Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

688–691

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Riedweg, Christoph, Horn, Christoph, u. Dietmar Wyrwa [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Antike. Bd. 5/1–3: Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike. In 3 Teilbänden.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2018. LXXIX, 2599 S. = Grundriss der Geschichte der Philosophie (Überweg). Lw. EUR 360,00. ISBN 978-3-7965-2629-9.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Für die philosophische Allgemeinbildung steht im Mittelpunkt der antiken Philosophie die klassische Periode mit Platon und Aris-toteles als den wichtigsten Autoren. Daneben weiß man von den Vorsokratikern, die Martin Heidegger besonders schätzte, und ist sich zumindest bewusst, dass die hellenistischen Schulen, vor allem Stoiker und Epikureer, von ebenfalls großer Bedeutung waren. Die darauffolgenden Jahrhunderte bis zum Ende der sogenannten Spätantike, die man heute meist mit der Araberinvasion des 7. Jh.s enden lässt, sind bis heute in ihrem philosophischen Ertrag wenig bekannt, und die Bezeichnung Neuplatonismus, unter der viele ihrer Denker behandelt werden, gibt anscheinend denen Recht, die hier vor allem das Aufsehen zu den Autoritäten der Vergangenheit und das unoriginelle Verwalten früherer Leis-tungen gesehen haben. Dieser Sicht der Dinge entspricht es, dass zahlreiche Darstellungen der antiken Philosophiegeschichte diese Epoche eher als einen Wurmfortsatz der kreativen Phase des griechischen Denkens und als eine Vorbereitung zukünftiger Entwicklungen in Ost und West denn als eigenständig in sich wertvollen Teil der Philosophiegeschichte behandeln.
Man kann freilich die Bedeutung der spätantiken Philosophie auch gänzlich anders beschreiben. Blickt man nämlich auf die Rezeption antiken Denkens, sei es in der arabischen Welt seit dem 9. Jh., sei es im westlichen Mittelalter, oder sei es schließlich in der Neuzeit bis zum 19. Jh., dann lässt sich leicht zeigen, wie dominant spätantike philosophische Fragestellungen, Ideen und Deutungen in all diesen Epochen waren. Denn man las selbst die Texte der klassischen Philosophen durch die Brille ihrer späteren Leser, deren gründliche Kommentare bei Weitem den umfangreichsten Teil der erhaltenen philosophischen Literatur der Antike ausmachen; für Vorsokratiker und hellenistische Autoren, deren Werke zumeist verloren sind, boten die spätantiken Schriften oft gar die einzige Informationsquelle. Hinzu kam ein weiteres Anliegen, das insbesondere für europäische Gelehrte zwischen dem 15. und dem 18. Jh. von zentraler Bedeutung war: Spätantike Texte boten einen Schlüssel – oder schienen einen solchen zu bieten – für eine Synthese der klassischen griechischen Tradition mit den Lehren des Christentums, die für das frühneuzeitliche Bildungsideal von fundamentaler Bedeutung war.
In dem Versuch, diese Synthese zu reaktivieren, lag freilich auch ein Grund für das rapide Ende des Deutungsmonopols, das spätantike Autoren für eine so lange Zeit innegehabt hatten. Es ist nämlich kein Zufall, dass erste Beobachtungen über die Differenz zwischen dem spätantiken Neu-Platonismus und dem Denken der klassischen Epoche im Zusammenhang des berühmten Streits um den sogenannten Platonismus der Kirchenväter gemacht wurden. Für diejenigen, die in der platonisch-christlichen Synthese ein theologisches Problem sahen – wie etwa der große evangelische Kirchenhistoriker Lorenz von Mosheim im frühen 18. Jh. –, waren diese historischen Diskontinuitäten wichtige Indizien für die In­fragestellung der seinerzeit prägenden Sicht auf die Antike.
Etwas vereinfacht kann man sagen, dass aus diesem Impuls dann das wissenschaftliche Paradigma entstand, dass bis vor Kurzem weitgehend intakt geblieben ist: Die Philosophiegeschichte rekonstruiert die klassische Philosophie aus sich selbst heraus und im Wesentlichen ohne Rückgriff auf spätantike Auslegungstra-ditionen. Gleichzeitig operiert sie weitgehend losgelöst von der Patristik, die ihrerseits die Entwicklung der christlichen Theologie als eines religiösen Denkens begreift, das zwar in Wechselwirkung mit philosophischen Entwicklungen, aber nicht als Teil dieser Ge­schichte interpretiert wird.
Man kann den nun vorliegenden umfassenden 5. Band der Philosophie der Antike im neuen Überweg, der die »Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike« zum Gegenstand hat, als einen Versuch beschreiben, die Einsichten der älteren Tradition aufzugreifen, ohne die Erkenntnisse der Forschung des 19. und 20. Jh.s aufzugeben. Schon der Umfang spricht seine eigene Sprache: In drei Teilbänden werden dem Leser auf ca. 2600 Seiten Informationen zur Philosophie dieser Jahrhunderte geboten. Ein nicht geringer Teil dieser Seiten ist von umfangreichen Bibliographien gefüllt, die für den Benutzer demonstrieren, dass das Werk eine Neuausrichtung der Forschung repräsentiert, die sich zumindest seit den 90er Jahren vollzogen hat. Wichtige Fachliteratur liegt auf Englisch, Französisch und Italienisch vor; die Arbeit der Herausgeber und ihrer über fünfzig Autoren macht deren Einsichten nun in bislang nicht dagewesener Weise für deutschsprachige Leser zugänglich. Hinter den dürren Zahlen steht ein Mammutunternehmen, zu dessen Fertigstellung man Herausgebern und Mitarbeitern gratulieren muss.
