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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

629–631

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fiß, Ann-Cathrin

Titel/Untertitel:

»Lobe den Herrn, meine Seele!«. Psalm 103 in seinen Kontexten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2019. 336 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 156. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-7887-3341-4.

Rezensent:

Beate Ego

Diese Promotionsschrift von Ann-Cathrin Fiß wurde im Wintersemester 2016/17 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität als Dissertation angenommen (Be­treuung Friedhelm Hartenstein); nun liegt sie in überarbeiteter Form vor. Ausgehend von Ps 103 verfolgt die Vfn. die fundamentale Frage, in welche »Kontexte die Rede von der Gnade und der Barmherzigkeit JHWHs eingebunden ist und mit welchen Motiven sie verknüpft wird« (24 f.). Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass einerseits gerade der Begriff der Gnade (דסח) »in den jungen, nachexilischen Texten des Alten Testamentes eine bedeutsame Denkfigur in Verknüpfung mit verschiedenen Traditionen wird«, andererseits aber auch von einer Polysemie dieses Terminus auszugehen ist (24).
Nach einer Einführung, einem knappen Überblick zu einzelnen Forschungszugängen zu Ps 103 sowie der Darlegung der inhaltlichen Fragestellung und Methodik der Arbeit (13–30) folgt der aus sechs Kapiteln bestehende Hauptteil der Arbeit, die kursorisch am Text entlang den Psalm interpretiert. Um seine inhaltliche Konzeption möglichst genau nachzuzeichnen, erfolgen ausführliche Referate zu biblischen Passagen, die mit einzelnen Aussagen des Textes korrelieren (so u. a. Ps 21; Texte zu Krankheit und Heilung wie Dtn 29,21 f.; Jer 14,18 und 16,4; 2Chr 21,19; Bundestexte aus nachexilischer Zeit wie Lev 26, Dtn 4 und Ps 78; Ps 19 sowie im Hinblick auf Ps 103,19–22 die Sabbatopferlieder aus Qumran; 31–293). Am Schluss, wo die Vfn. die wichtigsten Ergebnisse im Hinblick auf die Bedeutung des göttlichen Gnadenhandelns zusammenfasst (295–307), erfolgt ein knapper Ausblick zur Psalterexegese mit Überlegungen zur Verbindung von Ps 103 zu Ps 105 f. sowie einer Skizze zur Entstehung der Komposition Ps 102–106 (307–310). Literaturverzeichnis und Bibelstellenregister beschließen die Arbeit (311–336).
Die Vfn. vertritt die These, dass es sich bei Ps 103 nicht – wie häufig in der Forschungsliteratur vertreten – um ein Danklied, sondern um einen Hymnus handelt. Diese gattungsmäßige Zuschreibung ist insofern relevant, da Vfn. den Psalm nicht als eine allgemeine anthropologische Skizze verstehen, sondern vielmehr einen kollektiven Hintergrund und engen Bezug zu Israel annehmen möchte. Ps 103 stelle somit Vergänglichkeit und Schuldhaftigkeit des Menschen in den Vordergrund, um diese dann als Ausgangspunkt für das Gnadenhandeln Gottes zu nehmen, das die »Lebensqualität Israels« (300) aufwerte; JHWHs vergebendes Handeln führe zu einer Unterbrechung des unheilvollen Kreislaufes von Schuld und Strafe, so dass durch die Gnade Gottes eine neue Beziehung zwischen Gott und seinem Volk konstituiert werde.
Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen zum Verhältnis von Gnade und Gebotserfüllung. Die Vfn. betont, dass die Gnadenformel in Ps 103,8 das thematische Zentrum des Mittelteils des Psalms darstelle. Zwar enthalte diese das Element des göttlichen Zornes; durch die Rahmung in V. 9–18 werde aber deutlich, dass das Motiv der göttlichen Gnade deutlich mehr Gewicht habe. Durch Ps 103,6–7 werde der Sinai-Kontext eingespielt, allerdings erfolge hier auch »eine deutliche Weiterentwicklung in der Bedeutung der zur Formel gewordenen Gnadenrede […] hinsichtlich der Vergänglichkeitsmotivik«, insofern diese den durch Ex 32–34 vorgegebenen Raum durch die Attribute der Dauerhaftigkeit und Wirkmächtigkeit übersteige. Wie Ps 102, Jes 40, Ps 90 beschreibe Ps 103 zudem auch eine Partizipation des sterblichen Menschen an der Dauerhaftigkeit JHWHs (153).
