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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

707–709

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A., u. Ulrich Schacht [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tod, wo ist dein Stachel? Todesfurcht und Lebenslust im Christentum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 280 S. = Georgiana. Neue theologische Perspektiven, 2. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-05003-1.

Rezensent:

Wilfried Härle

Dieser Sammelband im Taschenbuchformat sollte die Beiträge des 37. Konvents der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden aus dem Jahr 2010 dokumentieren. Dass ihm das nur lückenhaft und mit großer Verspätung gelungen ist, liegt nicht an den Herausgebern, sondern an zweien der Redner, die ihre Vortragsmanuskripte nicht für den Druck zur Verfügung stellten. Um die dadurch entstandenen Lücken auszufüllen, wurden thematische Beiträge aus anderen Entstehungszusammenhängen aufgenommen. Das hat die Homogenität des Bandes nicht gefördert, wohl aber seine Vielfalt vergrößert nach dem bekannten Faust-Motto: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.« Von daher kann man dieses Taschenbuch sogar als eine Fundgrube bezeichnen, und dies in viererlei Hinsicht:
1. dadurch, dass in ihm (153–178) Martin Luthers großartiger Sermon »Von der Bereitung zum Sterben« aus dem Jahr 1519 nach der Textfassung der Deutsch-Deutschen Studienausgabe (Bd. 1, Leipzig 2012, 45–73) samt einer knappen, aber präzisen und gehaltvollen Einführung von Dieter Koch vollständig nachgedruckt wurde und damit nun leicht zugänglich ist;
2. dadurch, dass der Band – obwohl er von Todesfurcht und Lebenslust im Christentum handeln will – auch anderen Religionen (67–71), insbesondere dem Islam, breiten Raum gibt (83–110), der von der Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher fachkundig und informativ genutzt wird;
3. dadurch, dass der Band durchgängig eine Fülle von Gedichten und Liedern zum Thema Sterben und Tod enthält (33–35.43–45.71.78 f.91.130.134 f.148 f.186.211–247), durch deren Präsentation (absichtlich oder unabsichtlich) die Aussage Luthers bestätigt und illustriert wird: »Es gibt die Erfahrung, dass man durch schöne Gesänge […] viel Traurigkeit und Schwermut aus dem Herzen wegsingen, dagegen auch viel schönen Trost hineinsingen kann« (30);
4. schließlich auch dadurch, dass der Band am Ende (271–279) eine von den Herausgebern verfasste »Kleine Geschichte der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden« bietet, die geeignet ist, den Bekanntheitsgrad dieser Bruderschaft beträchtlich zu steigern.
Der Untertitel eines Buches soll normalerweise dessen Inhalt möglichst genau benennen. Legt man diesen Maßstab an die vorliegende Veröffentlichung an, so muss man allerdings feststellen, dass dieses Ziel nicht wirklich wurde. Das Buch handelt weder thematisch von Todesfurcht im Christentum (außer bei Goethe und bei Canetti), sondern viel eher von christlicher ars moriendi als Kunst getrosten Sterbens; noch handelt es von Lebenslust im Christentum, sondern allenfalls erinnert der ganz unspezifisch verwendete Begriff »Spaßgesellschaft« (51 und 53) von ferne an so etwas wie Lebenslust oder deren Surrogat.
Dieser Mangel an thematischer Präzision wird aber gewissermaßen durch die gehaltvolle, provozierende Frage des Apostels Paulus, die den Obertitel des Buches bildet, kompensiert: »Tod, wo ist dein Stachel?« Und diese Botschaft kommt in vielen Beiträgen zur Geltung. Umso bedauerlicher ist es freilich, dass diese Pointe auf der Rückseite des Covers gründlich verdorben wurde, indem aus dem in den Sieg verschlungenen Tod irrtümlich der in den Tod verschlungene Sieg wurde. Hoffentlich bietet eine Zweitauflage die Gelegenheit, diesen Fehlgriff in nicht zu ferner Zukunft zu korrigieren.
Aus den Beiträgen der insgesamt vierzehn Autoren (über die ein Verzeichnis auf S. 259–270 gründlich Auskunft gibt) greife ich die folgenden heraus, die ich als besonders themaaffin empfunden habe:
