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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

691–694

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sass, Hartmut von [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019. 287 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-7873-3532-9.

Rezensent:

Heiko Schulz

Der Sammelband geht auf eine Veranstaltungsreihe zum Thema Perspektivismus zurück, die unter der organisatorischen Leitung des Bandherausgebers Hartmut von Sass im akademischen Jahr 2016/17 am Zürcher Ludwik-Fleck-Zentrum für Wissenschaftsphilosophie stattfand. Der Aufteilung des Bandes in drei Hauptabschnitte (Perspektivismus als epistemisches, als hermeneutisches und als ethisches Problem) folgt dabei der Anordnung der Themen in der ursprünglichen Vorlesungsreihe, da mit den drei genannten Aspekten nach Meinung des Herausgebers thematisch bzw. theoretisch maßgebliche Problemfelder in den Blick genommen werden: Der vielbeschworene Verdacht, dass am Ende alles nur »eine Frage der Perspektive« (9) sein könnte, stellt nämlich angesichts seiner scheinbar unausweichlich relativistischen Implikationen (vgl. 13 f.) vor allem im Blick auf die Möglichkeit objektiver Erkenntnis, subjekt-, epochen- und kulturübergreifenden Verstehens sowie universaler Handlungsnormen vor besondere Herausforderungen.
Um Letzteren durch Entkräftung des entsprechenden Verdachtes zu begegnen – denn eben darin besteht ein Kernziel der einführenden Überlegungen (vgl. 10 u. 29) –, nimmt der Herausgeber eine Reihe begrifflicher und theorietypologischer Präzisierungen vor. Demnach gehen in den Begriff der Perspektive bzw. in den der (Möglichkeit der) Perspektivenübernahme sechs Grundbedingungen ein (vgl. 16 f.): (a) ein subjektives (keine Perspektive ohne Trägersubjekt); (b) ein indexikalisches (keine Perspektive ohne Standortbindung); (c) ein dynamisches (keine Perspektive ohne Möglichkeit der Veränderung, Korrektur oder Ersetzung); (d) ein objektives (keine Perspektive ohne [etwas als] realen Gegenstand); (e) ein pluralistisches (keine Perspektive ohne mögliche Alternative/n) sowie (f) ein konditionales (keine Perspektive, die die Unhintergehbarkeit von Perspektivität überhaupt beweist). Dabei legt bereits die irreduzibel triplizitäre Struktur perspektivischen Verstehens (jemand versteht etwas als etwas durch etwas: vgl. 18), d. h. die fundamentale Einheit der Für-, Durch- und Als-Struktur von Perspektivität, nahe, dass Letztere trotz der Grundbedingungen (a), (b), (c) und (e) realistisch interpretiert zu werden verlangt und erlaubt – nämlich im Sinne von (d) und (f): Jede Form von Perspektivität bzw. jeder perspektivische Erkenntnis-, Verstehens- oder Entscheidungsvollzug setzt, als solcher, »etwas Nicht-Perspektivisches voraus, d. h. Elemente im epistemischen, hermeneutischen oder moralischen Arrangement, die faktisch oder heuristisch feststehen« (20; Hervorh. H. S.).
