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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

666–668

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian, u. Reiner Anselm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aus Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen. Hrsg. in Verb. m. A. Busch, H. M. Heinig, Ch. Kuller, M. Laube u. C. Lepp.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. IX, 376 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-156987-6.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Dieses Buch dokumentiert neue Forschungsergebnisse der von der DFG geförderten, in Erfurt, Göttingen und München tätigen Forschergruppe »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989«. In vierzehn gründlich ausgearbeiteten und inhaltlich beeindruckenden Fallstudien werden protestantische Akteure auf sehr unterschiedlichen politischen Ebenen analysiert.
Der erste Buchteil ist »Formen der Verantwortung« gewidmet. Lydia Lauxmann rekonstruiert die breite Debatte, die sich an ein umstrittenes Interview anschloss, das Martin Niemöller im De­zember 1949 der New York Herald Tribune gegeben hatte. Faktisch wirkte die Debatte als Katalysator für die nun folgende EKD-seitige »geordnete und zielgerichtete Einflussnahme in den politischen Bereich« (33). Den kirchlichen Einfluss auf Gesetzesvorhaben analysieren René Smolarski mit Blick auf das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und Luise Poschmann in Bezug auf die Reform der Krankenhausfinanzierung im Jahr 1977. Protestantische Persönlichkeiten und ihr politisches Engagement stehen im Fokus der Beiträge von Philip Smets (Klaus von Schubert und das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit in den sicherheitspolitischen Debatten der 1980er Jahre) und Michael Greder (Wolf-Michael Catenhusen und die Gentechnik Enquete-Kommission). Auch das ökumenische Liederbuch »Shalom« repräsentiert eine Form politischer Verantwortung, weil es als »›gesungene‹ […] Willensbildung« (136 f.) auf das politische Bewusstsein junger Christen eingewirkt hat.
Im zweiten Buchteil stehen »Themen der Verantwortung« im Vordergrund, nämlich der Flüchtlingsbeirat der EKD in den 1950er und 1960er Jahren (Jonathan Spanos) und der 1978 von der EKD-Kammer für soziale Ordnung vorgelegte, höchst umstrittene Kommentar »Bevölkerungspolitik und Rentenlast« (Marius Heidrich). Dem damals neuen Thema Ökologie sind zwei Studien gewidmet. Anne Friederike Hoffmann beschreibt die Arbeit der kirchlichen Umweltbeauftragten, durch die sich die Landeskirchen in der Um­weltkrise positionierten und mit ihnen erfolgreich Repräsentanten und Ansprechpartner für den kirchlichen und den politischen Kontext installierten. Tim Schedel untersucht die Arbeit der Enquete-Kommission »Zukünftige Energiepolitik«, in der die drei engagierten Protestanten in den Fachfragen ganz gegensätzliche Auffassungen vertraten.
»Spannungen der Verantwortung« werden in den Beiträgen des dritten Buchteils an den Fällen atomare Bewaffnung (Nikolaus Keitel), Ehe- und Familienverständnis (Nicola Aller), Reform des Strafvollzugs (Johannes Noltenius) und Einführung des Kabelfernsehens (Annette Haußmann) sichtbar gemacht.