Das Werk ist in insgesamt sechzehn Kapitel von sehr unterschiedlichem Umfang eingeteilt. Innerhalb der einzelnen Kapitel, die sowohl chronologisch als auch systematisch strukturiert sind, geben einzelne Abschnitte Auskünfte über eine Vielzahl von Denkern der acht Jahrhunderte, die hier abgedeckt sind. Neben einem umfangreichen Überblickskapitel, das von den Herausgebern verfasst wurde, gibt es immer wieder einleitende Abschnitte, die wesentliche Gesichtspunkte für eine bestimmte Teilepoche oder eine besondere Gruppe von Autoren zusammenfassen. Dabei ist die Auswahl bewusst weit gefasst. Der Leser findet demnach nicht nur Abschnitte zu bekannteren und unbekannteren Mitgliedern der verschiedenen philosophischen Schulen, sondern er wird auch mit in die Philosophie hereinreichenden Arbeiten des berühmten Arztes Galen und des nicht weniger einflussreichen Mathematikers und Astronomen Ptolemaios bekannt gemacht. Besonders einschneidend ist in dieser Hinsicht die systematische Integration christlicher Autoren. Die Herausgeber haben sich entschieden, nicht nur einzelne philosophisch besonders profilierte Kirchenväter wie Justin, Origenes oder Augustin in die Darstellung einzubeziehen, sondern im Grunde alle wesentlichen christlichen Schriftsteller der behandelten Jahrhunderte, von den Apologeten bis zu Johannes von Damaskus.
Die Grundlage für diese redaktionelle Entscheidung kann of­fenbar nicht die Beobachtung gewesen sein, dass einzelne christliche Autoren an den philosophischen Debatten ihrer Zeit teilnahmen. Vielmehr lässt sich die vorliegende Konzeption nur dann rechtfertigen, wenn das Aufkommen der christlichen Theologie selbst als Aspekt der Geschichte der Philosophie begriffen werden kann. Dafür gibt es in der Tat gute Gründe, nicht zuletzt den Sprachgebrauch vieler Väter, die ihre eigene »wahre« Philosophie von der ihrer paganen Konkurrenten abgrenzten, anstatt – wie wir es erwarten würden – vom Gegenüber von Theologie und Philosophie zu schreiben. Gleichwohl erfordert eine solche Entscheidung eine sorgfältige theoretische Grundierung. Was bedeutet es für den Begriff der spätantiken Philosophie, wenn das christliche Denken der Zeit nicht einfach nur in einer komplexen Wechselwirkung mit ihr steht, sondern als Teil von ihr verstanden wird? Und was genau bedeutet es, die Texte der Kirchenväter philosophisch zu lesen?
Leider hat man den Eindruck, dass die Herausgeber Probleme dieser Art oft primär auf der Ebene interdisziplinärer Arbeitsteilung zu lösen versucht haben. So wird einem Abschnitt, in dem ein Philosophiehistoriker über den spätantiken Platonismus weitgehend unter Ausschluss christlicher Autoren schreibt, ein von einem Patristiker verfasster Abschnitt zu den Kirchenvätern beigegeben. Angesichts des hohen Spezialisierungsgrades der verschiedenen Disziplinen ist das verständlich und vielleicht unvermeidbar. Was die beiden Gruppen von Denkern freilich verbindet und was sie unterscheidet, und warum sie dennoch beide als Bestandteil der spätantiken Philosophiegeschichte verhandelt werden, wird bei diesem Verfahren nicht immer deutlich. In dieser Hinsicht also indiziert, so kann man sagen, das vorliegende Werk eher die noch ausstehende Forschungsarbeit, als dass es deren Ergebnis be­reits vorstellt.
Betrachtet man die Behandlung der patristischen Autoren, dann ergibt sich insgesamt ein ähnliches Bild. Zweifellos gibt es exzellente Beiträge zu einzelnen Vätern, die präzise zeigen, wie deren Arbeit als eine Philosophie sui generis verstanden werden kann – beispielhaft in dieser Hinsicht sind u. a. Dietmar Wyrwas Kapitel zu Klemens von Alexandria, Holger Strutwolfs Abschnitt zu Euseb von Caesarea und Therese Fuhrers ausgezeichnete Darstellung Augustins. Andere Beiträger jedoch verstanden ihre Aufgabe offenbar eher darin zu erörtern, wo und in welchem Grad der eine oder andere Vater »philosophische« Texte kannte oder rezipierte. Manche der Kapitel ähneln gar einem Eintrag in einer Patrologie, ohne dass klar erkennbar würde, welchen Beitrag der entsprechende Autor zur Philosophiegeschichte geleistet hat.
Ohne Zweifel wird jeder, der in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Überblicks- und Einführungstexte zu philosophischen Denkern der Spätantike auf Deutsch zu konsultieren hat, in allererster Linie auf den neuen Überweg zugreifen. Dass dies Werk einen so umfassenden Zugriff auf die spätantike Philosophie wählt, ist richtig und zeitgemäß – ein wichtiges Zeichen für die Akzeptanz eines inklusiven Paradigmas, für das Forscher seit Jahren plädiert haben. Gleichzeitig zeigen die offenen Fragen, die sich aus der Lektüre ergeben, wie viel Arbeit in dieser Hinsicht noch zu tun bleibt – nicht zuletzt auch in der Patristik.