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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

712–713

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gräb-Schmidt, Elisabeth, u. Ferdinando G. Menga [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Begegnung zwischen sozial-politischer und theologisch-religiöser Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 246 S. = Dogmatik in der Moderne, 17. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-154743-0.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Politik ist mehr als ein prozedurales Verfahren der Inauguration und Legitimation von Macht. Sie ist – mit Jean-Luc Nancy gesprochen – auf eine »Leidenschaft des Zusammen-Seins« angewiesen, die sich schwerlich von oben verordnen oder von unten voraussetzen lässt. Wie kommt dann der Sinn fürs Gemeinsame, wie kommt eine gemeinsame Existenz zustande und inwiefern wirkt sie (auch) am Ort der evangelischen Kirche? Der bereits im Jahr 2016 erschienene Sammelband, den die Tübinger Sozialethikerin Elisabeth Gräb-Schmidt gemeinsam mit dem italienischen Rechtsphilosophen Ferdinando Menga im Anschluss an eine Tagung herausgegeben hat, widmet sich der seither nicht weniger aktuellen Frage, wie eine der Gesellschaft Halt und Orientierung gebende gemeinsame Existenz verantwortungsvoll gestaltet und vor welchen Gefährdungen und Verfälschungen sie bewahrt werden muss.
Die Einleitung der Herausgeber verweist als Lösungsansatz auf eine dezidiert pluralismusfreundliche, die freiheitlichen Grundrechte des Individuums und seiner Autonomie achtende Gemeinschaftsform. Selbstoffenheit, Wandelbarkeit und Kritisierbarkeit seien bleibende Momente einer gemeinsamen Existenz, die der Abschließung der Gemeinschaft in natürliche Entitäten entgegenwirken könne. Das dem Gemeinschaftsdenken zugrundeliegende Problem wird damit durch den Gegensatz von Offenheit und Ge­schlossenheit bezeichnet. Kirche erscheint in diesem Lösungshorizont als exemplarische Gemeinschaft unter Einschluss des anderen. Sie ist die ideale Antwort auf eine säkular vorgegebene Frage. Die Einleitung der Herausgeber verortet das Thema damit im Ho­rizont der Postsäkularitätsdebatte und spielt mit der These einer (notwendigen) Wiederkehr des Religiösen in den öffentlichen Raum.
Der Band untergliedert die Beiträge in politiktheoretisch-philosophische und theologische Bearbeitungen des Themas. Im ersten Teil dominieren die alteritätstheoretischen Ansätze, von denen insbesondere die folgenden fünf hervorzuheben sind: Burkhard Liebsch stellt radikal die Frage, inwiefern die poststrukturalistischen Dekonstruktionen des Gemeinschaftsbegriffs verfangen und inwiefern sie es vermögen, eine identitäre Gemeinschaft, die ein Aufgehen der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Einzelnen im Gemeinsamen für möglich hält, wirklich hinter sich zu lassen. Seine Reflexionen kreisen um den sozialen Tod, um die Möglichkeit des Herausfallens aus jeglicher Gemeinschaft und damit um eine »Lücke« im System der lückenlosen Vergemeinschaftung. Es gebe keine Gemeinschaft, die jemals die Erfahrung des sozialen Todes gänzlich ersparen könnte. Daher bleibe Vergemeinschaftung immer »ohne Gewähr«, d. h. ohne letzte Sicherung des Einbezogenwerdens. Auch Thomas Bedorf nähert sich dem Thema der Gemeinschaft in einem alteritätstheoretischen Horizont an. Mit Hilfe eines zweifachen Zugriffs über alteritätsphilosophische und anerkennungstheoretische Überlegungen zeigt er, inwiefern das soziale Band der Vergemeinschaftung stets in riskanter Weise zwischen Menschen geknüpft wird. Nicht Vereinbarungen und kodifizierte Normen, sondern die Wiederholung performativer Praktiken sei das Stiftungsmoment des Gemeinschaftlichen. Ferdinando Menga wendet sich der Analyse und Kritik der radikalen Demokratietheorie zu. Im Ansatz der Philosophin Chantal Mouffe