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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

684–686

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Speier, Holger

Titel/Untertitel:

Im Ringen um die existenzielle Unbedingtheit. Der Einfluss der Philosophie Søren Kierkegaards auf die Theologie Helmut Thielickes.

Verlag:

Marburg: Büchner-Verlag 2019. 420 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-96317-150-5.

Rezensent:

Walter Dietz

Die Studie von Holger Speier ist ein Nebenprodukt seiner Marburger Dissertation (2009) über Helmut Thielicke (1908–1986), der zwar nicht als Kierkegaardianer gelten kann oder will, aber in seinem Denken ein »großes Maß an theologischer Übereinstimmung« (119) mit S. Kierkegaard (= SK) aufweist, vor allem im Blick auf sein theologisch fundiertes Menschenbild. Das Buch versteht sich als Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der »Philosophie Søren Kierkegaards« (der Begriff »Philosophie« wird dabei wohl sehr weit ge­fasst). Der Vf. geht davon aus, dass Thielicke zwar wesentlich von SK beeinflusst war, dies aber nicht expliziert hat und auch nur bedingt wahrhaben wollte.
Der Vf. weist die Affinität beider auf verschiedenen Feldern auf, insbesondere der Anthropologie und dem subjektivistischen Wahrheitsverständnis (169.282 ff.). Im Blick auf SKs Ethik kommt er zu einem kritischen Urteil (nicht wesentlich anders als Thielicke selbst), wobei dafür maßgeblich ist, dass er SKs eigene Position mit der (von SK zum Teil explizit abgewiesenen) Position der Pseudonyme identifiziert. Gravierend ist diese Fehlinterpretation vor allem im Blick auf SKs Ethik, wenn er diese mit der Position des Ästhetikers verwechselt (z. B. 147; im Gefolge von Adorno und Schweppenhäuser steht er mit dieser Fehleinschätzung nicht allein). Dies verbindet sich mit Thielickes Urteil, SKs Ethik sei abstrakt oder jedenfalls nicht kompromissfähig, d. h. praktisch unbrauchbar (60 u. ö.).
Andererseits kann sich Thielicke, wie der Vf. gut herausarbeitet, voll der Einleitungspassage in KT (A,a) anschließen: der Mensch als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Die relationale Auslegung der Gottebenbildlichkeit harmoniert dabei mit der Abweisung einer cartesischen Konzeption von Subjektivität, die Thielicke verwirft und dabei auf Hegels und Schleiermachers (cf. 93) Position bezieht. Ähnlich wie die Dialektische Theologie des frühen K. Barth betont Thielicke den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch mit Bezug auf SKs Unwissenschaftliche Nachschrift (1846). Auch hier übergeht der Vf. die methodisch grundlegende Frage der Pseudonymität (SKs Verhältnis zu J. Climacus), die nur zwischendurch einmal thematisiert wird (185 ff.), allerdings ohne sie methodisch umzusetzen.
Ganz richtig stellt der Vf. die Bedeutung der Climacus-These heraus »Die Subjektivität ist die Wahrheit«. Übersehen wird aber das dialektische Gegenüber zur Gegenthese (»Die Subjektivität ist die Unwahrheit«, SKS 7,191; UN I,198 f.); erst beide zusammen charakterisieren Climacus’ Position. Diese wird vom Vf. mit derjenigen SKs gleichgesetzt (wohingegen SK sich nur mit Anti-Climacus identifiziert hat). Entsprechend wird irrtümlich die Sprung-Metapher für den Glaubensbegriff von Anti-Climacus (KT) vorausgesetzt (Glaube als Paradox 168 cf.259.315 f.). Das durchsichtige Gründen in Gott (KT) ist aber nach SK gerade kein Sprung-Akt (anders als z. B. die Sünde nach BA 1844).
Kennzeichnend für das SK-Bild des Vf.s ist somit, dass es den Forschungsstand der beginnenden Dreißigerjahre wiedergibt, wo SK ganz in Richtung eines dezisionistischen Irrationalismus ge­trimmt wurde. Stimmen für einen dialektisch-rationaleren SK (z. B. Ringleben 1983, Dietz 1993) werden vom Vf. ganz ausgeklammert. Mit dieser Strategie ist er nicht weit weg von Thielickes eigenem, SK verkürzenden Interpretationsansatz.