Dieses Zwischenergebnis dient aber nicht nur als argumentative Grundlage für eine realistische Interpretation des (gleichwohl konsequent pluralistisch verstandenen) Perspektivismus; es dient zugleich dazu, dessen starke Variante zu plausibilisieren. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Perspektivismusbegriff auf mehr und anderes referiert als das bloße Einnehmen einer bestimmten Perspektive – oder deren reflexive Bewusstwerdung; er bezeichnet vielmehr eine spezifische Doktrin (vgl. 12), wobei zwei Grundtypen, ein stärkerer und ein schwächerer, zu unterscheiden sind: Ersterer reserviert das Perspektivismusetikett für diejenigen Fälle, die mit konfligierenden bzw. de facto »unvereinbaren Perspektiven konfrontieren« (28; Hervorh. H. S.), und repräsentiert so gesehen einen echten Pluralismus. Letzterer läuft auf einen bloßen »Aspektivismus« (ebd., im Orig. kursiv) hinaus, der als solcher »nur oberflächlich als plural erschein[t] und faktisch einem Monismus das Wort rede[t], sofern alle aspektischen Perspektiven letztlich miteinander vereinbar seien« (ebd.; Hervorh. H. S.). Von Sass zeigt dabei auf nominell Kierkegaardschem Wege, d. h. von der durch eine Reihe paradigmatischer Fälle (vgl. 29 f.) indirekt nahegelegten »Negation des Perspektivischen« (28, Hervorh. H. S.) her, dass der starken Theorievariante der Vorzug gebührt: Nicht nur ist mit echt inkommensurablen oder (z. B. angesichts moralischer Dilemmata) de facto unversöhnlichen und nicht-synthetisierbaren Perspektiven zu rechnen, sondern auch und vor allem mit Fällen, die die prinzipiellen Grenzen des Perspektivischen dadurch sichtbar machen, dass sich hier »Fragen der Perspektive nicht nur nicht stellen, sondern eben dies zu tun, geradezu seltsam erscheinen müsste« (30). In diesen Kontext gehört auch das notorische Selbstanwendungsproblem: Wenn alles eine Frage der Perspektive – und sei es einer prinzipiell als universal zu behauptenden – wäre, »träfe dies auch für eben diesen Satz zu« (ebd.). Zugleich führt die starke Lesart zu der Einsicht, dass der Perspektivismus allenfalls prima facie und jedenfalls nicht ausschließlich eine epistemische Position darstellt, sondern zugleich »ein Narrativ der Offenheit, Toleranz, Anerkennung und Empathie« (33) – mithin auch eine »eminent politische Dimension« (ebd.) – einschließt.
Die hier aufgrund ihrer bandübergreifenden Perspektive ausführlicher dargestellte Einleitung ist zweifellos nach Vorliegen aller übrigen Beiträge verfasst worden – sie reflektiert und bündelt jedenfalls, mit teilweise expliziten Verweisen (vgl. 14.19.21.23 f.27 f.32), eine Reihe von Themen und Problemstellungen, die in den nachfolgenden Texten en détail diskutiert werden.
So unterscheidet Markus Wild im Blick auf Nietzsche eine den Forschungsdiskurs dominierende, epistemologische von einer biologischen Deutung des Perspektivismus (EDP versus BDP, vgl. 38), wobei er selbst für Letztere votiert: Folgt man Nietzsche, so ist demnach nicht »die Erkenntnis […] perspektivisch, sondern die Affekte und Organe von Lebewesen sind es« (58). Auch Niko Strobach beruft sich auf Nietzsche, und zwar mit der nur auf den ersten Blick kontra-intuitiven These, dass die »Metapher der Perspektive […] den Realismus voraus[setzt]« (61): Nietzsche benutzt das Wort »Perspektive« »erfolgreich metaphorisch. Denn Nietzsche ist Realist« (62; Hervorh. H. S.). Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch grundsätzlicher argumentiert Holm Tetens, der in der Sache freilich unmittelbar an Strobach anknüpft. Seine Argumentation führt zu dem Ergebnis, dass Perspektivismus und Realismus »bestens miteinander vereinbar« (91) sind, genauer: Ersterer »ist ein Realismus«, und zwar einer, »der nicht erkenntnistheoretisch naiv daherkommt, sondern sich auf der Höhe wichtiger Einsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie befindet« (ebd.; Hervorh. H. S.).
