberg ist es frühzeitig gelungen, ökonomische Kompetenz in die sozialethischen Diskurse des Nachkriegsprotestantismus einzuspielen. Der theologiegeschichtlich wichtigste Ertrag von Karrenbergs bis in die weltweite Ökumene reichenden Netzwerks besteht in dem von ihm initiierten »Evangelischen Soziallexikon«, der von ihm nach einigem Zögern mitherausgegebenen »Zeitschrift für evangelische Ethik« und in dem großen Einfluss auf Heinz-Dietrich Wendland, der nach 1955 mit der Gründung des Münsteraner »Instituts für christliche Gesellschaftswissenschaften« die protestantische Sozialethik der ›alten‹ Bundesrepublik maßgeblich beeinflusste.
In Teil »C) Ergebnisse« fasst H. zunächst den Ertrag ihrer oftmals verästelten Studien zusammen. Beide Netzwerke standen nicht in Konkurrenz zueinander, wiesen vielmehr vielfache thematische und personelle Überlappungen auf. Sie waren auf sehr unterschiedliche Weise wirksam. »Während Müller mit Neugründungen wie der Evangelischen Akademie Bad Boll, der Aktions-gemeinschaft für Arbeiterfragen und dem Kronberger Kreis vorrangig versuchte, seiner Mission einer Bekehrung der Strukturen einen breiten Handlungsspielraum zu verschaffen, war Karrenberg besonders daran gelegen, in interdisziplinären Studienausschüssen an den Streitfragen evangelischer Sozialethik zu arbeiten und deren Ergebnisse zugunsten eines Erkenntnisgewinns für die Breite der Laienschaft […] in die Gemeinden zu bringen.« (348) Diese mit »Handlungsspielraum« und »Erkenntnisgewinn« bezeichnete, un­terschiedliche Dimensionierung der Netzwerke ergänzt H. mit den beiden »Zielrichtungen«, die sie auf die titelgebenden Begriffe »Faktor« und »Forum« bringt und die die sozialen Wirkweisen zum Ausdruck bringen: Netzwerke werden »zu ›Faktoren‹, zu An­stoßhilfen und Korrekturversuchen innerhalb gesellschaftlicher Entwicklungen. Andere Netzwerke waren stärker an inhaltlichen […] Fragestellungen interessiert und […] boten […] publizistische und öffentliche Foren zur gemeinschaftlichen Auseinandersetzung an. Beide Dimensionen und beide Zielrichtungen be­stehen […] ge­meinsam und miteinander, befruchten und ergänzen sich gegenseitig« (369), markieren in der Gewichtung die jeweilige Schwerpunktsetzung und die Grenzen.
Sodann extrapoliert H. abschließend ein interessantes gegenwartsbezogenes Ergebnis ihrer Studie, insofern sie einen noch heute spürbaren »doppelten Ausgang« der sozialprotestantischen Netzwerke der Nachkriegszeit identifiziert. Sie erkennt in den historischen Forschungen zum Sozialen Protestantismus der von Günter Brakelmann gegründeten »Bochumer Schule« zugleich den normativen »Anspruch an Protestantismus der Gegenwart« (375) mit seinem Engagement insbesondere kirchennaher Laien für eine gerechte Wirtschaftsordnung, für die Sensibilisierung für die soziale Frage in der Perspektive der Betroffenen und der Forderung nach einer gerechten Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolit ik. Demgegenüber verkörpern der ebenso wie Brakelmann bei Wendland in Münster promovierte Trutz Rendtorff und seine Schüler die Absage an ein normativ-appellatives Verständnis von Ethik und den Versuch, gebildete Kompetenz für die Beschreibung der sozial-ökonomischen Konflikte fruchtbar zu machen, die christliche Ethik als kritische Begleiterin gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu verstehen und das Individuum als Hauptreferenzpunkt der ethischen Theologie anzusehen. Beide »Schulen« berufen sich auf unterschiedliche Facetten von Karrenbergs »Evangelischem Soziallexikon« und Grundeinsichten der Sozialethik Wendlands. Die Differenzen spiegeln sich zum Beispiel in den gegenwärtigen Debatten um die »Öffentliche Theologie« und den »Öffentlichen Protestantismus«. Die netzwerkgebundenen Selbstverständigungsdiskurse über den Protestantismus haben zwar Grenzen, sind aber noch nicht beendet. Die historischen Gründe für diesen systematischen Befund hat H. in ihrer Studie exemplarisch und vorzüglich herausgearbeitet.