entlarvt er eine tiefere Diastase von Antagonismus und Agonismus, die bei Mouffes spiritus rector, Carl Schmitt, noch offen angelegt sei: das Umkippen der radikalen Demokratie und ihres Agonismus in eine absolutistische Artikulation des Souveräns. Den philosophischen Teil beschließen zwei Protagonisten der internationalen Debatte: In seiner Reflexion über den dritten Grundsatz der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, wehrt sich Jean-Luc Nancy gegen dessen Vereinnahmung für ein familiales Ethos mit maskulin-sentimentaler Tendenz. Vielmehr stehe Brüderlichkeit (ebenso wie Schwesterlichkeit) für einen Verbund ohne substanzielle Notwendigkeiten, für eine Koexistenz autonomer Subjekte, denen der Grund ihrer gemeinsamen Existenz entzogen ist. Der familiale Bezug der Abstammung bestehe hier nicht in der Blutsverwandtschaft, sondern nur in der gemeinsamen Ernährung, im Gestilltwerden durch eine Mutter. Sich nähren zu lassen, bedeute aber nicht, sich zu identifizieren, sondern fremde Substanz in eine eigene autonome Substanz zu absorbieren. Roberto Esposito beschreibt ausgehend von der modernen Dialektik von Gemeinschaft und Immunität, von Öffnung und Anschließung, das Problem eines zunehmenden Verschwindens des Raumes des Gemeinen. Verdrängt worden sei dieser und mit ihm die Gemeingüter von Wasser, Luft und Erde durch den Druck, der durch die Dialektik von Öffentlichkeit und Privatheit entstanden sei. Gemeinschaft be­greift Esposito daher als Form des Widerstands gegen ein Übermaß an Immunisierung.
Im zweiten Teil des Bandes, dem theologischen, werden Verbindungen zu einer protestantischen Ekklesiologie gesucht. Dies gelingt vor allem in den beiden folgenden Aufsätzen: Michael Moxter nimmt hierzu das Gespräch mit Cornelius Castoriadis und seiner Theorie einer imaginären Konstitution von Gemeinschaft auf. Im Anschluss an Tillichs sinn- und kulturtheoretische Grundlegung einer protestantischen Ekklesiologie zeigt er, inwiefern die theologische Rede von der Verborgenheit der Kirche nicht zur Rede von der Unsichtbarkeit ihres Wesens verkürzt werden darf. Vielmehr weise die Verborgenheit auf das Operieren von Gemeinschaften auf der Grenze zwischen Realem und Imaginärem, das ihnen erlaube, offen für das Andere ihrer bestimmten Form zu bleiben. Auch Philipp Stoellger weist der protestantischen Ekklesiologie den Weg einer Abkehr von der Dichotomie sichtbar/unsichtbar und sucht Kirche nicht vom Wesen, sondern von ihrer eschatologischen Funktion her zu verstehen. Trotz seiner Missbrauchsgeschichte und seiner gegenwärtigen antimodernen Aneignung sei der Ge­meinschaftsbegriff »differenzkompetenter« als beispielsweise die Akklamation von Kirche als Leib Christi. So könne er ekklesiologisch auf eine außerordentliche Form von Ordnung orientieren, nämlich auf eine aporetisch-unmögliche Gemeinschaft mit Gott.
Der Band kann als komprimierter Überblick über die gegenwärtig im Umfeld der poststrukturalistischen Philosophie und ihrer theologischen Debatte vertretenen Entwürfe und Konzepte gelesen werden. Die Auswahl der Artikel bewegt sich allerdings in einem ungeklärten Verhältnis zwischen Analyse und (weiterer) Programmatik dieser Debatte. Der Sammelband vereint deutsche und englische Fachartikel von Autorinnen und Autoren aus sechs europäischen Ländern und zeigt damit an, dass dieses Thema mit einer breiten internationalen Debatte verbunden ist. Angesichts der Weite der Stimmen des Bandes fällt jedoch auf, dass nur zwei Beiträge von Wissenschaftlerinnen enthalten sind. Ebenfalls ins Auge fällt, dass die versammelten Beiträge sehr heterogen in Bezug auf Länge und Ausarbeitung des Themas verfasst sind. Zuweilen muss man anmerken, dass den Beiträgen eine gründlichere formale Endredaktion gutgetan hätte. Der Band enthält zur Orientierung des Lesers ein Namen- und ein sechsseitiges Sachregister.