Der erste und thematisch grundlegende Beitrag des Bandes stammt von dem Leipziger Praktischen Theologen Peter Zimmerling und setzt sich eine Bestandsaufnahme zu »Todesfurcht und Lebenslust im deutschen Protestantismus« zum Ziel (19–50). Im Unterschied zu der Ankündigung des Beitrags im Vorwort (7) beschränkt er sich jedoch keineswegs auf den Umgang mit Sterben und Tod im heutigen evangelischen Christentum, sondern legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung von Martin Luthers Rechtfertigungslehre, Paul Gerhardts Gesangbuchliedern und Dietrich Bonhoeffers Gedanken über die Bereitschaft zum Martyrium. Es sind also geschichtliche Gestalten, an deren Theologie und Lebenspraxis er das festmacht, was er (36–44) in fünf Punkten als »Grundzüge einer evangelischen Spiritualität im Angesicht des Todes« entfaltet. Deren wesentlicher Inhalt besteht in dem Zugleich von »Annahme des Unausweichlichen« und »Trost des Evangeliums« als Realitätsgewinn und Kraftquelle. Dabei grenzt Zimmerling sich zu Recht von dem verbreiteten Missverständnis der Auferstehung als »Wiederbelebung« ab (was freilich durch die Formulierung »bloße Wiederbelebung« nur halbherzig zum Ausdruck kommt).
Der Beitrag der ehemaligen Dresdner Religionswissenschaftlerin Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz, »Ist Sterben ein Gewinn?« (67–82), überrascht sowohl in thematischer als auch in theologischer Hinsicht. Thematisch insofern, als der Beitrag nur insgesamt vier Seiten auf einen Überblick über die indischen, griechisch-römischen, ägyptischen, jüdischen und islamischen Vorstellungen über ein »nachtodliches Leben« verwendet, sich dann aber ganz auf das leibhaft, ja angeblich fleischlich gedachte biblische Denken über die Auferstehung der Toten konzentriert, also eigentlich einen exegetischen Beitrag zum Thema liefert. Inhaltlich fällt dieser Beitrag insofern überraschend aus, als die neutestamentlichen Erzählungen von der Wiederbelebung Verstorbener von ihr umstandslos in eine Reihe gestellt werden mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Dabei wird die scharfe paulinische Unterscheidung von »Leib« und »Fleisch« (1Kor 15,35–53) von ihr ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass die Auferstehung Jesu Christi nicht eine Rückkehr in das irdische Leben ist, dem der Tod erneut bevorsteht, sondern die endgültige Überwindung des Todes zum Inhalt hat. Schließlich projiziert die Vfn. ihre eschatologische Deutung sogar in das Hiobbuch zurück und verkehrt die Aussage Hiobs: »ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen« (Hiob 20,26) zu: »In meinem Leibe werde ich meinen Gott anschauen« (76).
Auf andere Weise überraschend ist der Beitrag von Thomas A. Seidel über »Schillers Schädel. Goethes Todesangst und einige kunstreligiöse Folgewirkungen« (111–130). Ausgangspunkt dieses Artikels ist die – im Ergebnis negative – Untersuchung der beiden angeblichen Schiller-Schädel in den Jahren 2006–2008 auf ihre Echtheit hin. Von da aus fragt Seidel zurück, welche Rolle der Totenschädel Schillers für Goethe und seine vom Optimismus im Blick auf das eigene Tun bestimmte Religiosität hat. Er zeigt, dass und wie der notorische »Todesflüchter« Goethe (so treffend Sebastian Kleinschmidt im vorliegenden Band auf S. 134) allen Todesspuren nur in einer »trotzigen Todesangst« (129) mit dem Ziel begegnen konnte, den Tod nicht »zu statuieren«, also nicht anzuerkennen, sondern zu leugnen (115 f.). Als letzten Grund für diese gigantische Verdrängung des Todes macht Seidel (im Anschluss an Michael Casey) eine geradezu panische Angst Goethes (und unserer Zeit) vor dem mit dem Tod verbundenen definitiven Kontrollverlust aus. Von da aus kann er den Vorschlag von Friedrich Meinecke, Deutschland nach 1945 durch massenhafte Gründung von Goethe-Ge­meinden zu einer inneren Gesundung zu verhelfen, rückbli-ckend zu Recht nur als verheerenden Irrweg einordnen.
Bevor der Textteil des Bandes mit einem Kapitel V (auf S. 209 irrtümlich als IV bezeichnet), das »Literarische Fundstücke«, und zwar vielfältige Gedichte enthält, endet, gibt es ein Kapitel IV, in dem in gebührender Kürze authentische »Praktische Erfahrungen« aus der seelsorglichen Begleitung von Sterbenden und Trauernden dargestellt werden. Einer zusammenfassenden Wiedergabe entziehen sie sich naturgemäß, aber sie sorgen dafür, dass die ars moriendi, von der der Band handelt, zusätzlichen Erfahrungsbezug be­kommt.
Zu diesem realistischen Erfahrungsbezug gehört schließlich die Tatsache, dass einer der beiden Herausgeber dieses Bandes, Ulrich Schacht, der im Juli 2017 noch zusammen mit Thomas A. Seidel das Vorwort des Buches unterzeichnet hatte, am 16.09.2018 ganz unerwartet verstarb. Seine beiden markantesten Anfangssätze zum Thema »Tod«: »Niemand kann ihm entkommen, dem großen Gleichmacher Tod« (5) und: »Über den Tod lässt sich nicht streiten: Er trifft jeden« (211) bekommen dadurch geradezu den Charakter eines persönlichen Vermächtnisses.