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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

669–671

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bühmann, Henning

Titel/Untertitel:

Die Stunde der Volksmission. Rechristianisierungsbestrebungen im deutschen Protestantismus in der Zwischenkriegszeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 527 S. m. 4 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 73. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-57075-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Diese von Anselm Schubert betreute Studie wurde im Winterse-mester 2014/15 an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt als Dissertation eingereicht, das Promotionsverfahren fand im November 2015 seinen erfolgreichen Abschluss. Für die Drucklegung hat der 1981 geborene Verfasser Henning Bühmann seinen substantiell erhellenden Beitrag zur Kirchlichen Zeitgeschichte »in erheblichem Umfang gekürzt« (9). Gleichwohl stellt er noch immer eine gewichtige Untersuchung dar, und dies nicht nur im Blick auf das stattliche Nettogewicht von 988 Gramm, sondern erst recht wegen der erstmals monographisch angelegten Erkundung einer wichtigen, bisweilen unterschätzten kirchengeschichtlichen Konstante des 20. Jh.s.
Tatsächlich markiert das Thema der Volksmission einen gewissen publizistischen und aktionistischen Schwerpunkt des damaligen deutschen Protestantismus. B. hat sich eine ebenso extensive wie intensive Sach- und Stoffkenntnis erworben und in deren historiographischer Bearbeitung zugleich souveräne Ordnungs- und Deutungskompetenz erwiesen. So leuchtet seine Entscheidung, die Untersuchung in drei Hauptteile zu gliedern, unmittelbar ein: Nach der die üblichen Prolegomena verhandelnden »Einleitung« (11–32) analysiert B. zunächst exemplarische Programmentwürfe zur Volksmission (33–166), rekonstruiert daraufhin die Institutionalisierung dieser Bestrebungen im »Central-Ausschuß für Innere Mission« (167–300), um schließlich an ausgewählten Beispielen die volksmissionarische Praxis auswertend vorzuführen (301–429). Dass die mit dem Krisendoppeljahr 1918/19 einsetzende Untersuchung nur »bis zum Beginn nationalsozialistischer Herrschaft« (13) geführt wird und die nach 1933 erneut mächtig aufblühende volksmissionarische Debatte und Praxis nicht mehr einbezieht, ist angesichts der gewaltigen einschlägigen Materialfülle vollauf verständlich, hätte dann freilich auch nahegelegt, die im Untertitel der Arbeit anklingende Zeitspanne entsprechend zu modifizieren. Der merkwürdige Notbehelf, dem Obertitel zwar nicht in der bibliographisch ausschlaggebenden Titelei, aber auf dem Buchrücken die Jahreszahlen »1916–1934« hinzuzufügen, macht die Sache nicht besser.
Der erste Hauptteil setzt bei dem »Stichwortgeber« (35) Gerhard Hilbert ein, der mit seiner 1916 publizierten Denkschrift »Kirchliche Volksmission« zwar ältere Traditionen (vor allem Philipp Jakob Spener, Johann Hinrich Wichern) aufnahm, dabei aber für die aktuelle Krisenlage »einen durchdachten Vorschlag zur flächendeckenden Aufnahme von Evangelisation« (58) und, damit verbunden, ein gesamtkirchliches Reformkonzept vorlegte. Kann Hilbert deshalb als »Inspirator« der Volksmission in Deutschland gelten, so scheint Gerhard Füllkrug deren »Organisator« (64) geworden zu sein. Sein im Frühjahr 1919 erschienenes »Handbuch für Volksmission« blieb dem Programmentwurf Hilberts verpflichtet, suchte ihn aber für die entsprechende Tätigkeit von Pfarrern und frommen Christen, die dazu bereit waren, situationsgerecht zu operationalisieren. Machten sich schon dabei nationalkonservative, subkutan sogar völkische Tendenzen bemerkbar, so traten in dem 1924 von Heinrich Rendtorff vorgelegten Büchlein »Pflüget ein Neues« konser-vative Kulturkritik und theologisch verbrämte politische Rechts-lastigkeit unverkennbar hervor. Ähnliches gilt auch für die 1933 von der bayerischen Landeskirche erarbeiteten »Riedauer Thesen«, die B., ohne deren offen zutage tretende Affinität zum National-sozialismus verharmlosen zu wollen, zugleich »als theologischen Entwurf ernst zu nehmen« (162) sich bemüht. Insgesamt dokumentiert B. in diesem ersten Teil die eindrückliche Fertigkeit zu sachgemäß pointierender, umsichtig kontextualisierender, her­meneutisch kontrollierter Textanalyse.
