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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

701–703

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Askani, Hans-Christoph

Titel/Untertitel:

Le pari de la foi.

Verlag:

Genf: Labor et Fides 2019. 272 S. = Lieux théologiques, 55. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-2-8309-1677-5.

Rezensent:

Günter Bader

Zur Kenntnis des Werks des Systematikers Hans-Christoph Askani, weitgefächert in Literatur, Philosophie und Theologie, wäre eine Bibliographie ganz nützlich, und zwar beginnend mit den 1970er Jahren. Die hier vorliegende Sammlung von neun französischen Studien bezieht sich auf seine Genfer Jahre. Ins Innere des Buches führen drei Vorstufen: Einführung, Titel, Umschlag.
Um mit dem Äußersten zu beginnen: Der Leser sieht sich, unter Umbiegung seiner genuinen Leidenschaften, zuerst gefordert als Betrachter. Zum Text (in Schwarzweiß) gelangt er, für ein systematisch-theologisches Werk eher ungewöhnlich, nur über den Um­schlag (in Farbe). Das Bild der Einsiedelei San Columbano bei Rovereto, obwohl neueren Datums, weckt Erinnerung an Altes, an den Wandermönch aus dem Norden hart jenseits der Sprachgrenze. Und weckt zudem jäh, wie in göttlicher Reminiszenz, Erinnerung an Ältestes, Archaisches, an Mose, den Mann Gottes. Er hat Raum in der Felskluft, gekonnt ins Bild gesetzt durch den Winkel der Kamera per Drohne aus der Luft, der die Einsiedelei fast ausdehnungslos am Felsmassiv kleben lässt, als fast unräumliches Haus. In einem Zeitpunkt der Anachorese packt A. auf dem Weg dorthin neun seiner Studien in den roten Leinenrucksack, mehr nicht.
Dagegen der Titel Die Wette des Glaubens, der auf demselben Cover vor der Felswand prangt, hat durchaus nichts Archaisierendes an sich. In freier Anspielung auf Pascal reflektiert er Modernität als Grundsituation des französischen Protestantismus, der Eremiten nur noch als Ziereremiten kennt. Zur Wette gehören außerdem zwei. Immerhin lebt die Zelle im Zimmer (chambre) fort, in dem es nicht aushalten zu können Pascal das ganze Malheur des Menschen nennt. Das bürgerliche Zimmer ist hier ein Labor des an Mathematik geschulten Scharfsinns, nicht des Tiefsinns. Klar kontradiktorische Aussagen über die Zukunft gelangen in der Wette auf Spitz und Knopf. Topp! Das Für und Wider, ob überhaupt gewettet werden muss oder nicht, steht in Pascals Aphorismus 233 unter der Thematik Infini. Rien. In glasklarer Rationalität sind gerade diese beiden Termini samt ihrer Disproportion geeignet, geradezu jeden Satz des so betitelten Buches ins Ziel zu katapultieren. Teleologie, nicht Archäologie.
Endlich, nach vollzogenem Eintritt in das Buch, die Einführung (Introduction). Sie dreht sich, ohne es ausdrücklich zu nennen, um Psalm 1,2 … und über seinem Gesetz sinnt Tag und Nacht: die klassische Selbstbeschreibung meditativen Lesens. Was heißt meditatives Lesen? Nichts als Lesen überhaupt. Hier wird es in Gestalt des Rabbi Levi Jizchak von Berditschew in Szene gesetzt. Martin Bubers chassidische Erzählung trägt die Überschrift Vielleicht (peut-être). Der lesende Mensch, konzentriert auf nichts als den Text, liest solange, bis ihm nicht nur, wie in der Szenerie bereits vorausgesetzt, die Welt außerhalb des Textes vergangen ist, sondern selbst noch die im Text mitgeführte wörtliche Referenz auf die äußere Welt vergeht, wenn nicht sogar in den wiederholenden Bewegungen des Lesens aktiv vernichtet wird, so dass aus dem nunmehr bis zur Wette in die Schanze geschlagenen Text die neue Welt < /span>des Textes selbst hervorspringt. Vielleicht. Man wird die Studien, die nun folgen, nicht produktiv rezipieren, wenn man nicht im Auge be­hält, dass sie durchweg lesegeneriert sind, einmal, zweimal, Tag und Nacht.
