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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

626–628

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dell, Katharine J., and Will Kynes [Eds.]

Titel/Untertitel:

Reading Proverbs Intertextually.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2018. XIII, 253 S. = The Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies, 629. Geb. US$ 120,00. ISBN 978-0-567-66737-3.

Rezensent:

Frédérique Dantonel

Dieser Aufsatzband ist der dritte eines Projekts, das der Komplexität des intertextuellen Lesens von Weisheitstexten aus dem Alten Testament gewidmet ist. Nach den Beiträgen zu den Themen Read-ing Job Intertextually (2013) und Reading Ecclesiastes Intertextually (2014) veröffentlichen die Herausgeber Katharine Dell und Will Kynes 17 Beiträge, die die Komplexität des intertextuellen hermeneutischen Netzwerkes verdeutlichen, in dem sich das Proverbienbuch befindet.
Der erste Teil enthält unter der Überschrift »Proverbs in dia-logue with the Hebrew Bible« zehn Beiträge zu dem intertextuellen Dialog der Proverbien mit anderen Büchern des Alten Testaments (11–138), der zweite Teil unter »Proverbs in dialogue with texts throughout history« sieben zu Texten, die nicht zum Alten Testament gehören (141–229). Dank der auf den Seiten 1–7 vorangestellten Einleitung der Herausgeber, die in die Fragestellung des Projekts einführt und die dem ganzen Band zugrundeliegende Herausforderung erläutert, eine »Ligatur« (2) zwischen einer jeweiligen etablierten Form und einem jeweiligen kontextuellen Sitz im Leben zu bilden, um schließlich neue Verbindungen zwischen Texten unterschiedlicher Formen und vorgegebenen Traditionen in Betracht zu ziehen, bekommt der Leser einen hervorragenden Überblick über den gesamten Band.
Der Band wird mit zwei grundsätzlichen Beiträgen eröffnet, die die intertextuellen Verbindungen zwischen den Proverbien und der Tora untersuchen. Unter der Überschrift »Wisdom is the tree of life: A study of Proverbs 3:13–20 and Genesis 2–3« untersucht Chris-tine Roy Yoder die Verbindungen zwischen Prov 3,13–20 und Gen 2–3. Sie versucht, m. E. mit guten Argumenten, darzulegen, dass der Baum des Lebens aus Gen 3 mit dem Lebensbaum aus Prov 3,13–20 identifizierbar sei, um dann die Interpretation zu entfalten, dass der Weg, der nach Gen 3 bewacht, gefährlich und unpassierbar ist (Gen 3,24), am Ende von Prov 3,13–20 offen und zugänglich geworden sei. In ihren »Implikationen für die Interpretation von Prov 3,13–20« (17) schlussfolgert Yoder, dass Prov 3,13–20 einen »ironis chen Umschlag« (17) schaffe. Während das Essen der Frucht von dem Baum der Erkenntnis zu der Vertreibung aus dem Garten Eden führt (Gen 2–3), veranlasse die Suche nach Weisheit als (dem) Baum des Lebens die Rückkehr in den Garten (Prov 3,13–20).
Bernd U. Schipper erörtert in seinem Beitrag »›Teach them diligently to your son!‹: The Book of Proverbs and Deuteronomy« (21–34) forschungsgeschichtliche und exegetische Grundfragen zu den zahlreichen intertextuellen Verbindungen zwischen mehreren Versen des Proverbienbuches und dem Deuteronomium. Er regt an, die literarkritischen Ähnlichkeiten zwischen mehreren Passagen aus der sprichwörtlichen Weisheit und dem deuteronomischen Gesetz (Dtn 12–26) zu diskutieren, belegt anhand einer literarkritischen Exegese ein intertextuelles Reading des Dtn in Prov 6 und arbeitet schließlich heraus, inwiefern das Proverbienbuch mit einem Diskurs über Weisheit und Tora in Verbindung gebracht werden könne, der in der Zeit des Zweiten Tempels stattgefunden und das Dtn beeinflusst habe.
Auf die Tora folgt die Prophetie: In seinem Beitrag »Wisdom defined through narrative and intertextual network: 1 Kings 1–11« (35–47) behandelt Will Kynes die Interaktionen zwischen mehreren Proverbien und dem Erzähltext 1Kön 1–11. Er zeigt intertextuelle Verbindungen auf und argumentiert, dass die salomonische Zu­schreibung in Prov 1,1; 10,1; 25,1 es veranlasse, dass die Proverbien in das komplexe Netzwerk hineingebracht werden, welches in der Beschreibung des weisen Königs in 1Kön dargestellt werde. Daraus ergebe sich eine Definition der Weisheit, in der sich Politik und Prophetie, Intellekt und Frömmigkeit, Weltliches und Heiliges überschneiden. John Goldingay experimentiert in einem kreativen Beitrag mit einer möglichen Interaktion zwischen »Proverbs and Isaiah 1–39« (49–64).