Auf dieser Basis ermitteln im letzten Teil des Buches die Projektleiter und -leiterinnen aus den unterschiedlichen Fachperspektiven die übergeordneten »Strukturen der Verantwortung«. Die Historikerinnen Christiane Kuller und Claudia Lepp analysieren in zeithistorischer Perspektive die Entwicklungslinien protestantischer Präsenz in den Arenen des Politischen. Kontinuität besteht in der schon klassisch zu nennenden Staatsnähe des deutschen Protestantismus, die seit Ende der 1950er Jahre durch die Annäherung an die Demokratie vertieft wird. Dadurch pluralisiert sich freilich das politische Spektrum innerhalb des Protestantismus, die SPD öffnet sich den Kirchen und wird zur Heimat vieler evangelischer Wählerinnen, Wähler, Politikerinnen und Politiker. Über das Büro des Bevollmächtigten des Rates der EKD nimmt die Kirche Einfluss auf die politischen Entscheidungen in Legislative und Exekutive in Bonn. Die Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, die Evangelischen Akademien und die Kirchentagsbewegung schaffen Öffentlichkeiten, in denen der politische Protestantismus seine Stimme erhebt. Deutlich wird in den Debatten, »dass den Vertretern des Protestantismus in semantischen Kämpfen eigene Sprachformeln zur Verfügung standen, mit denen sie einen Mehrwert gegenüber der politischen Sprache, aber auch gegenüber der Alltags- und Wissenschaftssprache zum Ausdruck bringen konnten.« (319 f.) Seit den 1960er Jahren wird der Wandel sichtbar. Über die ökumenische Bewegung wird der Nord-Süd-Konflikt eingespielt, neben das be­kannte »humanitär-diakonische Engagement trat ein politisch-advokatorischer Einsatz für Gerechtigkeit« (320 f.), der von Basisgruppen getragen und von starken innerkonfessionellen Polarisierungsprozessen begleitet wird. Dies führt zu einer »tiefgreifende[n] Umgestaltung der politischen Arenen« (321). Die Kirchenbindung der Akteure lässt nach. Einerseits treten vermehrt Protestanten ohne Kirchenbindung auf eigene Verantwortung in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen als Experten auf. Andererseits verlagert sich die Arbeit in einen »Bewegungsprotestantismus« (323), d. h. in Gruppen »innerhalb und am Rande der institutionellen Kirche, die oft transkonfessionell agierten. Ihre Mitglieder wählten neue Gemeinschaftsformen und engagierten sich in universellen Solidaritätsbezügen.« (323)
Das große Spektrum protestantischer Präsenz in den politischen Arenen betont auch der Politikwissenschaftler Andreas Busch, das allerdings in der Natur der Sache liegt: »Die Spannbreite zwischen kundiger Nutzung und kaum verhohlener Verachtung gegenüber dem politischen Prozess deutet auf eine Spannung, die dem Verhältnis zwischen Glaube und Politik wohl unabweisbar innewohnt.« (332) Da das politische System der Bundesrepublik Deutschland besonders offen ist für den Input von Interessengruppen und kollektiven Akteuren, sind diejenigen politischen Einflussversuche besonders erfolgversprechend, die den prozeduralen Weg gehen und die den Vertretern der Politik etwas bieten: »Vor allem die auf Beeinflussung politischer Vorhaben zielenden Fallstudien in diesem Band können als Bestärkung für die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Protestantismus und politischen Kräften als Tauschbeziehung gewertet werden.« (333) Dabei sind die empirischen Rahmenbedingungen ausschlaggebend. Je konkreter die politische Fachfrage und das Interesse sind, die der Protestantismus für die Politik erfüllen kann, desto größer sind die Erfolgschancen. Diffuse Forderungen und unspezifischer Druck verringern die Einflusschancen. In jedem Fall gilt: »die Eigenlogik des politischen Systems ist nicht zu überwinden – und letztlich entscheiden eben politische Mehrheiten, nicht einfach eine Addition politischer Pressionsversuche« (334).
Der Rechtswissenschaftler Hans-Michael Heinig betont die kirchenfreundliche Haltung des säkularen Religionsverfassungsrechts. Die Kirchen und ihre Juristen haben dabei einen gewissen Lernprozess durchlaufen, bis sie sich selbst als »Kirchen […] ›unter dem Grundgesetz‹« (340) anerkannten. Der Rekurs auf das bekannte Böckenförde-Diktum verlieh den Kirchen bis in die 1980er insofern eine hervorgehobene Bedeutung, als darin »eine spezifische, das Verfassungsrecht umgreifende religiös-politische Gestimmtheit des politischen Kollektivs« (340) zum Ausdruck kam, an deren stetiger Aktualisierung die Kirchen mitzuwirken trachteten. Die Fallstudien zeigen jedoch, dass die Formen der Herstellung von geistiger Ko-häsion und sozialer Integration stark zwischen überparteilicher Inpflichtnahme für das Gemeinwohl, der Wahrnehmung von institutionellen Eigeninteressen und anwaltschaftlichem Engagement für Dritte variierten. In jedem Fall betrafen die ethischen Debatten, an denen man sich politisch beteiligte, das eigene Selbstverständnis und setzten entsprechende, oftmals zu Zerreißproben sich aufgipfelnde Selbstverständigungsdiskurse frei. Das ist wohl der Grund dafür, dass die Fallstudien auch »dokumentieren, wie schwer es der Kirche fällt, einfach mal zu schweigen« (338).
