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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

631–633

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hakizimana, Giscard

Titel/Untertitel:

Der Mensch als Gefährte Gottes. Untersuchungen zu Struktur und Theologie von Psalm 139.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2015. 328 S. = Forschung zur Bibel, 132. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-03827-4.

Rezensent:

Kathrin Liess

Die an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstandene Dissertation von Giscard Hakizimana widmet sich Psalm 139, einem Psalm aus nachexilischer Zeit, in dem sich zentrale Themen alttestamentlicher Theologie und Anthropologie verdichten. So ist dieser Psalm in den letzten Jahren zu Recht vermehrt auf das Interesse der Forschung gestoßen, die einzelne Themenbereiche behandelt hat, wie die Anthropologie und das Gottesbild (F. Hartenstein, 2007; M. Köckert, 2010), die Gottesnähe (W. Groß, 2004; E. Krause-Vilmar, 2019), die kosmologischen Aussagen (G. D. Eberhardt, 2007), die Stellung im Kontext des vierten Davidpsalters (C. Buysch, 2009) u. a. In jüngster Zeit hat J. P. Agbagnon (2019) eine Monographie vorgelegt, die sich – so der Untertitel – den Themen »Weltbild, Gottesbeziehung und Be­wusstsein des Beters in Psalm 139« zuwendet.
Die Frage nach der Gottesbeziehung des Beters bildet – wie der Titel »Der Mensch als Gefährte Gottes« anzeigt – ein Leitthema der zu besprechenden Dissertation. H. schließt damit an die von W. Groß maßgeblich vorangebrachte Diskussion um das Verständnis der (ambivalenten) Nähe Gottes in Ps 139 an. Ein zweites Thema, das die Arbeit durchzieht, ist die umstrittene Frage nach der Zugehörigkeit und Bedeutung der Feindaussagen in V. 19–22.
Die Bearbeitung dieser Themen erfolgt in einer Auslegung von Ps 139 in drei Teilen (den vierten Teil bildet ein Anhang mit Abkürzungs- und Literaturverzeichnis, Bibelstellenregister und Verzeichnis deutscher und hebräischer Stichworte). Der erste Teil »Darlegung des Problems, Übersetzung, literarische und strukturelle Fragen« (21–163) behandelt in vier Unterkapiteln Forschungspositionen, Text, Struktur sowie Psalterkontext von Ps 139. Auf einen kurzen Abriss der Forschungsgeschichte (1.), in dem Themenbereiche in sehr unterschiedlichem Umfang vorgestellt werden (Gattung, Struktur, kosmologische Aussagen, Gottesnähe, Datierung), folgen Übersetzung, Textkritik und Wortfelduntersuchung (2.). Abschnitts- bzw. versweise werden u. a. textkritische Probleme diskutiert sowie Syntax und Semantik analysiert (was unter der Überschrift »Wortfeld« abgehandelt wird, ist zum Teil allerdings eher eine Begriffsklärung unter Heranziehung von Parallelbelegen, vgl. z. B. 76.81 ff.). Zwei Beispiele aus der Begriffsuntersuchung seien hier angeführt, da sie für H.s Verständnis des Psalms relevant sind. 1.) Breiten Raum nimmt die Analyse des Begriffs ער ein, der in V. 2.17 traditionellerweise mit »Gedanke«, »Absicht« o. ä. übersetzt und auf die Gedanken des Beters bzw. Gottes bezogen wird. H. schlägt für V. 2 »Geschrei (des Beters)«, für V. 17 »Gefährten (Gottes)« (vgl. LXX) vor und verbindet dies mit einer ausführlichen Diskussion der Identität der »Gefährten Gottes« (mit zwei Exkursen). Mit diesen seien – wie sich u. a. aus dem Vergleich mit der Abrahamüberlieferung ergebe – die Nachkommen Abrahams bzw. das Volk Israel gemeint. Diese »Väterperspektive« (243) wird im weiteren Fortgang der Arbeit vertieft, u. a. bei der Analyse von V. 18 (Sandmotiv; 65 f.103) und V. 24 (Wegmotiv: »Weg der Vorzeit« als »Weg der Väter«; 130 f., vgl. 252.275) (s. auch den Bezug von »erwachen« [V. 18] auf Jakobs Traum [243]). 2) Der bei V. 17 beobachtete Bezug auf das Volk schwinge u. a. auch bei dem Begriff הנק »erwerben; erschaffen« mit (V. 13). H. betont zwar die Zweideutigkeit des Begriffs, bevorzugt aber die Bedeutung »erwerben, erkaufen« und bezieht dies auf den Erwerb des Beters bzw. des Volkes Israel durch Gott (vgl. Ex 15,16 u. ö.; s. 91 ff.). – Im schöpfungstheologischen Kontext V. 13–16 mit weiteren Verben für das schöpferische (handwerkliche) Tun Gottes wie ךסכ »weben« und םקר »buntwirken« dürfte jedoch die Bedeutung »erschaffen« näherliegen.