David Webermann leitet die zweite, hermeneutisch orientierte Gruppe von Texten ein: (Auch) seiner Auffassung nach ist der Perspektivismus ein Pluralismus, dessen Gegenposition »ein Monismus oder Absolutismus« (95). Drei Grundformen (anarchisch, pragmatisch, hermeneutisch) sind dabei zu unterscheiden, wobei Webermann die dritte präferiert – unter anderem deshalb, weil sie (und sie allein) nach seiner Meinung ein epistemisch gravierendes Problem zu lösen vermag, das er unter Berufung auf David Wiggins »das Kombinatorische Dilemma« (109) nennt. Der erzähltheoretische Beitrag von Andreas Mauz setzt beim literarisch vertrauten Phänomen des »multiperspektivischen Erzählen[s]« (114) – z. B. dem einer literarischen Figur im Unterschied zu dem des Erzählers – an; diskutiert wird im Folgenden der narratologisch zentrale Unterschied zwischen Deskription und Interpretation im Umgang mit jener Perspektivenvielfalt, wobei Mauz für eine Regel argumentiert, wonach in direkter Proportionalität zur Komplexität der Perspektivenverhältnisse der Umfang jener Elemente sukzessiv zunimmt, die nicht mehr »rein beschreibend erschließbar« sind, sondern zur – interpretatorischen – »Evaluation nötigen« (152). Der einzige im engeren Sinne religions- (hier genauer: gebets-)theoretische Beitrag des Bandes stammt von Johanna Breidenbach. Auch er gehört freilich in dessen Hermeneutikabschnitt: Denn das Gebet hat Breidenbach zufolge am fundamentalen »Perspektivenwechsel vom Unglauben zum Glauben« (155) und damit an jener hermeneutischen ›Totalperspektive‹ teil, »die nicht etwas sieht, was sonst keiner sieht, sondern alles anders sieht« (ebd.). So bestimmt vermittelt das Gebet zum einen zwischen Zweifel bzw. Anfechtung und Glaube; zum anderen wird im Zuge der – aktiv-passiven – Transformation des Beters im Gebetsvollzug dessen Sehen Gottes zugleich »ein Schauen, contemplatio« (153), die als »hörendes Schauen« (181) den Hörsinn in sich aufnimmt.
Veronique Zanetti eröffnet den Kreis der vier abschließenden Texte, die den Problemkomplex Perspektivismus ›aus ethischer Sicht‹ diskutieren. Zanetti unterscheidet im Blick auf das Problem der ›schmutzigen Hände‹ (= Situationen, in denen jede verfügbare Handlungsoption moralisch kompromittiert) »moralische[] Konflikte« von echten »[m]oralische[n] Dilemmata« (186): Letztere sind im Unterschied zu Ersteren zwar prinzipiell unlösbar, so dass »ihre dilemmatische Struktur nicht von der Einnahme einer bestimmten Perspektive auf einen Sachverhalt« (186; Hervorh. H. S.) abhängt; sie kompromittieren aber – eben deshalb – das Handlungssubjekt auch nicht moralisch. Der Beitrag von Anton Leist setzt bei der Diagnose eines paradoxen Zugleich zweier in sich gegenläufiger Grundtendenzen in der Lebensform der westlichen Welt an: Pluralisierung und Konformisierung. Auflösbar ist das Paradox, wenn man mit der klassischen Wertetheorie voraussetzt, dass es sich um »Phänomene auf zwei verschiedenen begrifflichen Ebenen« (214) handelt: Während »der Pluralismus eine Eigenart unserer Werturteile ist, stellt sich Konformität über den sozialen Einfluss auf unsere Wünsche und Gefühle her« (ebd.). Immerhin eröffnen demokratische Gesellschaften ihren Mitgliedern den Weg der Autonomie, d. h. den Weg in ein – man mag ergänzen: perspektivisch – »offenes Spiel« (242) mit einer Pluralität eigenverantwortlich, aber nicht zwangsläufig irrational gewählter Werte, durch die man dem Konformitätsdruck entkommen kann.
