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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

635–638

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Blumenthal, Christian

Titel/Untertitel:

Basileia bei Lukas. Studien zur erzählerischen Entfaltung der lukanischen Basileiakonzeption.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2016. 384 S. m. Abb. u. Tab. = Herders biblische Studien, 84. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-451-34986-7.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die basileia tou theou, die als Zentralbegriff der Botschaft Jesu gilt, hat die Theologie in allen ihren Disziplinen von jeher intensiv beschäftigt. Zwischen den Vorstellungen einer territorialen oder einer dynamischen Größe, meist durch die Übersetzungen mit »Reich« oder »Herrschaft« bezeichnet, öffnet sich dabei ein weiter Raum. Er schließt die alttestamentlich-jüdische Tradition vom Königtum Gottes ebenso ein wie politische Instrumentalisierungen im Laufe einer langen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. In der Exegese des Neuen Testaments entzieht sich dieser Begriff im­mer wieder einer präzisen Bestimmung dadurch, dass er in unterschiedliche, zeitlich wie auch räumlich angelegte Aussagereihen eingebunden ist. Hier setzt die Arbeit von Christian Blumenthal an. Sie konzentriert sich auf das lukanische Doppelwerk, in dem der Begriff erzählstrategisch bewusst platziert und theologisch eigenständig qualifiziert ist. Konsequent spricht B. dabei von der »Basi leia«, um das semantische Spektrum dieses Begriffes nicht vorschnell einzugrenzen – und vermeidet zugleich durch eine programmatische Bindung an die narrative Struktur des Opus Lu­canum ein vorschnelles Abgleiten in thematische und systema-tische Spekulationen.
Die Einleitung (Kapitel 1) setzt mit einer Übersicht über die Forschungsgeschichte ein. Dass die Rede von der Basileia das lukanische Erzählwerk wie eine Klammer zusammenhält (Lk 4,43 // Act 28,31), ist von jeher wahrgenommen worden. Seit den 1960er Jahren herrscht dabei jedoch die Ansicht vor, Lukas habe den Begriff seiner eschatologischen Dimension entkleidet, was besonders in der charakteristischen Wendung »die Dinge hinsichtlich (ta peri) der Gottesherrschaft« (Act 1,3; 19,8) zum Ausdruck käme. Durchgängig ruht das Interesse der Forschung (in dem Paradigma von Zeit und Geschichte) dabei vor allem auf der zeitlichen Dimension der Basileia. Erst allmählich kommt auch ihre räumliche Dimension wieder in den Blick. Diskutiert werden die Bezüge der Basileia zur Israelthematik sowie zu dem Themenfeld sozialer Gerechtigkeit. Eine erzählanalytische Untersuchung steht indessen noch aus. Darauf zielt die folgende methodische Grundlegung ab: Quellensprachlich setzt das lukanische Vorwort (1,1–4) mit seiner Ankündigung einer chronologisch geordneten diegesis das entscheidende Vorzeichen; wissenschaftssprachlich gilt es, den Erzählbegriff zu spezifizieren. Auf dem weiten Feld der Methodendebatte entscheidet sich die Studie für den narratologischen Ansatz von Wolf Schmid, der zwischen einem Begriff des Narrativen im weiteren und im engeren Sinne unterscheidet und das Moment der »Zustandsveränderung« betont. Diesem Moment tritt die »Narratologie des Raumes« zur Seite, für die vor allem der Ansatz Kathrin Dennerleins zu Rate gezogen wird. Daraus ergibt sich das weitere Programm: Wenn das lukanische Doppelwerk als Erzählung ernst genommen werden soll, dann muss auch die Basileiathematik zuerst in ihrer narrativen Entfaltung beurteilt werden. Zugleich stellen die Machtverhältnisse in der erzählten Welt die nächstliegende Bezugsgröße dar, um die Basileia Gottes oder Jesu weiter zu profilieren.
