Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

589–592

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Volp, Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tod.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. IX, 269 S. = UTB 4887 – Themen der Theologie, 12. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-8252-4887-1.

Rezensent:

Philipp David

Zahlreiche Theologiestudierende und Pfarrer haben sich dem »Rätsel des Todes« mit Eberhard Jüngels mehrfach aufgelegtem Buch (5. Aufl. 1993) aus dem Jahr 1971 in der von Hans Jürgen Schultz herausgegebenen »Bibliothek Themen der Theologie« des Kreuz-Verlags angenähert und Vokabeln wie »Geheimnis des Todes«, »Tod des Todes« im Kreuz Jesu, »Ganztod« und »absolute Verhältnislosigkeit« in ihren Wortschatz aufgenommen und weitergetragen. Die Zurückweisung der antiken (leib- und weltfeindlichen) Vorstellung von der »Unsterblichkeit der Seele« und die »Entplatonisierung des Christentums« waren für Jüngel wichtige theologische Aufgaben, um die Endlichkeit menschlichen Daseins vor dem Hintergrund medizinischer, soziologischer und philosophischer Beiträge theologisch ernst zu nehmen und das spezifisch Christliche denkend herauszustellen. War es damals ein einzelner Autor, der das Thema erarbeitete, so zeigt sich in den Bänden der neuen UTB-Reihe »Themen der Theologie« (bislang 13 Bände seit 2011) jeweils ein Fachvertreter für eine der klassisch gewordenen fünf theologischen Disziplinen verantwortlich. Gerahmt wird der einzelne Band von einer »Einführung« und einer »Zusammenschau« des jeweiligen Herausgebers. Beschlossen werden die Fachbeiträge mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Literaturhinweisen zum vertiefenden Studium. Anders als in anderen Bänden der Reihe kommen keine Philosophen, Soziologen, Kulturanthropologen, Me­diziner, Juristen oder Religionswissenschaft zur Sprache, um die Sicht auf den Tod interdisziplinär zu weiten.
Die christliche(n) Perspektive(n) in Theologie und Gemeinde auf das Phänomen des Todes durch die Zeiten hindurch sowie den »Umgang der Menschen von der Antike bis zur Moderne« (3) herauszuarbeiten, ist programmatisches Anliegen dieses vom Mainzer Kirchenhistoriker Ulrich Volp verantworteten Bandes. Dass sich der Umgang und die Bewältigung des Phänomens des menschlichen Todes im Laufe der Kultur- und Religionsgeschichte gewandelt haben und noch weiter wandeln werden, gilt auch für die Thematisierung des Todes innerhalb des Christentums und der Theologie. Versuchte man lange, einen einzigen »richtigen« und »wahren« Umgang mit Tod und Sterben im Christentum zu generieren, auch um die eigene Identitätsbildung zu konturieren und damit »wahres« und »falsches« Christentum fein säuberlich zu trennen, so sei es jetzt daran gelegen, »dass eine solche Sicht korrekturbedürftig ist: In den biblischen und kirchengeschichtlichen Quellen begegnet ein außerordentliches vielfältiges und vielschichtiges Bild, und auch in der Gegenwart gebe es keinen Konsens über ›den‹ richtigen evangeliumsgemäßen Umgang mit dem Tod« (2). Dennoch zeige sich im Umgang mit dem Tod »nichts Geringeres als eine Identitätsfrage« (258; vgl. 5), für die sich »angemessene Kriterien und Argumente für oder gegen bestimmte Verständnismöglichkeiten und Verhältnisbestimmungen« (2) aus Bi-bel und Geschichte gewinnen lassen. Deren Mitte sieht Volp über die Zeiten hinweg »ausdrücklich in Jesus Christi Tod und Versöhnungswerk« (259). Dass die Theologie einer verbreiteten Forderung nach Eindeutigkeit im Blick auf dem Tod trotzdem nicht so einfach nachkommen kann, zeigen die fünf gut lesbaren und niveauvollen Beiträge des Bandes.
Alexander A. Fischer (Jena) arbeitet die tagtägliche Todesnähe der einzelnen Menschen und Gemeinschaften im Alten Testament und in seinem altorientalischen Kontext heraus. Er zeigt, dass sich »[d]ie Erfahrung des Todes und das Wissen um die Endlichkeit des Lebens […] als ein Kultur-Generator ersten Ranges (Assmann)« im Alten Orient erwiesen habe (11). Doch nur in Ägypten habe sich »eine positive Vorstellung von der Unterwelt entwickelt« (17), in der der mumifizierte Tote im Jenseits weder von den Menschen noch von Gott getrennt sei und kein »durch und durch trostloses Schattendasein« (21) friste. Auch der Gott Israels habe zunächst keine Verbindung zum Totenreich und den dort versammelten Toten, bevor es zu einer allmählichen »Kompetenzausweitung Jahwes« (32) komme, die auch nicht vor den Grenzen des Todes haltmache, sondern sich in der jüdischen Apokalyptik zu einer Auferstehungshoffnung entwickle, die einhergehe mit weitreichenden Spekulationen über die Hölle.
