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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

694–696

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schiefen, Fana

Titel/Untertitel:

Öffnung des Christentums? Eine fundamentaltheologische Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des Christentums nach Jean-Luc Nancy. M. e. Geleitwort v. J.-L. Nancy.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2018. 320 S. = ratio fidei, 64. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-7917-2718-9.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Die 2018 erschienene Buchpublikation stellt die Dissertationsschrift der katholischen Theologin Fana Schiefen dar. Sie wurde in den Jahren 2011 bis 2017 während einer Assistentur am Seminar für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster unter Betreuung von Jürgen Werbick geschrieben. Die Vfn. ist derzeit ebendort Vertretungsprofessorin. In ihrem Buch beschäftigt sie sich mit der »Dekonstruktion des Christentums« als einem Leitmotiv des Werkes des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy (geb. 1940) und stellt die Frage nach der fundamentaltheologischen Bedeutsamkeit und Anschlussfähigkeit seiner Denkform. Diese Frage ist riskant, da die »Dekonstruktion des Christentums« von ihrem »Erfinder« s elbst als Aufforderung zum Rückzug der Theologie sowie zum Austritt aus der Gläubigkeit der Religion verstanden worden ist. Nancys Interesse gilt dem Christentum als einer Denkbewegung der Öffnung des Sinns und des Austritts aus seiner Totalisierung, aber nicht der christlichen Religion und Theologie als Formen der Verkennung ebendieser Bewegung. Die Vfn. sieht jedoch genau hierin die Chance für den Aufbruch einer Fundamentaltheologie, die unterscheidend offenlegt und bewusst kritisch bearbeitet, was Theologie und Philosophie verbindet und scheidet.
Seit etwa fünfzehn Jahren liegen international verschiedene philosophische Einführungen und Gesamtdeutungen des Werks von Nancy vor, die auch dem Christentum einen zentralen Platz zuweisen. Es ist hingegen das wesentliche Anliegen der Arbeit der Vfn., die theologische Auseinandersetzung mit Nancys Philosophie im deutschsprachigen Kontext zu intensivieren. Das Buch ist dazu mit einem Geleitwort Nancys versehen. Es gliedert sich in sechs Teile und wird durch zwei Ouvertüren ergänzt. Die erste Ouver-türe spürt das Thema einer sich öffnenden Dynamik und Selbstentleerung des Christentums in der Gegenwartskultur und -kunst auf. Die zweite entwickelt die Vision einer sich selbst überschreitenden Fundamentaltheologie, welche sich der »a-theologischen« S icht – Nancys Verschiebung des Denkens des Sinns in den Entzugsmodus – zu öffnen vermag und positionelle Festlegung und Selbstbezüglichkeit vermeidet.
Der Hauptteil des Buches (Kapitel 1–5) enthält eine »normative Rekonstruktion« des Leitmotivs der Öffnung des Christentums aus den Schriften Nancys. Kapitel 1 umreißt das Vorhaben der Vfn., eine zeitgenössische katholische Fundamentaltheologie durch An­knüpfungspunkte an ein dekonstruktives Denkprojekt zu entwickeln. Die Vfn. möchte dabei nicht unkritisch vorgehen und strebt »keine Anpassung der Theologie an dekonstruktives Denken« (20) an. Sie sucht Inspirationen aufzunehmen, aber auch Kritik zu üben, ohne sich als Theologin von einer bestimmten philosophischen Denkform abhängig zu machen. Zugleich warnt sie davor, das unabgeschlossene Werk Nancys zu systematisieren, zu übersetzen und zum Abschluss und damit seine offene und überschreitende Denkstruktur zum Verschwinden zu bringen.
In Kapitel 2 entwirft die Vfn. ein »philosophisches Porträt«. Sie leuchtet zunächst Nancys Denkweg in seinen für das Projekt der Dekonstruktion des Christentums wesentlichen Bezügen umsichtig aus und zeigt seine Verbindungen zu wesentlichen Quellen (Hegel, Freud, Heidegger u. a.), aber auch zeitgenössischen philosophischen Gesprächspartnern (Granel, Lacoue-Labarthe, Derrida u. a.) seines Werkes auf. Ihre Ausführungen gehen dabei weit über die Bestandsaufnahme einer intellektuellen Biographie hinaus und entwickeln erste Thesen zur Rechtfertigung und Näherbestimmung der thematischen Fokussierung des Buches. Sie erweisen das Ansinnen Nancys, eine Bewegung der Dekonstruktion im Innern des Christentums und nicht von außerhalb seiner aufzusuchen, als Leitmotiv seines gesamten Denkens. Zudem werden Klärungen gesucht, was unter der titelgebenden Programmatik einer »Öffnung« des Sinns und dann des Christentums näher zu verstehen sei. Die Vfn. zeigt, dass »Öffnung« als immanente Metaphysikkritik zu verstehen ist, welche der Fundierung der Existenz in einer Totalität des Seins eine Suche nach dem »inneren Außen« entgegensetzt, welches sie später als »Transimmanenz« bezeichnet. Bereits hier deutet die Vfn. eine zentrale These ihrer Arbeit an, nämlich dass Öffnungen zu ihrer Kehrseite stets Trennungen haben, konkret die Trennung des Glaubens von der (monotheistischen) Gläubigkeit der Religion. Damit vermeidet sie es, die Rede von der Öffnung naiv positiv zu werten, und markiert ihre Ambivalenz.