Christian Albrecht und Reiner Anselm rekonstruieren, warum und inwieweit der Begriff der Verantwortung die Klammer für das vielfältige und vielstimmige politische Engagement von Protestanten sein konnte. Das war möglich, weil die von Max Weber ausgehende Rezeption des Begriffs darüber schweigt, »welche Grundlagen und welche Ziele verantwortbar sind, er ist gewissermaßen normativ blind« (346). Diese Leerstellen wurden theologisch gefüllt und im Anschluss an Barth und Bonhoeffer konnte formuliert werden: »Verantwortung […] bedeutet […], als Christinnen und Christen Antwort zu geben auf das Wort Gottes, wie es in Christus offenbar geworden ist. Ein verantwortliches Leben ist dann ein Leben aus dem Wort Gottes.« (347) Damit war eine Einheit stiftende Formel für die Grund-la ge der Verantwortung über alle theologischen Schulen hinweg gefunden. Die Frage, für welche Konsequenzen des Handelns Verantwortung übernommen werden kann, wurde in den Debatten über die Wiederbewaffnung oder die Kernenergienutzung strittig diskutiert, ihre Beantwortung letztlich dem einzelnen Subjekt zugewiesen. Entlastung war nur durch die Rückbindung in den Kontext der Kirche und durch den Verweis auf die demokratischen, vernunft- und regelgeleiteten Verfahren möglich. Für den kirchlichen Kontext erkennen die Autoren drei Strategien, mit denen gemeinsame Positionen gefunden werden konnten, nämlich erstens den Weg über das episkopale Element des Protestantismus, wie es durch das persönliche und theologische Charisma führender Persönlichkeiten wie Niemöller, Lilje, Meiser, Wurm, von Thadden, Dibelius oder Heinemann repräsentiert wurde. Der synodale Weg nimmt sodann die Expertise einzelner Christen in den Dienst der kirchlichen Verantwortung und stärkt das protestantische Laienelement auch in den theologisch-ethischen Äußerungen der Kirche wie bei den Denkschriften. Die dritte Strategie ist diejenige der theologischen Urteilsbildung, wie sie insbesondere an den theologischen Fakultäten beheimatet ist. Hier freilich zeigt sich seit den 1970er Jahren eine zunehmende Distanz von wissenschaftlicher Theologie und Kirche, die mit der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems zusammenhängt und dazu führt, dass weniger die Kirchen als die anderen Wissenschaften zu Bezugsgrößen der Theologie werden. Da es zu­nehmend weniger gelingt, eine gemeinsame normative Idee für einen übergreifenden Konsens über Grundlage und Ziel protestantischer Verantwortung zu entwickeln, kommt es »zu einer Personalisierung des Protestantismus, zu einer Marginalisierung protestantischer Positionen in der Gesellschaft, die weniger als kirchliche denn als individuelle wahrgenommen werden« (355).
Das Buch unterstreicht die enorme Produktivität und Not-wendigkeit religionsbezogener Zeitgeschichtsschreibung. Freilich liegt es im Genre »Zeitgeschichte« selbst begründet, dass die übergreifenden Schlussfolgerungen eine gewisse Vorläufigkeit haben, weil wir an den Bewegungen, die in diesem Buch ebenso facet-tenreich wie faszinierend beschrieben werden, selbst teilhaben. Gleichwohl: Hier wurde ein wichtiger Aufschlag gemacht und ein hoher Standard gesetzt, an dem die weitere Forschung sich orientieren wird.