Es folgen drei Beiträge zu drei Büchern der Ketubim: Mit »Re-buke, Complaint, lament, and Praise: Reading Proverbs and Psalms together« (65–76) fragt William P. Brown, was es bedeutet, Psalmen »sprichwörtlich« zu lesen und umgekehrt Sprichwörter »psalmisch«. Scott C. Jones regt in seinem Beitrag »The Proverbial rhetoric of Job 28« (77–88) an, sich mit Prov 3 und Hiob 28 zu beschäftigen, weil beide Texte darin ähnlich seien, die dreifache Bemühung und Bestrebung zu teilen, Weisheit zu finden, den Wert der Weisheit zu preisen und die Funktion der Weisheit bei der Erschaffung des Kosmos zu berücksichtigen. Mark Sneed argumentiert in seinem Beitrag »Twice-told Proverbs as inner-biblical exegesis« (89–102) anhand von zweimal vorkommenden Proverbien zu der fremden Frau, dass solche Proverbien zwar Variationen innerhalb der Kompositionen darstellen, wohl aber unterschiedliche intertextuelle Effekte erzeugen.
Anschließend werden drei Texte aus der Megilla diskutiert: In ihrem Beitrag »Didactic intertextuality: Proverbial wisdom as illus-trated in Ruth« (103–114) untersucht Katharine Dell die synchro-nischen Resonanzen, die sie zwischen Proverbien aus den Kom-positionen 10–30 und dem Buch Ruth gefunden hat. Anhand des Konzepts der »didaktischen Intertextualität« zeigt sie, wie die di­daktische Methode der »sprichwörtlichen Maximen« (104) im Buch Ruth angewandt sei. Mit einer gewissen Ironie gegenüber der bisherigen Forschung zu dem Hohenlied argumentiert Anselm C. Hagedorn mit »Erotic Wisdom for a more independent youth: Is there a debate between Song of Songs and Proverbs?« (115–127), dass es zwischen dem Hld und Proverbien zwar thematische Verbindungen geben möge, die beiden Kompositionen lediglich jeweils aus unterschiedlichen Traditionen herstammen, das Hld schließlich nicht als ein Weisheitstext betrachtet werden könne, so dass die beiden Bücher nicht im Dialog zueinander stehen können. In seinem Beitrag »Qohelet as a reader of Proverbs« (129–138) reflektiert Markus Saur die Beziehung zwischen dem Proverbienbuch und Ko­helet anhand einiger Beispieltexte und demonstriert, dass Kohelet ein Leser der sapientialen Tradition des Proverbienbuches sei.
Der zweite Teil enthält sieben Aufsätze, die Texten aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen gewidmet sind. Den ersten zwei Aufsätzen liegen Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels zugrunde: Anhand eines eher traditionellen diachronischen Ansatzes verdeutlicht Pancratius C. Beentjes in »Intertextuality between the Book of Ben Sira and the Book of Proverbs« (141–154), dass es nicht ausreicht, eine analoge Verwendung von bestimmten sprichwörtlichen Formulierungen zu beobachten, um zu schlussfolgern, dass es ein »intertextuelles Lesen« gegeben habe. Conditio sine qua non sei vielmehr eine sorgfältige Analyse der jeweiligen Kontexte. Mit dem Motiv der fremden, niederträchtigen Frau befasst sich William A. Tooman in seinem Aufsatz »Aphorisms and admonitions: The reuse of Proverbs 7 in 4QWiles of the wicked woman (4Q184)« (155–166).
Die drei folgenden Beiträge widmen sich dem Frühchristentum und dem Frühjudentum: In »Proverbs in Dialogue with the New Testament« (167–178) zeigt Knut M. Heim überzeugend, wie ein Text des Neuen Testaments im Licht alttestamentlicher Texte mit großem Nutzen gelesen werden kann. Mit Prov 8,22 führt Susannah Ticciati den Leser in die Zeit des arianischen Streits und thematisiert die christologische Verwendung dieses Textes im Werk von Gregor von Nyssa: »Proverbs 8:22 and the Arian controversy« (179–190). Schließlich regt Susan Niditch mit ihrem Beitrag »›Better x than y‹: Context and meaning in Proverbs, Qohelet, and Midra-shic Collections« (191–201) an, sich mit den von der Syntax »besser x als y« bestimmten Sprüchen komparativ zu befassen.
Die zwei letzten Beiträge des Bandes eröffnen die Perspektive des Reading intertextually auf zwei weitere Kulturkreise, nämlich auf den Konfuzianismus, dem sich Christopher D. Hancok mit »Proverbs and the Confucian Classics« (203–215) widmet, und auf einen Aspekt aus dem afrikanischen Kulturkreis, dem Madipoane Masenya und Funlola Olojede mit der Fragestellung »Sex and power(lessness) in selected Northern Sotho and Yorùbá: An intertextual read-ing of Proverbs 5–7« (217–229) nachgehen. Es stellt sich dennoch die Frage, ob diese beiden letzten Beiträge nicht eher zu einem Werk aus dem Bereich der Kulturgeschichte gehören würden.
Abgeschlossen wird der Band mit einem Autorenverzeichnis und mit einem Verzeichnis der antiken Quellen. Das Buch ist für alle, die sich mit der präzisen Frage nach dem intertextuellen Lesen eines biblischen Textes befassen, herzlichst zu empfehlen.