Auf die Präsentation von Text und Übersetzung folgt ein kurzes Zwischenkapitel zur kontextuellen Einbindung von Ps 139 in den Psalter (3.). – Da damit eine Perspektive auf den Gesamtpsalter eröffnet wird, würde sich dieser Abschnitt besser nach der Kompositionsanalyse des Einzelpsalms bzw. nach der Einzelexegese von Ps 139 einfügen. – Die folgende Untersuchung von Komposition und Struktur des Psalms (4.) schreitet von der Makrostruktur (mit einer Gliederung nach formalen und inhaltlichen Kriterien) zur Mikrostruktur. H. wendet sich gegen die Ausscheidung der Feindaussagen in V. 19–22 und vertritt zu Recht die Einheitlichkeit des Psalms. Die detaillierte Analyse der Mikrostruktur erfolgt – analog zur Untersuchung von Übersetzung, Textkritik und Wortfeldern (2.) – abschnitts- bzw. versweise mit Bemerkungen zu Syntax, Stilmitteln, Leitwörtern u. a. Ein zusammenfassender Abschnitt stellt dar, wie das Thema der Nähe Gottes den Psalm als Ganzes prägt (162 f.).
Der zweite Teil »Einzelexegese von Ps 139« (165–255) bietet eine ausführliche abschnitts- und versweise Auslegung des Psalms. Bisher noch nicht erklärte Begriffe und Motive werden erläutert und Parallelstellen zum Verständnis herangezogen. Auf diese Weise wird die Analyse des ersten Teils der Arbeit inhaltlich vertieft (leider stimmen die Verweise in den Anmerkungen auf die Ergebnisse des ersten Teils häufig nicht; vgl. z. B. Anm. 607.881.887.998 u. ö.). H. kommt dabei immer wieder auf die Leitfrage nach der Nähe Gottes zu sprechen. Im Anschluss an W. Groß wird die Ambivalenz der Gottesnähe zwar gesehen, die positiven Konnotationen der Motivik (in V. 5 u. a.) werden jedoch stärker betont. Besonderes Augenmerk wird auf die kosmologischen Aussagen V. 7–12 gerichtet, die »weder eine Kosmologie für sich entwerfen noch einen inhärenten Grund für eine Allgegenwart JHWHs darstellen«, sondern vor allem einem Zweck dienen: »der Darstellung der rettenden Nähe Gottes zum Beter« (215). V. 13–16 beschreiben die Nähe Gottes aus der Schöpfungsperspektive (237). In die Thematik der Nähe Gottes fügen sich auch V. 17–22 ein, denn der Beter betone seine Zugehörigkeit zu den »Gefährten Gottes« (V. 17 f.) und grenze sich von den Frevlern ab (V. 19–22). So kann H. die Ursprünglichkeit der Feindaussagen (V. 19–22) u. a. mit seiner Auslegung von V. 17 f. begründen: Die Gottesbeziehung verpflichte zur Trennung von den Gottlosen (274). (Doch auch wenn man seiner Deutung von V. 17 nicht folgt, kann man an der Einheit des Psalms festhalten.)
Der dritte Teil »Theologisch erweiternde Reflexion zu Psalm 139« (257–276) versammelt kürzere Abschnitte zu verschiedenen, sehr disparaten Themen. In einem Vergleich zwischen Hiob und Ps 139 setzt sich H. kritisch mit der These auseinander, dass Ps 139 ein »Kommentar« zu Hiob sei. Es folgen Überlegungen zur Identität des redenden »Ichs« (drei »Identitätstypen« seien in Ps 139 zu finden: David, das Volk Israel, ein Einzelner als Teil des Volkes), zur zeitgeschichtlichen Einordnung (frühhellenistische Zeit) sowie zur Aktualisierung des Psalms in der Gegenwart. Ein kurzes Schlusskapitel stellt abschließend die »Ausdrucksformen der Gottesnähe« in Ps 139 zusammen (274–276, vgl. 162 f.).
Die Monographie trägt den Untertitel »Untersuchungen zu Struktur und Theologie von Psalm 139«. H. hat Text und Struktur des Psalms in den beiden Hauptteilen gründlich analysiert und dabei seine theologische Leitfrage nach der Gottesnähe nicht aus den Augen verloren. Seine Deutung von ער als »Gefährten Gottes« (V. 17) und die daran anschließende Beobachtung »vielfältige[r] Bezüge zu den Vätern« in Ps 139 bieten – wie er selbst schreibt – ein »Novum im Verständnis von Ps 139« (274). Anfragen an diese – von kanonischen Bezügen her entwickelte – Deutung bleiben allerdings bestehen. So halten die beiden jüngsten Publikationen zu Ps 139 (E. Krause-Vilmar, 2019; J. P. Agbagnon, 2019) mit guten Gründen an dem Verständnis von ער als »Gedanken« des Beters (V. 2) bzw. »Gedanken« Gottes (V. 17) fest und können darüber hinaus ebenfalls die literarische Integrität des Psalms plausibel machen.