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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

664–665

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Stenger, Jan R.

Titel/Untertitel:

Johannes Chrysostomos und die Christianisierung der Polis. »Damit die Städte Städte werden«.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. IX, 270 S. m. 4 Tab. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 115. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-156973-9.

Rezensent:

Michael Wenz

Der klassische Philologe Jan Stenger hat seit 2014 einige Aufsätze über Johannes publiziert, u. a. zu seinem Gebrauch räumlicher Metaphorik, seinem Philosophiediskurs sowie zu seiner Rhetorik und Didaktik. Diese Themen prägen auch die vorliegende Monographie. Der Gegenstand der Studie ist die »ambivalente Konzeption der Stadt als eines christlichen Lebensraumes« (3). S. beschränkt sich dabei auf Johannes’ Zeit in Antiochia. Methodisch greift er auf literaturwissenschaftliche und raumsoziologische Ansätze zurück.
Das grundlegende Kapitel 1 (Johannes Chrysostomos’ Rhetorik der Stadt, 18–34) steckt anhand der Analyse einer am Märtyrergrab gehaltenen Homilie (Pan. Mart. 2) den inhaltlichen und methodischen Rahmen ab. S. schließt mit vier Punkten, die erkenntnisleitend für das gesamte Werk sind: Ihm zufolge haben erstens manche der Textwelten eine den Hörern bekannte Raumreferenz und damit einhergehend gehen Menschen mit konstruierten Räumen in ähnlicher Weise um wie mit realen. Zweitens sind die vom Prediger geschaffenen Textwelten häufig Denkmodelle mit episte-mischem Potential. Drittens stehen verschiedene Textwelten im Kontrast zueinander oder werden so hierarchisiert, dass ein detailreiches, strukturiertes Universum entsteht. Viertens zielt die Me­thode, die Hörer gewissermaßen in die erzählte Welt hineinzuziehen, darauf, sie zum rechten Umgang mit dem Raum anzuleiten.
In Kapitel 2 (35–72) zeichnet S. den von Johannes biographisch selbst erlebten und in seinen Frühschriften betonten Antagonismus zwischen Stadt und Einöde nach. Johannes will durch seine Semantisierung der Räume zeigen, dass christliches Leben in der Stadt nahezu unmöglich ist. Das Oben der Berge und das Unten der Stadt sei nicht nur räumlich real, sondern spiegele sinnbildlich wider, dass die Polis Ort der phantasia, die mönchische Einöde Ort der philosophia ist. Da der städtische Raum von der Oberschicht determiniert werde, sei neben der Flucht ins Eremitentum der einzige Ausweg, durch Herstellung von Heterotopie (d. i. Kopräsenz eigentlich unvereinbarer Räume) das Privathaus zu einer Art Klos-ter zu machen.
In einem Exkurs (64–69) geht S. auf die theologische Anthropologie des Johannes ein, die paradigmatisch für seine Verwurzelung in hellenistischer, vor allem stoischer Philosophie ist. Johannes zielt darauf, das Urteilsvermögen der in ihrer Eigenverantwortung gesehenen Christen zu schulen, so dass sie zwischen wahren Gü­tern, Übeln und Adiaphora unterscheiden können.
Wie S. am Ende von Kapitel 3 (Die Selbst-Präsentation der Chris­ten in der Stadt, 73–126) resümiert, kommt nach Johannes »für die Christianisierung der Polis alles darauf an, wo und wie der Christ sich in der Stadt plaziert« (126). Die analysierten Panegyriken auf Märtyrer wollen bezwecken, dass pagane Routinen vermieden werden, die räumliche Verschränkung von Kirche oder Märtyrergrab mit dem Himmel und den biblischen Erzählungen wahrgenommen und dieser geistliche Raum vor allem durch die rechte Gesinnung, aber auch durch körperliche Objekte (z. B. am Epiphaniasfest mitgegebenes Weihwasser) in das Privatleben perpetuiert wird.