Kapitel 3 erläutert Motive und Gründe, aus denen Nancy sich dem Christentum in seinem Denken zuwendet, und exponiert seine zentrale These einer Autodekonstruktion, einer Selbstzerlegung und -demontage des Christentums. Als movens von Nancys De­-konstruktion des Christentums macht die Vfn. die Konfrontation mit Bedeutungsverlust und Sinnanspruch der Philosophie aus. Auch jenseits des Untergangs und der Transformation der konkreten Bedeutungsgehalte sei Sinn das Element oder Medium, in dem Menschen ein miteinander geteiltes Leben vollziehen. Daher sei am Sinn festzuhalten. Nancys Theorie des Sinns sehe diesen auf eine Alterität angewiesen, welche durch ihr Entzogensein nicht Sinnfülle, sondern Offenheit des Sinns, eine »Transzendenz in der Immanenz« stifte. Diese Öffnung sei stets vor abschließenden Dy­namiken und Zuschreibungen zu bewahren.
Kapitel 4 erörtert, warum das Christentum Nancy zufolge im Zustand seiner eigenen Überholung sei, und erörtert damit eine alternative These der Säkularisierung, welche diese als Aufschließung und nicht als Aufgabe des Christentums deutet. Sodann unternimmt die Vfn. eine theologische Spurenlese und ordnet Nancys Dekonstruktionen dogmatischen Topoi von der Christo-logie bis zur Schöpfungslehre und Ekklesiologie zu. Abschließend werden wesentliche Denkfiguren und -elemente seiner Dekonstruktion des Christentums einzeln vorgestellt.
Kapitel 5 und 6 unternehmen den Versuch einer konzeptionellen Antwort auf Nancys Projekt aus theologischer Perspektive. Die Vfn. fragt zunächst im Modus der Selbstermächtigung nach Glaubwürdigkeit und Deutungsmacht der Theologie angesichts ihrer Dekonstruierbarkeit und entwickelt sodann den wegweisenden Gedanken einer konfliktiven und paradoxen Traditionskultur des Christentums. Diese mache die Dekonstruktion allererst möglich. Die Dekonstruktion sei als eine »Aushöhlung der christlichen Ge­halte« zu begreifen, welche die Theologie einerseits nicht wollen könne und die sie andererseits als eine Gestalt der »misslingenden Wiederholung« selbst als einen Modus der Tradierung des Chris-tentums begreifen könne: Nancy trage die christliche Narration weiter, indem er sie forttrage. Theologie werde durch Nancys Denken in ihrem Verlangen nach Substantiierung und Repräsentation ihrer Wahrheit dezentriert und verunsichert, aber zugleich auch bestätigt und fortgeschrieben.
Dieses Resümee irritiert, da die Vfn. selbst bekennt, dass Nancy mit einem gewissen Recht eine katholizismusfeindliche Haltung zugeschrieben werde (122). Ihre Zuflucht zum katholischen Motiv einer starken Kontinuität von Tradition in Tradierungen kann demnach nicht wirklich überzeugen. Wertvoll hingegen ist ihre ebenfalls artikulierte Skepsis an Nancys Projekt, welche die Kritik an einer ins Leere gehenden Dezentrierungsbewegung der Philosophie zumindest andeutet. Die Vfn. bringt zum Ausdruck, dass die Reduktion auf den bloßen Entzug, wie Nancy sie vorschlägt, durch eine Ausschließung begleitet sein könnte, die das »Wovonher« und das »Woraufhin« der Beziehung und des Entzugs ausblende. De­konstruktives Denken stehe damit selbst vor der Gefahr einer ziel- und prinzipienlosen Verabsolutierung seiner selbst und einer (un­möglichen) Abschließung gegen das Beharren von Ideen und Dynamiken. Genau mit dieser Erkenntnis weist aber die Arbeit der Vfn. bereits über sich selbst hinaus in ein Denken nach der Dekonstruktion – in dem Antwort auf und Abschied von ihr bereits von einer neuen Ausgangskonstellation her erfolgen können.
Die Studie der Vfn. zeichnet sich durch eine außergewöhnlich umsichtige und feinsinnig-reflektierte Herangehensweise an ihr Thema aus. Es geht ihr nicht um eine Systematisierung der Philosophie Nancys, sondern um deren thematische Verdichtung auf einen a-/theologischen Kern. Der Duktus ihrer Sprache ist gekennzeichnet durch offenes ehrliches Fragen und das Ringen um eine echte Antwort. Damit zeigt die Vfn. nicht nur die »Selbstüberschreitungskraft« des Denkens des Christentums nach Nancy, sondern auch die »Selbstüberschreitungskraft« ihrer eigenen Fundamentaltheologie an. Mit ihrer Arbeit setzt sie neue Maßstäbe für die (deutschsprachige) theologische Auseinandersetzung mit der Philosophie Nancys und ermöglicht es, verschiedene bereits vorliegende Ansätze dazu kritisch gegenzulesen und tiefergehend zu be­werten. Weitere Arbeiten der Vfn. darf die akademische Leserschaft daher gespannt erwarten.