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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

598–600

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wiesinger, Christoph

Titel/Untertitel:

Authentizität. Eine phänomenologische Annäherung an eine praktisch-theologische Herausforderung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XI, 302 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 31. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-156824-4.

Rezensent:

Christian Walti

Authentizität ist der Fluchtpunkt vieler kultureller Praktiken, von der Laufbahnberatung über Kurse zur Auftrittskompetenz bis hin zu den unzähligen Formen medialer Selbstdarstellung (»Reality-Shows«), deren politische Konsequenzen spätestens seit der Wahl des 45. amerikanischen Präsidenten deutlich geworden sind. Ohne große Zweifel leben wir unter einem »Regime der Authentizität« (E. Illouz), was auch Auswirkungen auf gelebte Religion und Spiritualität sowie die klassischen praktisch-theologischen Handlungsfelder haben dürfte. Bevor diese kulturellen Auswirkungen genauer umschrieben und praktisch-theologisch reflektiert werden, setzt die Studie von Christoph Wiesinger dazu an, das Phänomen Authentizität durch die Brille des Praktischen Theologen zu be­schreiben.
W. steigt mit der Klärung seiner Fragestellung ein, indem er zunächst das »Woher« der Frage nach Authentizität in den Blick nimmt (Kapitel 1). Dieser methodische Vorbau ist ein komplizierter, aber nötiger Umweg, da sich gemäß W. nicht schon immer und nicht unter allen Umständen überhaupt die Frage nach Authentizität stellt. W. konstatiert im Chor mit kulturphilosophischen Studien (etwa Ch. Taylor, vgl. 19 ff.), dass Authentizität nicht ein vom Subjekt abhängiges Phänomen sei kann. Besonders problematisch sei aber die bei M. Heidegger angezeigte »Ineinandersetzung von Authentizität mit Selbstverwirklichung« (28 f.). Diese bezeichnet er mit R. Reichenbach als »moderne Illusion« (31). Vielmehr sei Authentizität als soziales Phänomen zu erläutern. Er spricht von einem »Zuschreibungsphänomen«, das jeweils nur bei einer anderen Person festgestellt werden kann.
Somit geht W. in Kapitel 2, dem umfangreichsten Kapitel seiner Studie, dazu über, Authentizität als »Ereignis der Begegnung« zu um­reißen. Entlang dichter Begriffe wie »Subjekt«, »Vorstellung«, »Identität« und im Rückgriff auf verschiedene Autoren des 20. Jh.s wie Sartre, Plessner, Waldenfels, Zizek oder Foucault entwickelt er sein eigenständiges Konzept von Authentizität. Es wird deutlich, wie eng das Konzept von Authentizität mit der für die jüngere Phänomenologie so zentralen Kritik des cartesianischen Subjekts verbunden ist. W. spitzt dies in der These zu: »Authentizität als Phänomen ereignet sich.« (111) Authentizität ist demnach jeg-liche metaphysische Basis abzusprechen. Zugleich ereignet sich Authentizität insofern, als sie zugeschrieben wird. Sie lässt sich zwar nicht direkt fordern, aber sie lässt sich durch die Herstellung günstiger Bedingungen fördern. Besonders innovativ erscheint in der theoretischen Darstellung die Verknüpfung der phänomenologischen Konzeptualisierung von Waldenfels mit sozialanthropologischen Konzepten, etwa dem Rollenbegriff von E. Goffman oder dem kommunikationswissenschaftlichen Konzept von F. Schulz von Thun.
In Kapitel 3 geht W. auf knappen 36 Seiten dazu über, das Erarbeitete in systematisch-theologischen Entwürfen zu spiegeln. Im Anschluss an D. Bonhoeffers Briefe aus dem Gefängnis entwickelt W. den Gedanken des »innerlich[en] Abstand[s]« zu sich selbst (vgl. 121 f.). Die Verschränkung von Situation und Subjektivität bei Bonhoeffer bringt W. thetisch folgendermaßen zum Ausdruck: »Wir sind nicht etwas und reagieren dann mehr oder weniger souverän als Subjekte auf das Widerfahrene. In der Anerkennung der Perspektiven des Selbst und der Anderen werden wir, wie wir sind.« (123) Ausgehend von Bonhoeffers im Gefängnis gelebter »Heterotopie« referiert W. weiter J. Moltmanns Konzept der Gottebenbildlichkeit als »kein selbstbezügliches Wesen […], sondern von seiner Umwelt, d. h. seinem Außen definiert« (126).
Schließlich verschränkt W. diese Überlegungen mit existenzialphilosophischen Gedanken bei S. Kierkegaard: Gottebenbildlichkeit habe stets eine gebrochene, ja »selbstentfremdete« Form (vgl. 140 f.). Die Tragik des »Selbst-sein-Wollens« ließe sich einzig überwinden in der Hingabe an »die Macht, die es gesetzt hat« (142). W. präsentiert ganz im Sinne K. Barths in Christus den Fluchtpunkt der verzweifelten Selbstsuche des Menschen. Somit kann er das Ereignis der Authentizität trinitätstheologisch folgendermaßen reformulieren: »da Christus nicht einfach ist, sondern sich pneumatisch ereignet, besteht auch nicht einfach Authentizität, sondern sie vollzieht sich« (144).
