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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

642–644

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Penwell, Stewart

Titel/Untertitel:

Jesus the Samaritan. Ethnic Labeling in the Gospel of John.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XVI, 228 S. = Biblical Interpretation Series, 170. Geb. EUR 105,00. ISBN 978-90-04-39069-0.

Rezensent:

Jan Heilmann

Bei dem anzuzeigenden Buch mit dem Aufmerksamkeit erzeugenden Titel »Jesus the Samaritan« handelt es sich um eine von Christ Keith betreute Doktorarbeit, die 2017 von der St. Mary’s University, Twickenham, angenommen worden ist. Ihr Verfasser Stewart Penwell hat zwei Masterabschlüsse im Alten und Neuen Testament (Cincinnati Christian University, Ohio, 2008) und einen Master of Sacred Theology, Sociology of Religion (Drew Theological School, Madison, NJ, 2010).
Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Beobachtung, dass Jesus im Johannesevangelium einerseits von der Samaritanerin als Ioudaios identifiziert wird (Joh 4,9) und die Iudaioi ihn andererseits als Samaritaner bezeichnen (Joh 8,48). Der Vf. fragt: Wie und warum wird Jesus mit den beiden Gruppen identifiziert? Welche Rolle spielt es, dass er von den Figuren auf der erzählten Welt jeweils der »anderen« Gruppe zugeordnet wird? Und wie steht dies im Verhältnis zur Relation der beiden Gruppen zueinander und deren Identität als Israeliten insgesamt? Diese Fragestellungen sind der breiten Diskussion in der Johannesforschung um die Ioudaioi im vierten Evangelium zuzuordnen, die wiederum Fragen nach deren Funktion für den johanneischen Erzählentwurf, nach deren Identität, nach antijudaistischen Tendenzen und nach der historischen Einordnung umfasst.
Den Einstieg (Kapitel 1) bildet ein sehr knapper, neunseitiger Überblick über die Forschungsgeschichte, aus der hervorgehe, dass die Bedeutung der Zuschreibungen Jesu im Johannesevangelium als Samaritaner (Joh 4,9) und Ioudaios (Joh 8,48) in der Forschung bisher zu wenig gewürdigt worden sei und sich die Forschungsdiskussion auf andere Aspekte bezogen habe, welche die beiden Verse betreffen. Einen wichtigen Grund dafür, dass die Frage nach der Zuschreibung Jesu als Ioudaios durch die Samaritanerin in der Forschung marginalisiert worden sei, vermutet der Vf. in der Wirkmacht der These Bultmanns, die Ioudaioi erfüllten im Joh die symbolische Funktion, Unglauben und Gegnerschaft zu repräsentieren.
Kapitel 2 enthält im Vergleich zum ersten Kapitel auf umfangreichen 27 Seiten sprachgeschichtliche und theoretische Ausführungen zu Ethnizität und labeling und führt damit die metasprachlichen und heuristischen Schlüsselkonzepte der Studie ein. Als Hauptbezugstheorie seiner Heuristik zur Analyse der Wahrnehmung von ethnischen Gruppen in den Quellen bezieht sich der Vf. auf den sogenannten Ethno-Symbolismus, der maßgeblich von John A. Armstrong, Anthony D. Smith und John Hutchinson für die Nationalismusforschung in der Moderne entwickelt worden ist. Dass die sechs diagnostischen Charakteristika der Formierung ethnischer Identität (1. Eigenname zur Identifizierung der Gruppe; 2. Mythos der gemeinsamen Abstammung; 3. geteilte gemeinsame Geschichte, erinnert durch den Bezug auf Heroen und Ereignisse; 4. gemeinsame Kultur, zum Ausdruck kommend in Brauchtum, Sprache und Religion; 5. feste Verbindung zu einem Heimatland; 6. Sinn für gemeinschaftsbezogene Solidarität) für die Antike adaptierbar seien, begründet der Vf. mit Bezug auf Gen 10,31 und einer Stelle bei Herodot (8,144,2), an der vier der sechs aufgeführten Charakteristika explizit genannt werden. Ergänzt werden die theoretischen Ausführungen um Idealtypen und Funktionen des ethnic labeling (internally-oriented vs. externally-oriented; interactional labeling vs. institutional labeling).