Ethisch normative Interessen verfolgt auch der Text von Christine Abbt. Es geht um die Frage, unter welchen Bedingungen aus dem bloßen Vollzug von Perspektivität bzw. von Perspektivenwechseln eine »Anerkennung von Perspektivität als normative[m] Wert« (243; Hervorh. H. S.) und d. h. zugleich eine Haltung erwachsen kann, die »Pluralismus bejaht« (ebd.). Die im Rückgang auf Diderot, Hume, Kant und Rorty profilierte Antwort lautet, dass »eine Transformation der Augen, die nicht nur Perspektiven einnehmen, sondern plura-listisch werden, […] nur im Zusammenspiel mit einer gesteigerten Rationalität […], einer fortgesetzten selbst-kritischen Prüfung zu erreichen und zu begründen« (261) ist. Rein hermeneutische Interessen scheint demgegenüber der Text von Dieter Thomä zu verfolgen, der im Anschluss an Nietzsche einen Perspektivismus 1.0 (= »gleichgültige[] Koexistenz verschiedener Sichtweisen«, 285) und 2.0 (= Behauptung einer »fruchtbare[n] Komplementarität solcher Sichtweisen«, ebd.) unterscheidet. Im Rekurs auf Nietzsche und Mill wird jedoch anschließend das Konzept eines »agonale[n] Perspektivismus 3.0« (ebd.) eingeführt, der damit rechnet, dass es früher oder später unweigerlich zum (auch und vor allem: politischen) »Streit« (ebd.) zwischen »hegemonialen« und »dissidenten« Sichtweisen kommt. Thomä leitet aus diesem zunächst rein deskriptiven Befund das normative Programm eines »politischen Perspektivismus« (ebd.) ab, der einerseits die Bereitschaft der bestehenden Ordnung voraussetzt, »sich dem Blick von außen auszusetzen«, andererseits die des »Störenfrieds, sich nicht rechthaberisch in seinem Eigensinn zu sonnen, sondern sich dem Druck der Rechtfertigung zu stellen« (ebd.).
Von Sass räumt bereits im Vorwort des Bandes ein, dass es über die drei dort behandelten hinaus »selbstverständlich […] weitere, hier oft nur angedeutete Perspektiven [!]« (7) auf dessen Leitthema gibt. Dadurch wird jener oft gehörten und gelegentlich penetrant besserwisserischen Kritik, die auf dem (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fehlen einschlägiger Themen und Diskurse beharren zu sollen meint, von vornherein der Boden entzogen. Obwohl ich den Band insgesamt für lesenswert und seine einzelnen Beiträge für durchweg gelungen bzw. systematisch anregend halte, kann ich der Versuchung des Beckmesserischen an dieser Stelle nicht völlig widerstehen. Erstens scheint mir die sprach- und/oder zeichentheoretische Dimension des Themas unterbelichtet: »Die Wortwerdung macht den Gedanken perspektivisch« (F. Ebner) – jedenfalls ist dieser Vorgang ohne sie schwer zu begreifen und in ihr offenbar immer schon vorausgesetzt. Zweitens wäre m. E. in (erkenntnistheoretischer und/oder) metaphysischer Hinsicht zumindest ein exemplarischer Beitrag zur »›aperspektivischen‹ Gegenposition – z. B. der von Jean Gebser – wünschenswert gewesen. Schließlich und drittens kommt abgesehen von gelegentlichen Seitenblicken (26.30 f.57 f.97.214) sowie einem einzigen einschlägigen Text (153–181) die gegenwärtig nicht nur in politischer Hinsicht brisante Verknüpfung von »Perspektivität und Religion« zu kurz. Insbesondere vor dem Hintergrund der perspektivitätstheoretisch markanten Diastase von Wahrheits- und Behauptbarkeitsbedingungen (ein konsequenter Perspektivismus kann nur wahr sein, wenn seine Verfechter darauf verzichten, das zu behaupten) hätten sich, vermittelt über die Bestimmung der Eigenart und Funktion/en dessen, was man »epistemische Demut« (M. Fisch) nennen kann, beziehungsreiche Anknüpfungspunkte für die Theorie und Praxis interreligiöser Dialoge ergeben.