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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

592–595

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Burkhardt, Friedemann

Titel/Untertitel:

Erneuerung der Kirche. Impulse von Martin Luther und John Wesley für die Gemeindeentwicklung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 264 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05782-5.

Rezensent:

Michael Herbst

Friedemann Burkhardt, methodistischer Theologe an der Internationalen Hochschule Liebenzell, legt nach mehreren Studien über Geschichte und Theologie des Methodismus einen Vorschlag zur Erneuerung der Kirche vor. B. fragt, welche Impulse von Luthers Idee einer »dritten Weise des Gottesdienstes« ausgehen können, und er verknüpft diese oft traktierte Frage mit einer ausführlichen Erinnerung an John Wesley und die methodistischen »Class Meetings«, in denen er eine originäre praktische Umsetzung des Spenerschen, also pietistischen Konzeptes einer »Ecclesiola in Ecclesia« erblickt. Seine Frage ist dabei nicht historisch ausgerichtet, sondern auf die gegenwärtigen Krisen und kirchlichen Transformationsprozesse bezogen: Inwiefern können Luthers »Dritte Weise« und Wesleys »Class Meetings« eine »innerkirchliche Revitalisierung« (17) fördern und unterstützen?
B. beginnt mit einer Einführung in die Vorrede Luthers zur »Deutschen Messe« (Teil 1, 15–47), in der Luther drei Weisen des Gottesdienstes unterschied (WA 19,72–75): die lateinische Messe, die deutsche Messe als »Reizung« derer zum christlichen Glauben, die – obwohl getauft – noch nicht glauben, schließlich die »dritte Weise«, also häusliche Versammlungen derer, die »mit Ernst Christen sein« wollen. Luther geht bekanntlich sehr weit, wenn er diesen Gemeinschaften das Recht zubilligt, die Sakramente zu feiern, aber auch die Pflicht zu gegenseitiger Kirchenzucht und zu wohltätigen Werken auferlegt. Ebenso oft zitiert ist die Schlussbemerkung des Reformators, er habe leider zu diesem Vorhaben nicht die geeigneten Leute. Wie B. zeigt, hat das in der Folge nicht dazu geführt, diese Idee ad acta zu legen. Vielmehr belegt B. die vielfältigen Versuche, eine Erneuerung intensiver Gemeinschafts- und Frömmigkeitspraxis aus Luthers Skizze abzuleiten (etwa im Pietismus bei P. J. Speners »Ecclesiola in Ecclesia«, in der Erweckungsbewegung bei J. H. Wichern, in der Volksmission bei G. Hilbert, in den englischen »Religious Societies«). B. akzentuiert vor allem das bipolare Kirchenkonzept, das er bei Luther entdeckt, mit öffentlichem Gottesdienst und verbindlichen Hausgemeinschaften als den beiden Polen. Dies genauer zu beschreiben und kirchentheoretisch nutzbar zu machen, empfindet er als Desiderat der Praktischen Theologie (41). Von da aus schlägt B. die Brücke zu John Wesley, der sich, »ohne sich dessen bewusst zu sein, eng an Luthers [sic!] Ecclesiola-Idee« angeschlossen habe (42).
Aus diesem Grund folgt ein ausführlicher zweiter Hauptteil mit einer detaillierten Beschreibung von Wesleys Gemeinschaftskonzept, mit dem er zur innerkirchlichen Erneuerung und zu einer Erneuerung der Gesellschaft insgesamt beitragen wollte (49–177). Die Grundlagen dafür legte Wesley in den »Allgemeinen Regeln« (1743), die B. ausführlich vorstellt (51–76). Neben den evangelistischen Versammlungen unter freiem Himmel (53) bilden dabei verschiedene Kleingruppen das Herzstück der Überlegungen Wesleys, insbesondere und am nachhaltigsten wirksam die verbindlichen, wohnortnahen »Class Meetings«, in denen B. »Aspekte einer transformierenden Frömmigkeitspraxis« (77) erkennt. Wer zu einer methodistischen »Society« gehören wollte, sollte sich wöchentlich zu einem »Class Meeting« einfinden, über Fortschritte und Rückschläge in der Heiligung berichten und im gemeinsamen Gebet um ein erneuertes, geheiligtes Leben ringen (78 u. ö.). Nicht Heiligkeit als solche, wohl aber der ernsthafte Wunsch nach einem gottgefälligen Leben (»von Sünden errettet zu werden« [89]) war Bedingung für die Aufnahme und für die Verlängerung des »Tickets«, die alle drei Monate vom zuständigen Leiter erteilt oder verweigert werden konnte (90 f.). Der starke Akzent auf der erstrebten Heiligung wird in B.s Darstellung präzise herausgearbeitet – durchaus mit dem Ziel der Mitarbeit (im Sinne von Phil 2,12 f.) an der »Vollkommenheit« (101, auch 162 f.), um »alle willentliche Sünde zu be­siegen« (100). Das bedeutete dreierlei: Böses meiden, Gutes tun, die von Gott verordneten Gnadenmittel (wie etwa das Abendmahl, aber auch Gebet, Fasten, Gespräch) in Anspruch nehmen (103). B. macht die Absicht Wesleys stark, das alles in Treue zur Anglikanischen Kirche zu tun (157).