In Kapitel 3 führt der Vf. das heuristische Potential seiner Be­zugstheorien vor, indem er anhand einer Analyse der ethnischen lables für »Jews« und »Samaritans« im Alten Testament, bei Josephus, den synoptischen Evangelien und der Apg den sozio-histo-rischen Hintergrund für das Verständnis der gegensätzlichen Zuschreibungen Jesu im Joh rekonstruiert. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Samaritaner sich selbst als Israeliten identifizieren und Judäer als deviante Israeliten betrachtet haben, welche die Vorrangstellung des Tempels auf dem Garizim missachteten. Aus der Perspektive der Iudaioi hingegen seien die Samaritaner als Nicht-Israeliten, als Fremde ohne Bezug zum Nordreich gesehen worden – als Hauptgewährsmann bezieht sich der Vf. diesbezüglich auf Josephus. Zudem deutet er den Befund in den Quellen dahingehend, dass der Charakter des Verhältnisses zwischen Samaritanern und Ioudaioi im 1. Jh. nur selten durch offene Feindschaft geprägt gewesen sei, wie zuweilen angenommen wird. Die synoptischen Evangelien nutzten die negative Sicht der Ioudaioi auf die Samaritaner »for the purpose of broadening the boundary lines between insiders and oudsiders« (94).
Analog dazu arbeitet der Vf. in Kapitel 4, der eigentlichen Textuntersuchung, die These heraus, dass ethnic labeling im Joh die Funktion habe, eine transethnische Identität der Jesus-Gläubigen zu entwickeln. Dadurch, dass Jesus jeweils das Label »Außenseiter« bekomme und sich jeweils spezifisch gegen die mit der Zuschreibung verbundenen Erwartungen verhält, werde die Bedeutung von Abstammung und kulturell geprägten Identitäten depotenziert, um vor diesem Hintergrund die Identität der »Kinder Gottes« aufzudecken, welche ihre vorhergehende ethnische Identität transzendiert. Das Joh macht deutlich, dass es sich bei den ethnischen Zuschreibungen um menschliche Kategorien handelt, die weder für das fleischgewordene Wort Gottes noch für diejenigen, die an ihn glauben, tragfähig sind. Im abschließenden Kapitel 5 diskutiert der Vf. die Implikationen seiner Arbeitsergebnisse für die in der Forschung umstrittene Frage nach den Ioudaioi/Juden im vierten Evangelium. In der Form des ethnic labeling im Joh finde sich widergespiegelt, dass Identität in alltäglicher Interaktion konstruiert wird. Daher sei auch die Identität der Ioudaioi im Joh nicht statisch, sondern dynamisch zu denken. Damit ist es problematisch, den Ioudaioi lediglich die symbolische Funktion zuzuschreiben, im Joh Unglauben und Gegnerschaft Jesu zu repräsentieren.
Die Darstellungsweise der Studie ist vorbildlich. Der Argumentationsgang ist gut gegliedert, stringent und sprachlich sehr gut nachvollziehbar umgesetzt, wobei der Leserlenkung stets ein ho­hes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Vereinzelt stehen wichtige Beobachtungen und Argumente jedoch in den Fußnoten, die durchaus in den Haupttext gehört hätten (z. B. 138, Anm. 205). Die These der Studie zur Funktion des ethnic labeling im Joh ist insgesamt überzeugend. Dabei liegt eine Stärke der Studie in der prägnanten Konzentration auf die zwei untersuchten Stellen, durch die im Licht der angelegten Theorien neue Perspektiven auf den Text gewonnen werden konnten. Zugleich gerät dabei aber der erzählerische Gesamtentwurf des Johannesevangeliums ein wenig aus dem Blick. So vermisst der Rezensent, dass die Ergebnisse der Studie nicht etwas breiter in den Horizont der neueren Forschung zum Johannesevangelium gestellt worden sind. Es ist bezeichnend, dass z. B. eine einschlägige Arbeit wie van der Watts Studie zur Familienmetaphorik im Johannesevangelium, die eine direkte Relevanz für die These des Vf.s hat, nicht rezipiert wurde. Auch die weitgehende Beschränkung auf anglophone Forschungsliteratur ist aus der Sicht des Rezensenten misslich. Dass der Vf. weite Teile der deutsch- und französischsprachigen Johannesforschung übergeht, schwächt z. B. Formulierungen wie »prior scholarly assessments overlooks how …« (16) u. Ä. Zudem ist gerade in der deutschsprachigen altertumswissenschaftlichen Forschung eine breite Diskussion um Ethnizität zu finden. Das Fehlen der Auseinandersetzung mit dieser Forschung führt dazu, dass die Adaptierbarkeit der Theorien in Kapitel 2 (nur mit einem Quellenbeispiel jeweils aus dem Alten Testament und aus Herodots Historien begründet) unnötigerweise zu dünn untersetzt ist.
Abgesehen von diesen kleinen Kritikpunkten handelt es sich um ein lesenswertes und sehr lesbares Buch, das die heuristischen Potentiale von modernen Theorien in Bezug auf spezifische exegetische Fragestellungen exemplarisch vorführt und einen wichtigen Beitrag zur Frage nach Identität und ethnischer Zugehörigkeit im Neuen Testament leistet.