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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

696–699

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schnurrenberger, Matthias

Titel/Untertitel:

Der Umweg der Freiheit. Falk Wagners Theorie des christlichen Geistes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XI, 337 S. = Dogmatik in der Moderne, 25. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-156992-0.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Am Ende der Arbeit steht ein ernüchterndes Urteil: In Falk Wagners idealistischem Ansatz habe »die erlösende Dimension des christlichen Glaubens […] keinen Ort«; zwar seien Wagner die Kategorien des »ganz Anderen« oder des »schlechterdings Neuen« durchaus bekannt gewesen, aber durch die einseitige Betonung menschlicher Selbsttätigkeit komme nicht in den Blick, dass der Glaube an Gott »unableitbar« bleibe und ein unverdanktes Geschenk sei (312 mit Anm. 307). Und so schließt diese Göttinger Dissertation von Matthias Schnurrenberger, gegenwärtig Vikar in der Nähe von Greifswald, mit diesem very unhappy ending. Doch hätte die theologische Arbeit nicht genau an diesem Punkt zu beginnen?
Was hier vorliegt, ist eine sehr kenntnisreiche und exegetisch geduldige Arbeit, die zugleich bestens lesbar in Falk Wagners theologischen Entwurf als Ganzen einführt. Sie bedenkt das Verhält-nis von Gott und Mensch in der stufenweisen Aufhebung einer wesentlichen Asymmetrie zwischen beiden (167.170 f.). Dabei werden die wesentlichen Kontexte fruchtbar eingebracht, Wagner kommt gut dosiert zwischen Zitat und Paraphrase zu Wort und insbesondere der »dialektische« Anlaufweg zwischen Religionstheologie einerseits und ihrem offenbarungstheologischen Pendant andererseits wird sorgsam beschritten. Zudem geht S. von drei interpretatorischen Prämissen aus, die sich im Vollzug der Lektüre auch bewähren: erstens, dass Wagner »synchron« zu lesen sei und Diskontinuitätsthesen, die etwa ein eigenständiges Spätwerk als Religionstheorie vorsehen, abzuweisen seien (33; konsequenterweise spielt die Religionssoziologie von G. Dux kaum eine Rolle); zweitens, dass es nicht primär darum gehe, inwiefern Wagner »fair« mit seinen Gesprächspartnern umgegangen sei, sondern vielmehr darum, wie sich seine Art der (oft polemischen) Aneignung dieser Stimmen theoretisch auswirke; und, drittens, dass Wagners Werk als Ganzes durch den Begriff der Freiheit als vermittelter Selbstbestimmung aufgeschlüsselt werden könne (1.224; kritisch 301). Dadurch setzt diese Promotionsschrift im Kontrast zu alternativen Wagner-Lektüren (etwa Ch. Danz, K. Mette, M. Murrmann-Kahl) eigene Akzente der Interpretation.
Die Arbeit besteht aus vier Teilen, wobei das Herzstück der dritte ist, auf den die beiden ersten – gleichsam hegelianisch – zulaufen. Zunächst wird nochmals die »kopernikanische Wende« der Theologie in Erinnerung gerufen (65), so dass dogmatisch vom re-ligiösen Selbstbewusstsein auszugehen und dabei der Glaube als buchstäblich »gegenständliches« Wissen zu verstehen sei, d. h. selbst zu seinem eigenen Gegenstand gehöre (50) und schließlich Gottes Existenz nicht unabhängig von diesem Gegenstandsglauben im Literalsinn zu denken sei (53). Wagner kritisiere insbesondere an Schleiermacher die Vereinseitigung des Für-Bezugs, ohne einen objektiven Gottesgedanken fassen zu können (99 f. mit Anm. 323). Im darauffolgenden Teil wird Wagners Umgang mit der strukturellen Gegenseite verhandelt, die nun als Komplement – nicht: Kompliment – der Religionstheologie erscheint. Während diese die Aseität Gottes nicht denken könne, mache sich Barth der Entautonomisierung des Menschen schuldig; die Reduktion des Gottesgedankens zum bloßen Artikulationsgeschehen auf der einen Seite korrespondiere mit der Degradierung des Individuums »zum anonymen Rollenträger« auf der anderen (310; auch 127.137). Beide Seiten aber teilten dasselbe Freiheitsverständnis der Herrschaft (116), nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Deutlich aber wird, dass – trotz aller Drastik in der Wagnerschen Abrechnung mit der »Wende-Theologie« (besonders in den späten Metamorphosen, dort besonders 10 f.58) – seine theologische Nähe gerade nicht bei Schleiermacher, sondern in der Barthianischen Trinitätstheologie zu suchen ist! Nicht nur die reformierte Souveränität Gottes kommt so gegen die Religionstheologie zur Geltung, sondern die begriffslogisch verstandene Lehre von der Dreifaltigkeit wird nun zum Strukturmoment einer nachtheistischen Gottes- und Geistlehre promoviert (siehe den Untertitel). Das ist erst einmal gegen jede »liberale« Inanspruchnahme von Wagners Entwurf festzuhalten.