Ein erster Schritt (Kapitel 2) nimmt das Ganze des Doppelwerkes in den Blick und skizziert »Grundlegungen in Weitwinkeleinstellung«. Den Rahmen stellt die Identifizierung zweier großer »Linienführungen« dar, deren erste die Basileia Gottes und die zweite die Basileia Jesu beschreibt. Dazwischen kommen die traditionsgeschichtlichen Vorgaben einer frühjüdischen Basileiaerwartung zu stehen, die für die »theologische« wie auch die »christologische« Linie den maßgeblichen Orientierungspunkt darstellen. Die Materialpräsentation erfolgt in Form tabellarischer Übersichten, bei denen Erzählerrede und Figurenrede unterschieden sowie die jeweiligen Kommunikationssituationen notiert werden. Zur Basileia Gottes finden sich 42 Belege (35 in Lk, 7 in Act); die Basileia Jesu ist mit 11 Belegen (8 in Lk, 3 in Act) vertreten. Eine sorgfältige Analyse bringt zunächst die engmaschige Verteilung, die Positionierung an strategisch wichtigen Punkten sowie die unterschiedlichen Intensitätsgrade in der Wechselwirkung zwischen einer Basileiaaussage und ihrer situativen Verortung bzw. dem Grad ihrer Konkretisierung zum Vorschein.
Auffällig ist, dass nicht der Erzähler, sondern die Erzählfigur Jesus über das notwendige Wissen verfügt. Die Konturen der frühjüdischen Basileiaerwartung werden in lukanischer Perspektive durchmustert. Einstiegspunkt ist die Figur Josefs von Arimathäa, der nach 23,51 die Gottesherrschaft erwartet. Anhand alttestamentlicher und frühjüdischer Texte treten verschiedene Aspekte der Gottesherrschaft in den Blick – na­mentlich ihr Kommen sowie ihre Beziehung zu Jerusalem und zu Israel im Ganzen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie in der lukanischen Konzeption die »Israelzentrik« der Basileia in den Hintergrund und ihre Bindung an Jesus in den Vordergrund rückt.
Eine Spurensuche in frühjüdischen Texten nach den Vorstellungsbereichen »Wiederaufrichtung der Basileia für Israel« und »Gottes Königtum« (Act 1,6) leitet über zu der christologischen Linie. Sie ist deutlich sparsamer belegt, setzt jedoch früher als die theologische Linie ein und kommt auch in variierenden Aussagen zum Zuge: Von der Geburtsankündigung spannt sich ein Bogen bis zur Passionsgeschichte, in der auch die größte Verdichtung erfolgt; in Act 1,6 setzt der Bogen erneut an und spannt sich bis Act 17,7 (Thessaloniki). Hier ist besonders die königlich aufgeladene Mes-siaserwartung von Belang, die zugleich eine Art Königschristolo-gie entwirft.
In einer ersten Vertiefung (Kaptel 3) wird die basileiatheologische Linie wieder aufgenommen, nun aber anstelle einer Draufsicht in ihrer konkreten Entfaltung durch den lukanischen Jesus nachgezeichnet. Mit dem Auftreten Jesu muss der Basileiabegriff neu definiert werden: Seine theozentrische Perspektive bleibt das Kontinuum, aber seine Bindung an Jesus als den Repräsentanten dieser Herrschaft erfordert Auslegung und Plausibilisierung. Drei »erzählinterne Fundierungen« nehmen diese Aufgabe in Angriff anhand des Auftretens Jesu in Nazareth und Kafarnaum (4,16–44), seiner Heilszusage zu Beginn der Feldrede (6,20) und des Themas »Zutritt zur Gottesherrschaft«. Daraus ergibt sich: Die Bindung der Basileia an Jesus ist durch seine Geistsalbung legitimiert, mit der die alten Verheißungen Israels eingelöst werden; die Heilszeit beginnt jetzt; reale Not wie auch die Macht von Dämonen wird überwunden; Zugehörigkeit differenziert sich aus und bemisst sich vor allem an der Positionierung gegenüber Jesus; Konflikte bleiben nicht aus, sind aber mit dem von Jesus exemplarisch vorgelebten Vertrauen auf Gott zu bestehen. Daraufhin kann die an Jesus gebundene Basileia nun in sieben »Entfaltungslinien« entlang der zuvor ermittelten Belegstellen durchbuchstabiert werden. S ie betreffen die Zeit seines Erdenlebens, die Zeit nach der Himmelfahrt, das Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft, den Israelbezug, Zugehörigkeitskriterien, die Rolle der Schüler Jesu sowie den göttlichen Heilsplan.