Ein eigenes Kapitel ist der besonderen Bedeutung (als Gnadenmittel und gesungene Dogmatik) von geistlichem Liedgut, nicht zuletzt dem Schaffen von Charles Wesley gewidmet (121–146). Die Darstellung schließt mit der Identifikation von fünf Aspekten methodistischer Gemeindeentwicklung, in denen B. »erstaunliche Ähnlichkeiten« mit Luthers »Gemeindeideal« (171) erkennt (171–177): (1.) die missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes, (2.) die Bildung intensiver Gemeinschaften, (3.) den relationalen Glaubensbegriff, der durch die persönliche Beziehung zu Gott und nicht durch »äußere, formale oder statusorientierte Fakten wie Taufe« (175) bestimmt sei, (4.) die Bedeutung von Gemeinschaft für das Wachstum des Glaubens und (5.) deren Verantwortung für die Organisation sozialer Hilfe.
Im dritten Hauptteil werden diese fünf Wesleyanischen Aspekte der Gemeindeentwicklung mit drei gegenwärtigen Entwürfen der Praktischen Theologie ins Gespräch gebracht (179–229). Dabei geht B. so vor, dass er die Kirchentheorien von Jan Hermelink (»Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens«, Gütersloh 2011) und Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong (»Kirche«, Gütersloh 2013) sowie den aus dem Kontext der »Emerging Church« stammenden Ansatz von Michael Frost/Alan Hirsch (»Die Zukunft gestalten«, Glashütten 2008) auswählt und jeweils auf ihre Sicht der oben angegebenen fünf Aspekte hin befragt. Die fünf (aus histo-rischen Modellen herauspräparierten) Aspekte werden dabei als Kriterien zur Bewertung der zeitgenössischen kirchentheoretischen Ansätze in Anschlag gebracht, nicht im Sinne einer simplen Übertragung, wohl aber so, dass deren »impulsgebendes Potential« nicht ungenutzt bliebe (233). Dabei entdeckt B. jeweils Stärken und Schwächen, abhängig davon, ob die heutigen Praktischen Theo-logen Gottesdienst missionarisch nutzen, Gemeinschaftsbildung fördern, persönlichen Glauben im Blick haben, an Glaubenswachstum interessiert sind und das diakonische Potential von Kleingruppen achten. Am Ende fasst B. seine Überlegungen so zusammen, dass in diesen Impulsen für die Gemeindeentwicklung eine »verheißungsvolle Dy­namik für eine Erneuerung der Kirche« zu erhoffen sei.
Der Ertrag dieses Werkes liegt vor allem für mit dem Methodismus weniger vertraute Leser in der detaillierten Vorstellung von Wesleys Gemeindeaufbau, insbesondere der »Class Meetings«, die höchst kundig und mit vielen Belegen in das Gesamte methodistischer Theologie eingezeichnet und am Ende konzise und nachvollziehbar in den »fünf Aspekten« zusammengefasst werden. Auch als (im Kontext gegenwärtiger Entwürfe nicht alltägliche) Frage nach Impulsen intensivierter Gemeinschaftsbildung für unsere heutige kirchliche Lage ist B.s Arbeit ein anregender Gesprächsbeitrag, wenn es um die Zukunft kirchlichen Lebens geht.
Allerdings bleiben eine Reihe Fragen offen. Sie betreffen zum einen die historischen Aspekte. Es ist ja nichts Neues, aus Luthers Vorrede zur »Deutschen Messe« ein »Gemeindeideal« abzuleiten. Es bleibt aber die Frage, ob diese schmale Skizze, zumal mit ihrer skeptischen Schlussbemerkung, dazu tatsächlich ausreicht. Außerdem ist die behauptete Nähe Luthers zu Wesley einer Überprüfung wert. Strukturelle Parallelen (zum Glauben reizender Gottesdienst und intensive geistliche Gemeinschaft in Kleingruppen) kann man sicher entdecken. Ob Luther allerdings so über die mögliche Vollkommenheit in der Heiligung reden würde oder die Taufe so als äußerlich, formal und statusorientiert (im Unterschied zu »relational«) akzeptieren könnte, darf man wohl bezweifeln.
Offene Fragen bleiben auch hinsichtlich Auswahl und Behandlung der gegenwärtigen Kirchentheorien, an die die fünf Aspekte erst herangetragen werden müssen, um sie dann zu Kriterien für deren Bewertung machen zu können. Die Eigenaussage der Autoren findet da kaum Gehör. Ob Frost und Hirsch das Reflexionsniveau von Hermelink und Pohl-Patalong/Hauschildt erreichen, ist obendrein fraglich. Auf jeden Fall wäre der Ansatz einer »emerging church«, auch in sozialem Handeln ein Sakrament zu sehen, für lutherische Ohren eine ziemliche Zumutung. Im Übrigen trifft die behauptete generelle Zuordnung der häufig postevangelikalen »emerging churches« zu den anglikanischen und methodischen »fresh expressions of church« nur für eine kleine Minderheit der »fresh expressions« zu. Offen bleibt am Ende neben dem Appell, die historischen Vorbilder in ihrem Potential zu nutzen, die Frage, wie das in gegenwärtigen kulturellen, sozialen und religiösen Kontexten denn aussehen könnte, also auf welche Konstitutionsbedingungen christlicher Existenz ein solcher Transfer stieße.
Damit ist die Anregung B.s keineswegs erledigt; allerdings geht dieses Werk vorerst nur diesen einen Schritt: Es erinnert uns an historische wirkkräftige Ideen zur Gestaltung christlicher Gemeinschaft und lässt uns (aber auch erst:) fragen, welche Anregungen für heute daraus zu gewinnen sind.