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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

659–661

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Niehoff, Maren R.

Titel/Untertitel:

Philon von Alexandria. Eine intellektuelle Biographie. Übers. v. C.-J. Thornton u. E. Tyrell.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIII, 346 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-156298-3.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Nur ein Jahr nach dem englischen Original (in der Reihe: The Anchor Yale Bible Reference Library, New Haven/London 2018) ist das hier zu besprechende Werk von Maren R. Niehoff, glänzend übersetzt, auch in deutscher Sprache erschienen. Der Verlag hat es sich nicht nehmen lassen, das Buch in Anwesenheit der Autorin, die während des Wintersemesters 2019/20 Martin Hengel Fellow an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen war, zu präsentieren und von wohlbekannten Fachvertretern aus der Tübinger Althistorie, Gräzistik, Judaistik und Alten Kirchengeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven vorstellen zu lassen. All das zeugt von einer Wertschätzung, wie man sie m. E. nur als vollkommen verdient bezeichnen kann.
N., Inhaberin des Max Cooper Lehrstuhls für jüdische Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, in der internationalen Wissenschaftswelt bestens bekannt und vernetzt und mit Deutschland außer durch die Hengel-Fellowship auch institutionell dadurch verbunden, dass sie seit einigen Jahren – als Expertin für Judaistik – dem Herausgebergremium des »Reallexikon für Antike und Christentum« (RAC) angehört, hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten mit Philon, dem gewiss wichtigsten jüdischen Philosophen der Antike, bereits sowohl monographisch als auch in zahlreichen Einzelstudien beschäftigt, ehe sie sich nun – erstmalig – an eine Biographie des Mannes heranwagte, freilich einer »Biographie« besonderer Art; dazu gleich.
Dass ein solches Unterfangen bislang unterblieb, hat, wie sie in ihrer Einleitung einräumt, seine triftigen Gründe. Denn nicht nur hat Philon über sich selbst kaum etwas und »über die Rahmenbedingungen seiner schriftstellerischen Tätigkeit« so gut wie gar nichts preisgegeben (1). Sondern auch der nur um eine Genera-tion jüngere jüdische Historiker Flavius Josephus, der ansonsten durchaus mit wertvollen Informationen über nicht wenige Persönlichkeiten aufzuwarten weiß, zeigt sich, was Philon betrifft, auffallend einsilbig. Man erfährt durch ihn lediglich, dass dieser, einer vermögenden und einflussreichen Familie entstammend, als Leiter einer Gesandtschaft der jüdischen Gemeinschaft (πολίτευμα) seiner Vaterstadt Alexandriens an Kaiser Gaius (Caligula) in Rom (38/41 n. Chr.) zugange und »in der Philosophie nicht un-erfahren« war (Ios.Ant. Iud. 18,257–260). In der Zeit danach aber herrscht in jüdischem Schrifttum bis ins spätere 16. Jh. hinein anscheinend völliges Schweigen über Philon, während dieser in frühchristlicher und patristischer Literatur bis um 400 n. Chr. präsent bleibt. Zusätzliche, für eine Rekonstruktion von Philons Leben verwertbare Anhaltspunkte sind freilich auch daraus nicht zu gewinnen.
Die Lösung des Problems sieht N. darin, dass sie von dem ge­nannten, einzig gesicherten biographischen Datum, Philons Romaufenthalt als Leiter der alexandrinischen Delegation, ausgeht und von da aus eine »relative Chronologie« (6) des umfangreichen Gesamtwerks des Alexandriners zu entwerfen versucht (das Ergebnis ist in übersichtlicher Form in Anhang I [291–293] festgehalten; vgl. dazu Kapitel 1: »Eine intellektuelle Biographie Philons?