In Kapitel 4 (Die christliche Produktion der Stadt, 127–173) arbeitet S. den Kontrast zwischen der Wahrnehmung der Stadt durch Johannes und der Zielsetzung seiner Reform heraus. Die Agora oder die Zuschauerränge im Theater wiederholt als Bühne nutzend würden Reiche wie Arme durch ihre Zurschaustellungen diese Räume im Sinne ihrer arroganten Geltungssucht bzw. dehuma-nisierenden Abhängigkeit prägen. Diesen rhetorisch meisterhaft veranschaulichten Gegensätzen setzt Johannes die Gleichheit aller Christen durch Taufe, Eucharistie, Gottesdienstteilnahme, den Weg von und zur Kirche, Gebet und Almosengeben entgegen. Er prägt Begriffe der Oberschicht wie axioma (Rang, Dignität) christlich um, um den Drang zur Selbstinszenierung durch das Inter-esse am Gemeinwohl zu ersetzen.
Endete Kapitel 4 mit der Feststellung, dass Johannes sogar eine Stadt positiv bewerten kann, wenn sie nach seinen Vorstellungen von der Teilhabe aller reformiert ist, so zeigt S. in Kapitel 5 (Die christliche Wiedergeburt Antiochias, 174–237) durch die Analyse einiger der sogenannten Statuenhomilien (Stat. 2, 17, 18, 20, 21), wie Johannes die von ihm gewünschte Christianisierung der Stadt durch seine Reaktion auf den Steueraufstand 387 entscheidend voranzutreiben suchte. Er fängt die aufgrund der Androhung kaiserlicher Strafen angstvollen Gefühle der Hörer ein, spitzt den Kontrast zwischen ehemaligem Glanz und aktueller Erniedrigung zu und leitet dadurch zu der Erkenntnis, dass gotteslästerliche Gewohnheiten wie das Schwören, die Gleichgültigkeit gegenüber den Sünden anderer und der Kleinkrieg aller gegen alle zu unterlassen sind und stattdessen ganz auf Gott zu vertrauen ist. Für Johannes sind mit der falschen Einstellung zur Stadt, d. h. mit der Überbewertung materieller Güter, mit der schädlichen urbanen Lebensweise und der typisch städtischen paganen Philosophie »nichts anderes als die Hauptcharakteristika der klassischen Polis […] verantwortlich für den katastrophalen Fall.« (194) Die durch ihren Freimut die Apostel nachahmenden Mönche hingegen hätten durch ihren Einsatz vor der Obrigkeit die Stadt gerettet und seien somit Vorbilder für die Stadtbewohner. Johannes wird, so S., u. a. durch seinen rhetorisch ausgeschmückten Bericht von der erfolgreichen Reise des Bischofs Flavian zu Kaiser Theodosios, um Antiochia vor harter Bestrafung zu erretten ( Stat. 21), zum Historiographen einer neuen städtischen Tradition.
Im abschließenden ergebnissichernden Teil (238–243) revidiert S. die »dominierende These« (243), dass für Johannes allein der christliche Haushalt die Keimzelle der Christianisierung gewesen sein soll. Wie er in Kapitel 3–5 herausgearbeitet hat, war auch die Änderung der Routinen des Einzelnen in der Öffentlichkeit inkl. seines Umgangs mit dem Raum konstitutiv für die angestrebte Transformation. Johannes gelangte dadurch von entschiedener Ablehnung zu produktiver Aneignung der Stadt als christlichem Lebensraum.
Der Anhang bietet die genutzten Textausgaben der Schriften des Johannes (245), ein Literaturverzeichnis (247–260), ein Stellenregister, das nur die Werke des Johannes, leider aber nicht die Werke der anderen referierten antiken Autoren umfasst (261–263), und ein Personen- und Sachregister mit deutschen und einigen griechischen Begriffen (265–270). Hier sind die Verweise auf neuzeitliche Autoren unvollständig. An einigen Stellen enthält das Werk Zusammenfassungen, deren Kennzeichnung dem selektiven Leser von Nutzen gewesen wäre: auf S. 71 f. für Kapitel 2; 124–126 für Kapitel 3; 173 für Kapitel 4 und 235–237 für Kapitel 5.
Inhaltlich überzeugt das Werk durch die sinnvolle und breite Auswahl von Quellentexten und deren gründliche methodische Erarbeitung. Eine ebensolche Geschlossenheit wie S. dem Johannes bei seinem Konzept von Raum und Stadt attestiert, eignet auch seiner Darstellung desselben. Der Reihe, in der das Werk erschienen ist, entsprechend leistet S. einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Christianisierung des Römischen Reiches im Allgemeinen und Antiochias im Besonderen. Das Werk regt an, ergänzend das immer wieder anklingende Zeitverständnis des Johannes eingehender zu untersuchen.