Nun steht der Blick auf das eigentliche Korpus des Buches offen. Unter seinen Stücken befinden sich nicht wenige mit klassischen Themen des Eremos: Das In-nichts-nicht-lesen-Müssen und die Schrift (écriture, texte sacré, livre, canon); der Hunger, der Durst und das Wort (nicht nur parole de Dieu, sondern Parole même de Dieu); Versuchung (tentation) vs. Hoffnung (espérance); und allen voran die Armut (pauvreté), die ihrerseits den Gehorsam (obéissance) gebiert. Wie jeweils die erste Anmerkung dokumentiert, haben die meisten Stücke lange Vorgeschichten und Entstehungsorte verschiedenster Art, teils universitäre, teils kirchliche. Zwei Studien gehen von der strittigen Übersetzung der sechsten Vaterunser-bitte aus, die weit über die frankophone Welt hinaus Beachtung gefunden hat. Man dürfte sie Meisterstücke der Satire nennen, wenn sie sich nicht innerhalb der Grenzen des Humors hielten. Zwei weitere Stücke, die ersten beiden, nehmen ihren Ort in der Situation biblischer Jünglinge, des reichen Jünglings im Kontrast zur Armut und des verlorenen, aber heimgekehrten Sohnes im Kontrast zu der von André Gide hinzugedachten Figur des dritten Sohnes, der auszieht, um nie mehr wiederzukehren. Unwillkürlich fragt man nach der Einheit ( unité) der neun Stücke. Fünf zusammenfassende Zwischentitel werden aufgeboten, aber nur deren erster, der Einsatz ins Spiel (enjeu), bedient sich der Metaphorik der Wette. Dass wiederum refrainartig der Glaube (foi) als der gemeinsame Bezugspunkt sämtlicher Zwischentitel auftritt, wird man nicht vorschnell ausgeben wollen als Einheit. Eine solche ist auch nicht angestrebt. Stattdessen wird auf eine Unruhe des Gedankens (une inquiétude de la pensée) verwiesen, die in jeder Studie erneut anbricht (vielleicht sollte man lieber sagen: ausbricht) und im Fortgang, meist als Zweistufigkeit des Verfahrens mit (1) (2), (I) (II) oder (A) (B) markiert, nicht etwa zur Beruhigung kommt, wie man denken sollte und in klassischen Anapausis-Lehren vorgesehen ist. Im Gegenteil: Sobald A. reflektierend auf seine aus Unruhe erzeugte Gedankenbewegung zurückkommt, wird er zu seiner Überraschung dessen gewahr, dass sie noch größer geworden ist. Man könnte es ein stilistisch-rhetorisches Element nennen, wenn es nicht auch und viel mehr ein streng logisches wäre, das sich sowohl exponential wie exponentiell bekundet. Exponential dadurch, dass die Disziplin des Gedankens den parabolischen und hyperbolischen Bewegungen folgt, die die leitenden Begriffe im Modus von Selbstbewegung vollführen; exponentiell, weil Autor und Leser, sofern sie sich ihr aussetzen, sich unversehens selbst versetzt finden, und zwar dorthin, wo sie noch nie waren. In doppeltem Sinn ist das Buch exzessiv. Man müsste es zutiefst spekulativ nennen, wenn es nicht höchlichst praktisch wäre. Es ist somit durch und durch exzessiv. Dabei mag dem Leser die Wendung dienlich sein, die Pascals Termini infini und rien nehmen. Je mehr der Leitbegriff einer Einzelstudie – tentation, espérance, désir, pauvreté tout court und, allen voran, Dieu, pour le dire en un mot – zu sich gelangt, nur dies, desto mehr ist zu beobachten, wie die von Pascal unendlich getrennten infini und rien sich unendlich annähern, berühren, bis sie – bei glasklarem Verstand: topp (d’un coup) – ihre Merkmale tauschen und in eins fallen.
Ein ungewöhnlich feinvernetztes Buch, und zugleich eins, das in ganz ungewöhnlicher Weise dem Netze entrinnt. Legt man es, eine Zeitlang, aus der Hand, kommt wieder das farbige Umschlagbild nach oben. Mit seinem Stein-in-Stein, kleines Steinhaus, klebend am überwältigenden, stets größeren Steinmassiv, erinnert es an die Erfahrung, die Paul Celan als Jüngling in der (damals unversehrten) Kathedrale Notre Dame zu Paris gewann. »Da geschieht es nun« – schreibt er 1938 – »daß man zwar nicht von seiner Bangnis erlöst wird, nein, im Gegenteil, es ist so, daß man eine größere Bangnis fühlt, eine geläuterte Angst, die ein Größerer als wir trägt.«