« [1–26]). Ihre Begründung lautet wie folgt: Den beiden diesem Romaufenthalt zugeordneten und somit einzig sicher datierbaren Schriften, Legatio ad Gaium und In Flaccum, ist nicht lediglich zu entnehmen, was sich zwischen Sommer 38 n. Chr., dem Zeitpunkt des (die Gesandtschaft veranlassenden) Pogroms in Alexandria, und den Verhandlungen mit Kaiser Claudius im Anschluss an die Ermordung seines Vorgängers Gaius Anfang 41 n. Chr., zugetragen hat. Damit habe man sich bisher beim Studium der historischen Traktate Philons meist zufriedengegeben. Weit wichtiger aber – und durchaus aussichtsreich – sei es zu fragen, wie Philon das Geschehene deute. Durch Beantwortung dieser und weiterer, nicht zuletzt auf die jeweiligen Kontexte gerichteter Fragen sei es möglich, zu einem »intellektuellen Profil« des Mannes »in seinen reifen Jahren« und damit auch zu einem »Schlüssel zur Interpretation der übrigen Werkreihen« zu gelangen.
Neben den genannten beiden »historischen Schriften« sind da­nach die »philosophischen Schriften« (von De animalibus bis De vita contemplativa) sowie die der »Exposition« des Gesetzes in einem römischen Kontext gewidmeten Traktate (von De opificio mundi bis De praemiis et poenis), als an ein breiteres, griechisch-römisches Publikum gerichtet, auf die Spätzeit Philons (ab 40 n. Chr. [bis zu seinem Tod ca. 49 n. Chr.]) zu datieren. Der bedeutende Rest, sein 21 Bücher umfassender »allegorischer Kommentar« zu Gen 2/18 sowie die Quaestiones et solutiones in Genesim und in Exodum, muss Philons ganz anderen Herausforderungen geltender und von deutlich verschiedenen philosophischen Einflüssen ge­prägter Frühzeit entstammen: seinem Wirken im Kontext der jüdischen Gemeinde in Alexandria. Der Leser des Buches wird umso eher bereit sein – ich war es in jedem Falle –, N. zu folgen, als ihre Darstellung in genau umgekehrter Richtung verläuft als Philons »intellektuelle Biographie« in ihrer Rekonstruktion (»Von Alexandria nach Rom«): rund zwei Drittel sind mit ›Rom‹ befasst (Teil I: »Philon als Botschafter und Schriftsteller in Rom« [29–105]; Teil II: »Philons ›Exposition‹ in einem römischen Kontext« [109–200]), ehe von ›Alexandria‹ die Rede ist (Teil III: »Der junge Philon im Kreis alexandrinischer Juden« [203–286]). Der Kontrast ist bemerkenswert, und das Bild von Philon als einem »Eklektiker«, der einmal so, ein andermal anders sich äußern könne, falls es denn je den Schatten einer Berechtigung gehabt haben sollte, löst sich in Luft auf. An seine Stelle tritt die Vorstellung einer – nachvollziehbaren – geistigen Entwicklung (ohne allzu dramatischen Bruch, ohne ein »Damaskuserlebnis« sozusagen. Philon bleibt in »Rom«, was er in »Alexandria« gewesen: ein überzeugungstreuer Verteidiger des Ju­dentums!).
Das ist es jedenfalls, was N. mit ihrem Buch hauptsächlich vermitteln möchte. Und sie hat überzeugende Argumente ins Feld zu führen. Was ihrer These ein besonderes Maß an Plausibilität verleiht, ist ihre nachweisliche Vertrautheit nicht nur mit dem phi-lonischen Gesamtwerk, das in dem Buch reichlich zur Sprache gelangt, sondern auch mit der politischen, kulturellen und philosophischen Umwelt in ›Alexandrien‹ wie in ›Rom‹ zur Lebenszeit Philons, zu der sie immer wieder ihre Beobachtungen am Philontext geschickt in Beziehung zu setzen weiß. Ein absolutes Novum sei noch hervorgehoben: N. ist überzeugt, dass gerade auch die vom »römischen« Philon geleistete interpretatio romana des Judentums (vgl. dazu besonders 76–79 und 104 f.) erhebliche Auswirkung auf »die Renaissance griechischer Kultur unter römischer Herrschaft, die sogenannte Zweite Sophistik« (55; vgl. 22–26), aber auch auf das frühe Christentum hatte (ebd.; zu interessanten Seitenblicken auf das lukanische Doppelwerk, Justin, Origenes und Euseb s. das Register).
Ein Rätsel bleibt, auch nach dem äußerst knapp gehaltenen »Epilog« (»Philon an der Schnittstelle von Judentum, Hellenismus und Christentum« [287–289]), warum es spätestens im 2. Jh. nach der Zeitenwende zur »Trennung der Wege« von Juden und Christen und zur weitgehenden Philovergessenheit im rabbinischen Judentum gekommen ist. Darüber muss man mit N. im Gespräch bleiben.