Insbesondere Ps 103,17–18 wirft die Frage nach der Konditionierung des Gnadenempfangs auf: Wird die göttliche Gnade nur denen zuteil, die Gottes Bund bewahren und seiner Anordnungen (piqqudim) gedenken, oder ist der Gnadenempfang ein vom Ge­botsgehorsam unabhängiges Geschehen? Vor dem Hintergrund der einschlägigen Quellen, insbesondere Lev 26; Dtn 4,29–31 und Ps 78,37–39, arbeitet die Vfn. heraus, dass dem Erzväterbund in nachexilischer Zeit die Funktion der Kontinuität zukommt, der das Scheitern des Sinaibundes integrieren kann. »In der Abfolge von Ps 103 wird erst das grundlegend durch JHWHs Gnade konstituierte Verhältnis zu Israel beschrieben, bevor die Konsequenzen genannt werden, die Israel daraus entstehen« (203). Somit bilde die Vorrangstellung der ewigen, für Generationen geltenden Gnade die Voraussetzung dafür, dass Israel den Bund mit JHWH bewahren und seiner Anordnungen gedenken könne (304). Die göttlichen Anordnungen sind dabei »zum einen Strukturen, die gegeben sind und erkannt werden müssen und können und zum anderen daraus resultierende Forderungen«, und es sei zu beachten, dass diese »viel mehr beinhalten als eine schlichte Aufforderung, Gebote zu hal ten« (235). So sei also im Hinblick auf Ps 103,17 – entgegen dem äußeren Anschein – von einer Bedingungslosigkeit der göttlichen Gnade auszugehen. Eine wichtige Rolle spielt in Ps 103 schließlich das Motiv des himmlischen Gottesdienstes, insofern die Engelwesen Gott nicht nur loben, sondern auch sein Wort ausführen sollen. Damit erfolge eine Stabilisierung der Königsherrschaft JHWHs. Durch die Verwendung von Titeln wie »Boten«, »Helden von Kraft«, »Heer« und »Diener« wird die Affinität dieser Wesen, die als Pries-terengel charakterisiert werden können, zur Toraweisheit sichtbar (240–259). So kommt die Vfn. zu dem Schluss, das »eigentliche Hö­ren und Tun der Worte JHWHs« sei in den Himmel verlegt worden. Durch das Gotteslob kann die irdische Gemeinde an der Gottesnähe der himmlischen Welt partizipieren (306).
Die Vfn. hat eine wichtige Studie vorgelegt. Durch den Blick auf die zahlreichen biblischen Passagen, die in einem engeren Bezug zu Ps 103 stehen, eröffnet die Vfn. interessante Perspektiven zum Verständnis von Ps 103 und seiner Theologie. Bedenkenswert und bedeutsam sind die Thesen zur kollektiven Dimension des Psalms, zur unkonditionierten göttlichen Gnadenzuwendung, zur Verbindung von Gebotsgehorsam und himmlischem Gottesdienst sowie zur Funktion des Engellobs. Weiterführend wäre allerdings dessen kosmische Funktion, auf die die Vfn. nur en passant verweist (so 252), deutlicher zu betonen. Auch ist zu fragen, ob die Vfn., wenngleich sie die Vorordnung der göttlichen Gnade vor das Bundesgeschehen zu Recht unterstreicht, die Bedeutung des irdischen Gebotsgehorsams nicht zu sehr marginalisiert. Die Gebotserfüllung des fehlbaren Israel, das aus der Gnade Gottes lebt, und die Gebotserfüllung der himmlischen Wesen sind zwei Aspekte eines universalen Toraverständnisses, wie es für das antik-jüdische Denken typisch ist. Prinzipiell wäre zu diskutieren, inwieweit die intertextuelle Perspektive auf die biblischen und zum Teil auch antikjüdischen Vergleichstexte noch konziser traditionsgeschichtlich ausgewertet werden könnte. Weiteren Arbeiten wird nun die Aufgabe zukommen, Ps 103 mit seiner Vorstellungswelt im Kontext der Theologie des antiken Judentums und den Texten der Spätzeit der Hebräischen Bibel spezifischer zu kontextualisieren, und man dankt der Vfn. für die interessanten Anstöße, die sie in ihrer Arbeit zu dieser Fragestellung gegeben hat.