Damit ist nun der Kern der Arbeit vorbereitet, der sich in fünf Elemente zergliedern lässt: (i) der Gegenstand, auf den sich »Gott« beziehe, sei nach Wagner ein Gedanke (164); (ii) Gott existiere demnach allein im Denken, d. h. im Gedacht-Werden durch jemanden anderen, mithin lasse er sich denken als seine eigene Offenbarung (165.225); (iii) für Gott ›selbst‹ bedeute dies, dass er sich in Selbstteilung (173) an ein anderes als sich selbst veräußern müsse; dieses Geschehen werde (iv) in der Christologie (vor allem in der Lehre von den Ämtern) und der Trinitätslehre (vor allem in der Perichoresen-Lehre und der Lehre von der immanenten Trinität; 204) verarbeitet; (v) schließlich sei Gottes Unabhängigkeit und Eigenheit so zu sichern, dass seine Manifestation im Denken des anderen zugleich als seine Selbstmanifestation im anderen Gedanken und somit als Modus von Gottes Selbst-Explikation zu denken sei (220). In summa, cum laude: Gott brauche gerade in seiner Absolutheit den ihn denkenden Menschen als hardware seiner eigenen Selbstentwicklung, wodurch die initiale Asymmetrie zugunsten einer Kopräsenz und Kooperation aufgehoben werde. Der »religiöse Mensch« sei »die Realität Gottes« und Gott das Absolute im menschlichen Selbstverständnis (so 220; s. auch 170 f.224).
Einmal abgesehen davon, dass S. den konstitutiven Status des idealistischen Vokabulars nirgends zum Thema einer begriffslogisch gelesenen Trinitätslehre macht und auch unangetastet lässt, inwiefern Wagners kritische Synthese und reziproke Korrektur von Schleiermacher und Barth über diese These und Anti-These hinausführt, erfordern die Elemente (i) bis (v) eine ernsthafte Diskussion. Das möchte ich hier zumindest andeuten. Erstens (mit Blick auf [i]): Wagners Entwurf ist so etwas wie ein »nonkognitiver Kognitivismus« – was soll das heißen? Nonkognitiv, weil es nicht mehr um Propositionen mit externer Referenz geht; Kognitivismus, weil es ausschließlich um ›Gott‹ als Gedanken geht. Selbst wenn man dies einmal akzeptiert und zugleich, mit Hegel, über einen prozessuralen Begriff von »Begriff« und ›Gedanke‹ verfügt, droht dieser Zugang alle sonstigen Dimensionen religiösen Glaubens auszuschließen. Zum Beispiel: Kann Gott auch gefühlt werden? Und ist die humane Entsprechung zu Gottes Selbstexplikation dann eine spezifische Emotion? (N. Slenczka wird zwar genannt, aber dessen Arbeiten zu einer »Theologie der Gefühle« wären hier sicher bedenkenswert gewesen, oder auch die von R. Barth, I. Vendrell Ferran und M. Wynn; nicht-deutsche Literatur wird leider fast überhaupt nicht berücksichtigt). Zweitens (mit Blick auf [iv]): Gott setze sich dem Menschen aus und existiere gleichsam ekstatisch am/im anderen seiner selbst – wodurch sich die Frage aufdrängt, wie sich dieses anhypostatische Entäußerungsgeschehen zwischen Gott und Mensch zur »intra-divinen« Dynamik zwischen Gott und Sohn verhält; anders gefragt: Wozu ist hier eine christologische Aufbereitung und trinitätstheologische Begleitung nötig, wenn naheliegt, Gedanke und Gedachtwerden ohne weitere Zutaten der Dogmatik denken zu können? Hinzukommt, dass Gott zwar vorbehaltlos bei uns sein soll (und nichts ›hinter‹ diesem Entäußerungsgeschehen zu suchen sei), aber an einer immanenten Trinität festgehalten wird, die – wie der Aufbau der Arbeit dokumentiert – von der heilsökonomischen Dimension (behandelt im nachklappenden letzten Teil zur Pneumatologie und Sozialethik) getrennt wird. Drittens (mit Blick auf [v]): Hatte Wagner wirklich »mehr« zu Gottes Unabhängigkeit zu sagen als der Barth von KD I/2? Dass das Denken Gottes (im doppelten Genetiv) wirklich Gottes sei, bleibt doch eine Aussage des Glaubens – in all seiner Ambiguität und Anfechtung. Eine dekonstruktivistische Gegenlektüre der Wagnerschen Vereindeutigungen und Begründungsbemühungen wäre weiterführend gewesen, zumal sein Zugang zur Anwendung auf sich selbst einlädt: Wenn Gott im Gedacht-Werden Gottes Gott ist, muss nach dem Modus genau dieses Denkens gefragt werden; die spezifische Art einer an Hegel und Barth geschulten Trinitätstheologie würde dann – analog zur religiösen (Sprach- und Bild-)Praxi s– Gottes Sein gerade nicht unberührt lassen, sondern »in, mit und unter« diesem Geflecht an Doktrinen wäre er »mitten unter uns«.
Die Theologie würde dann (mit)bestimmen, dass und wie Gott ist, indem sie ihn denkt. In einer harmlosen Lesart drückt das lediglich aus, was Theologinnen – und sicher auch Religions-Theologen– bereits tun; in einer geradezu unerhörten Lesart drückt dies aus, dass Gott auf sein Gedachtwerden durch die Theologie angewiesen ist. Dies aber gliche einer neuen Form der »Gott-ist-tot-Theologie«, die S. in seiner – trotz aller Anfragen – lesenswerten und lehrreichen Studie wohl nicht im Sinn hatte.