Der zweite, den »Central-Ausschuß« fokussierende Hauptteil setzt sinnvollerweise mit der Rekonstruktion der während des Ersten Weltkriegs zu verzeichnenden Initiationsgeschichte ein, zu der wiederum Hilbert einen wesentlichen Impuls beisteuerte. Sehr eingehend schildert B. sodann den in der Abteilung für Volksmission ab 1919 vorangetriebenen Institutionalisierungsprozess, der, auch aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten, Strukturproblemen und nationalistischen Sekundärmotiven alsbald zu stagnieren begann und sich zusehends in systemische Widersprüche verstrickte. Verschärfte interne Streitigkeiten und eine unaufhaltsam scheinende politische Radikalisierung, deren ungestümer Antikommunismus immer stärkere Sympathien mit der nationalsozialistischen Ideologie freisetzte, lösten, wie B. in eindrucksvoller tiefenscharfer Analyse zu zeigen vermag, eine regelrechte »Selbstlähmung« (242) aus, wobei sich der »Central-Ausschuß« die überaus dürftige Erfolgsquote seiner Bemühungen, die in dem Zusammenbruch der Deutschen Evangelischen Heimstättengesellschaft 1931 unübersehbar geworden war, offen einzugestehen genötigt sah. D as trübe Ende schien 1933 besiegelt, als man ungeachtet aller Annäherungs- bzw. Anbiederungsversuche an die NSDAP und die Deutschen Christen (vgl. 282–285) den staatlichen Gleichschaltungsversuchen ausgeliefert war und sich der »Deutsche Evange-lische Verbund für Volksmission« notgedrungen auflösen musste.
In guter systematischer Disziplinierung schildert der dritte Hauptteil anhand ausgewählter Beispiele die volksmissionarische Praxis. Hier porträtiert B. zunächst die entsprechenden Protago-nisten und Rahmenbedingungen, um sodann die regionalen Aktionsfelder in Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland zu durchmustern. Dabei wird deutlich, »dass trotz des Anspruches, ganz Deutschland als mögliches Einsatzgebiet zu betrachten, sich faktisch Kerngebiete herausbildeten« (357), unter denen Ostpreußen, Posen-Westpreußen und das Ruhrgebiet deutlich herausstachen, während es etwa in Brandenburg, Pommern oder Bayern nur mäßig, in Schlesien fast gar nicht voranging. Ein letzter Abschnitt widmet sich den zahlreich durchgeführten »Volksmissionswochen« (362–429), deren Vorbereitung, Dauer, Verlaufsstruktur und Aktionsformate B. ebenso minutiös erhebt wie die teilweise höchst erstaunliche Publikumsfrequenz und die daraus mit den vor Ort tätigen Gemeindepfarrern sich ergebenden Eitelkeits- und Sachkonflikte.
Ein bündiges, gehaltvoll komprimiertes »Resümee« (430–440) be­schließt die Darstellung. Darin weist B. noch einmal auf die Intention, aber auch den episodischen Charakter der volksmis-sionarischen Bemühungen hin, die beständige Wirkungen nicht oder kaum auszulösen vermochten und durch innere Querelen, finanzielle Verteilungskämpfe und nationalsozialistische Funktionalisierung noch zusätzlich geschwächt wurden. Angesichts dieser fatalen Entwicklung bilanziert B. in dem seine große Darstellung beendenden Satz, die von ihm profund aufgearbeitete Geschichte der zwischen 1918/19 und 1933/34 in Deutschland betriebenen Volksmission könne in den Strukturverwerfungen, denen die evangelische Kirche gegenwärtig ausgesetzt ist, doch immerhin »als warnendes Beispiel« (440) dienen.
Im Anhang finden sich über das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis hinaus detaillierte Register zu den behandelten Personen, Institutionen, Orten und Sachen. Das Personenre-gister (469–501) ist durch wertvolle biogrammartige Informationen angereichert, die vor den einschlägigen Hinweisen auch jeweils die den Eigennamen zugeordnete Berufsbezeichnung beifügen. Dergestalt werden – formal korrekt, aber in Einzelfällen doch etwas putzig – etwa Martin Luther als Reformator, John Wesley als Pfarrer und Adolf Hitler als Reichskanzler kenntlich gemacht.
Die vorliegende Qualifikationsschrift stellt einen ponderablen Beitrag zur Kirchlichen Zeitgeschichte bereit. Aufgrund umfassender Recherchen, grundsolider Quellenauswertung und souverän disponierter Feldanalyse hat B. ein bahnbrechendes kirchenhistorisches Standardwerk vorgelegt. Das Buch wird einen erfolgsträchtigen Weg nehmen, und sein Autor nicht minder.