Eine zweite Vertiefung (Kapitel 4) unternimmt es, nun auch die Raumkonzeption beider Linien zu profilieren, wobei vor allem die basileiachristologische Linie in den Mittelpunkt rückt. Dabei geht es aber nicht etwa um eine Rückkehr zu »territorialen« Vorstellungen, sondern um eine neue, am narratologischen Raumbegriff geschulte Wahrnehmung jener Mehrdimensionalität, wie sie den Texten zu eigen ist. Dabei geht es zunächst um räumliche Aussagen als solche, vor allem aber um die Grundkonstellation zweier Wirklichkeitsbereiche, die sich in der Erzählung als »Himmel« und »Erde« darstellen; zudem setzt der Erzähler die Herrschaft Gottes immer wieder zu den politischen Herrschaftsräumen seiner Zeit in Beziehung. Den Einstieg in dieses Kapitel bilden solche Aussagen, in denen lokale Präpositionen die Basileia als Ziel- oder Aufenthaltsort bezeichnen. Die christologische Zuspitzung erfolgt entlang der Linie 19,38 (Einzug in Jerusalem) – 22,30 (essen und trinken in der Basileia) – 23,42–43 (»heute noch wirst du …«). Himmel und Erde rücken zusammen in Gestalt einer Friedensbotschaft, die buchstäblich »Raum greift«. Mit der doppelten Himmelfahrtserzählung gelangt diese Bewegung zwischen den »Räumen« schließlich zu ihrem vorläufigen Höhepunkt: Der Himmel wird »einsehbar« (vgl. etwa Stephanus in Act 7,56).
Zum Abschluss (Kapitel 5) erfolgt noch einmal eine Art Praxistest der lukanischen Basileiakonzeption unter den beiden Stichworten »Machtstrukturen – Herrschaftsräume«. Jesu »bleibende Raumhoheit«, die sich in der »erzählerischen Annäherung von Himmels- und Erdenraum« darstellt, zeigt, dass Lukas »keinen abstrakt-theoretischen Entwurf einer rein transzendent konzipierten Gottesherrschaft vorzulegen beabsichtigt, … [sondern] … im Gesamtraum der erzählten Welt eine neue Welt- und Herrschaftsordnung« präsentiert (321). Die entscheidende Macht liegt nicht bei den weltlichen Instanzen, sondern »allein bei Gott und seinem als König inthronisierten Sohn Jesus« (323). Das wirkt sich auch auf die Sicht der realpolitischen Verhältnisse aus. Die Gesellschaftsordnung beginnt, sich unter dem Einfluss der Basileia zu verändern, wofür die Gemeinde nach Jesu Himmelfahrt als exemplarischer Ort fungiert.
Sieben thesenartige Abschnitte fassen die Arbeit noch einmal zusammen, unter denen vor allem die siebente einen gewichtigen Schlusspunkt setzt: Gottes Macht kommt im Ethos des Dienens zum Zuge. Die Basileia ist keine abstrakt-theoretische Größe, sondern eine, die in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehung ihren Ausdruck findet. So wird das »neue Modell von Herrschen und Dienen« zu ihrem vornehmsten Kennzeichen.
Die Arbeit ist durch zahlreiche Schaubilder und Tabellen bereichert, in denen komplexe narratologische Sachverhalte anschaulich werden. Neben den üblichen Verzeichnissen und Registern erweist sich in diesem Falle auch ein »Glossar narratologischer Begriffe« als hilfreich. Vor allem aber bietet dieser große monographische Entwurf beides: eine stringente Gesamtsicht des Begriffes basileia tou theou in seiner das lukanische Doppelwerk prägenden Funktion sowie eine Fülle tiefdringender Untersuchungen jedes einzelnen Beleges, woraus sich ein Mosaikbild wertvoller Beobachtungen zusammensetzt. So gelingt es, die Vorstellung von einer »Königsherrschaft Gottes« aus ihren Instrumentalisierungen wie Verflüchtigungen gleichermaßen zu befreien und in ihrer Dynamik als Herzstück der Botschaft Jesu neu zugänglich zu machen.