Im folgenden Kapitel 4 werden zwei praktisch-theologische Entwürfe aus »subjektiven Wenden« der Nachkriegszeit weiter konkretisiert: O. Haendlers Homiletik und H. Luthers Überlegungen zur fragmentarischen Identität in der Moderne. Anhand von Haendlers Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse C. G. Jungs (vgl. 150 f.) wird deutlich, wie vielschichtig und labil das predigende Ich ist und wie es dennoch zur entscheidenden Schnittstelle der Verkündigung, der »Kongruenz« zwischen »innerem Erleben und äußerer Darstellung« wird (vgl. 176). Und anhand von H. Luthers B egriff der »Fragmentarität« und dessen Lektüre von E. Lévinas ergänzt W., dass besagte Kongruenz eben erst durch den Umweg über den »Anderen« zustandekommen kann (vgl. 184 f.). Die Darstellung mündet in ein erstes Fazit der Studie (190–192): Wäh-rend Haendler sich mittels eines »starken Subjekts«, der Forderung nach »Kohärenz« dem Authentizitätsbegriff annähert, sucht Luther umgekehrt über die grundsätzliche »Differenz« zu sich selbst die Selbstannäherung. W. verbindet beide Herangehensweisen: »Eine einfache Authentizität gibt es nicht, weil wir nicht über sie verfügen.« (192) Er plädiert aber nicht dafür, den An-spruch auf Authentizität gänzlich aufzugeben, sondern viel-mehr dafür, »die Grundbedingungen ernst zu nehmen, auf de-nen Authentizitätserfahrungen fußen« (192). Dies mündet in der be­wussten Gestaltung der »Differenzkohärenz« von Authentizität (vgl. ebd.).
Mit dem abschließenden Kapitel 5 webt W. seinen theoretischen Ertrag nun in praktisch-theologische Diskurse der Gegenwart ein. Er konzentriert sich dabei jeweils auf religionspädagogische und homiletische Felder. Zuerst geht es um die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit von Subjekten, wobei W. etwa religionspädagogisch das entwicklungspsychologische Modell von Oser/ Gmünder und homiletisch H. Rosas Konzept der »Resonanz« ver-arbeitet. Danach steigt er in die Debatte über die Herstellung be­stimmter liturgischer oder religionspädagogischer Professionen ein, indem er die Frage nach praktisch-theologischer Inszenierung anspielt. Zudem werden »Adaptionsprozesse«, d. h. liturgische und religionspädagogische Lernvorgänge diskutiert, wobei es gemäß W.s Konzeptionalisierung von Authentizität nur darum gehen kann, »reflektierte Rahmen zu schaffen, in denen Räume entstehen, die lebendige Adaptionsprozesse möglich machen« (229). Schließlich re­formuliert W. die Frage nach dem authentischen Ich in der Religionspädagogik und der Homiletik neu – besonders einleuchtend in Bezug auf die Predigt, wenn er postuliert: »Der Prediger, der zu verstehen gibt, wie etwas für ihn wahr ist, gibt dem Rezipierenden die Möglichkeit, wahr-zu-nehmen.« (242)
Gelungen sind W. die Verzahnungen der phänomenologischen Herangehensweise mit systematisch-theologischen Überlegungen und wiederum deren praktisch-theologischen Implikationen. In seiner Studie erscheinen diese so heterogenen Wissenschaftsdiskurse quasi intuitiv füreinander argumentierend. Er vermeidet auch gekonnt den in der Praktischen Theologie verbreiteten Ges­tus des »besseren« Kulturhermeneuten ebenso wie den oft misslingenden Versuch, »christliche« Praxisfelder von »nichtchristlichen« Deutungen zu säubern. Besonders prägnant sind die praxisnahen Diskurse, die er im letzten Teil seiner Studie (Kapitel 5) ausgehend von seiner Forderung nach »Differenzkohärenz« be­spricht. W. praktiziert Praktische Theologie als Phänomenologie, ohne empirisches Material zu besprechen. Weiter liegt der Schwerpunkt seiner Arbeit nicht in der Interpretation einschlägiger Autoren. Oft und mutig lässt er sein forschendes Ich in Erscheinung treten.
Zugleich können seine Darlegungen so kaum material kritisiert werden. Die bereitgestellten Beispiele sind zu kurz für eine analytische Besprechung. Hätten der Studie nicht doch materiale Forschungsgegenstände, etwa Fotos, Interviews oder ähnliche Texte gutgetan? Wäre sie dann nicht konkreter ausgefallen, zumal sich Authentizität doch vielfältig in kulturellen Erzeugnissen niederschlägt? W. hat als praktisch-theologischer Phänomenologe einen dezidiert anderen Weg eingeschlagen. So erschließt er der Prak-tischen Theologie methodisch neue Bahnen – eine Herangehensweise, die ihresgleichen sucht. Wenn nicht ihr selbstbewusst-forschender Stil, so wird von W.s Studie doch mindestens der Hinweis zurückbleiben, dass das Phänomen Authentizität weniger mittels Postulaten und Forderungen, sondern eher durch bewusste Begegnungen mit dem »Anderen«, Fremden und Unbekannten befördert werden kann.