Der Grundthese des Vf.s, dass Thielicke in einem stärkeren Maß von SK beeinflusst war, als er es einräumen wollte, kann man durchaus zustimmen. Nur ist eben derjenige SK, der (gleichsam mystisch, cf. 343 f.) alles in objektlose Innerlichkeit aufhebt, eine Karikatur, die sich leicht widerlegen lässt, wenn man SKs Texten ernsthaft nachgeht. Glücklicherweise vertritt heute kein einziger Forscher mehr die Thesen Adornos 1933 oder Schweppenhäusers 1967, die SK einen abstrakten, irrationalen Solipsismus zuschreiben (333, Anm. 1237). Anders der Vf., der ganz darauf verzichtet, jene klischeehaften Zuordnungen von eigener SK-Textanalyse her zu hinterfragen.
Dass »der/die Einzelne« bei SK nicht solipsistisch verstanden werden darf, ergibt sich ja schon daraus, dass er »er selbst [ist] und das Geschlecht«, also gesellschaftlich und geschichtlich eingebunden (BA 1844: im historisk Nexus). Im Anschluss an Thielicke zeichnet der Vf. aber durchaus das korrekte Gegenbild des Einzelnen gegen die Masse (166 f.352). Diese Interpretation (nicht aber die so-lipsistische, cf. 337) trifft den wirklichen SK.
Was sein Verhältnis zu Hegel angeht, so wird mit Hilfe von Climacus vom Vf. eine schroffe Entgegensetzung konstruiert. Andere Stimmen (z. B. Ringleben 1983) finden sich zwar im Literaturverzeichnis, bleiben aber argumentativ ganz unberücksichtigt. Alle Hinweise darauf, SK nicht als Irrationalisten hinzustellen, werden ausgeblendet. Was bleibt, ist ein Zerrbild von SK, wie es in den Zwanziger- und Dreißigerjahren vorherrschte, heute aber überwunden ist. Um zu sehen, wie Thielicke SK rezipiert hat, ist dieser forschungsgeschichtliche Rekurs im Blindflug allerdings insofern legitim, als er ihn eben nur zeitgemäß auffassen konnte. Innerhalb der etwa gleichzeitig stattfindenden Entdeckung SKs bei Bultmann, Gogarten und Hirsch (ca. 1926–1933) zeigt sich ein sehr buntes Bild der Rezeptionsvarianten (cf. 86 ff.).
Die Besonderheit bei Thielicke ist wohl, dass er ausgehend von Lessing die Unvermittelbarkeit mit einem objektiven Wahrheitsbegriff und die Sprungmetapher in den Vordergrund stellt, was der Vf. treffend herausarbeitet. Seiner These, dass Thielicke massiv – stärker als er einräumen mochte – von SK beeinflusst war, kann man durchaus zustimmen.
Allerdings basiert Thielickes Ablehnung von SKs Ethik auf dem fragwürdigen Urteil, dass seine Ethik zu wenig konkret sei. Um diese These aufrechtzuerhalten, werden die wichtigen ethischen Schriften SKs (Entweder – Oder II; Taten der Liebe) ausgeklammert.
Der entscheidende Fehler des Vf.s, die methodischen Implikationen der pseudonymen Verfasserschaft auszuklammern, macht sich im Blick auf die Deutung von SKs Ethik besonders bemerkbar. Hier werden die Positionen, die SK als ästhetische verwirft, als dessen eigene ausgegeben (147). Dementsprechend wird ihm Frauen- und Ehefeindlichkeit unterstellt (treffender: Jaspers 1955) und seine Ethik als unbrauchbar und wenig konkret qualifiziert. Der Vf. unterliegt hier dem gleichen Defizit wie Thielicke, weshalb dessen Rezeption von ihm nicht kritisch hinterfragt werden kann.
Ansonsten ist die Studie durchaus reich an kritischen und aufschlussreichen Bemerkungen zu Thielicke, auch was die wissenschaftstheoretischen Grundlagen seines Theologieverständnisses anbelangt (359 ff.). Tatsächlich hat Thielicke den funktionalen Unterschied zwischen Theologie und Verkündigung nicht klar genug herausgearbeitet. Die Bemerkungen am Ende des Buches bilden noch einmal eine kleine Studie für sich und wirken im Kontext des Ganzen etwas angehängt.
Die Zuordnung Kierkegaards zum »Existenzialismus« (356 f.; passim) ist m. E. ein sprachliches Verwirrspiel, da er sich von Jaspers, Sartre und Camus doch massiv unterscheidet (und den modernen Existenzialismus als nihilistische Form der Verzweiflung verworfen hätte). Hier differenziert Thielicke klarer als sein Interpret. Eine klare Begriffsdefinition hätte gutgetan, um nicht schablonenhaften Zuordnungen Vorschub zu leisten. Sinnvoller ist die Sammelbezeichnung »Existenzphilosophie« (W. Janke, 1982), da »Existenzialismus« deren französischen Zweig im 20. Jh. be­zeichnet (Sartre, Camus u. a.).
Das Buch ist durchgängig sehr gut lesbar, wenngleich nicht frei von Tippfehlern und erheblichen Redundanzen. Ein Sach- und Namenregister fehlt; die Bibliographie ist hingegen sehr umfangreich, wenngleich nicht ganz vollständig.