In seinen weiteren Vertiefungen von der Urgeschichte über Hiob, Kohelet, der Weisheit Salomos bis zum apokalyptischen Ho­rizont zeichnet Fischer eindrücklich die Pluralität der alttestamentlichen Aspekte des sich wandelnden Todesverständnisses (Der natürliche Tod; Der unzeitige Tod; Der soziale Tod; Der verschuldete Tod; Tod und Sündenfall; Tod und Gerechtigkeit; Der radikale Tod; Der illusionäre Tod) nach. Auch in den neutestamentlichen Todesdeutungen, die von Manuel Vogel (Jena) im Kontext antiker ars moriendi (57) als »Anthropologie des Todes« (58) dargestellt werden, finde sich eine erstaunliche Vielschichtigkeit, die die divergenten Deutungen des Todes Jesu vom Verständnis der Evangelien als antike Biographien bis zur großen Bandbreite des theologischen Deutungsrepertoires des Sterbens Jesu umfassen. Vogel zeigt aber auch, wie frühchristliche Positionierungen der einzelnen Gläubigen – vorgeführt an paulinischen Texten und geleitet von der Frage »Warum müssen auch die Christusgläubigen sterben?« (108) – zur Vergänglichkeit sowie zum eigenen Tod und zum Tod des Christus ausgesehen hätten.
Dem Umgang mit dem menschlichen Tod in den christlichen Ge­meinden nähert sich der Beitrag von Ulrich Volp an. Der Ab­schnitt über die Alte Kirche liefert Einblicke in den komplexen Prozess der Neuentwicklung ritueller Praxis vor dem Hintergrund der rituellen Praxen der Antike. Im Mittelalter spielen die Kunst und die facettenreiche ars moriendi-Literatur wesentliche Rollen im christlichen Umgang mit dem Tod und der Sicht auf Leben, Pas-sion und Tod Christi. Nachhaltig prägend seien eine neuartige Bestattungspraxis in unmittelbarer Beziehung zu den Gottesdienstorten (138) sowie die Auswirkungen der Pestepidemien, die Totentanzdarstellungen und die Schilderungen von »Seelenreisen« und Visionen über die jenseitige Welt. In der Reformationszeit, die eng mit der mittelalterlichen Memorialkultur und Heilssehnsucht zusammenhänge, aber auch von ihr Abstand nehme, indem sie einerseits eine eigene evangelische ars moriendi-Literatur mit Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben erschaffe und andererseits eine reichhaltige Leichenpredigtkultur begründe, die zu einem wesentlichen Identitätsmarker des Protestantismus in den folgenden Jahrhunderten wurde. Die lutherische Ars mori-endi-Kultur gehe noch über diese Predigtkultur hinaus, was sich durch evangelisches Liedgut im späten 17. Jh. veranschaulichen lasse. Die Aufklärung habe »zu den massivsten Änderungen mit dem Tod geführt« (150). Die Leichname wurden zu medizini-schen Forschungsobjekten und der Kirchhof verlor aufgrund einer neuen Hygienekultur seine Stellung als zentraler Ort christlicher Bestattungskultur. Das 19., 20. und 21. Jh. werden im Beitrag des Rostocker Praktischen Theologen Thomas Klie behandelt. Für die unterschiedlichen Epochen der Kirchengeschichte scheint es, so Volp, selten eindeutig zu beantworten sein, »welche Beziehungen zwischen christlicher Praxis im Umgang mit dem Tod und den Toten und der theologischen Reflexion zu welchen Zeiten genau bestanden hat« (117). So bleibt aus theologischer Perspektive eine »umfassende und übergreifende Geschichte des Umgangs der christlichen Gemeinden mit dem Tod und ihren Toten« (4) ein Forschungsdesiderat.
Den menschlichen Tod als Aufgabe und Anfrage an eine reformatorische Anthropologie aus systematisch-theologischer Perspektive nimmt Sibylle Rolf (Heidelberg) in den Blick. Mit Wilfried Härle versteht sie den »Tod als Signum menschlicher Geschöpflichkeit« (165). Rolf geht es darum, »wie der Tod theologisch zu verstehen ist angesichts des göttlichen Schöpfungsurteils ›siehe, es war sehr gut‹ (Gen 1,31), und welche Hoffnung angesichts des Todes und über den Tod hinaus besteht« (164). Dazu reflektiert sie mit Hilfe einer »relationalen Ontologie« (167–172) »Die Endlichkeit des Menschen als geschöpfliche Konstitution und die Ambivalenz des Todes« (mit Härles »Korrekturen« an Jüngels Ganztod-Theorie; 171), »Der Tod als der Sünde Sold«, »Der Tod Jesu Christi und der Tod des Menschen« und »Die Überwindung des Todes und ewiges Leben« (mit einer Präferenz für die Apokatastasis Panton, in der die Vorstellung des befreienden und heilenden Gerichts – mit einer Unterscheidung von Person und Werk – nicht ausgeschlossen ist). Knappe Überlegungen »Zum Umgang mit Tod und Sterben […] im Horizont theologischer Ethik« (191–197) – die Frage des Suizids findet, außer im Sterbehilfediskurs (192–194), keine eingehende Behandlung – beschließen den systematisch-theologischen Teil, der Leben wie Tod als »Beziehungsphänomen« (196) bestimmt. Dass diese Beziehungen nach dem Tod nicht abbrechen, sondern die Verstorbenen in den Erinnerungen der Weiterlebenden gegenwärtig bleiben, ist ein Aspekt der im Horizont spätmoderner »Bestattungs- und Trauerkultur«, der gegenwärtigen Tendenz des nicht wahrgenommenen Todes im Leben (217) und der »Option auf die Anonymität« (231) verloren zu gehen scheint (232 f.).
Es ist nicht nur diese »Suche nach lebbaren Formen des Todesumgangs« (220) mit dem Ziel, »eine kulturell schmiegsame, d. h. zeitgenössisch angemessene Thanatopraxis« (234) zu suchen, in der auch »Rede und Ritus« (234–246) eine öffentliche »Erinnerung kirchlich […] kultivieren« (246.248–250), die Thomas Klies facettenreichen Beitrag besonders bemerkenswert machen, sondern auch das reichhaltige Material des unabgeschlossenen kulturellen Transformationsprozesses einer fortschreitenden Verdrängung des Todes, das Klie aufbereitet, der die, auch theologisch, maßgebende Frage stellt: »Wer keine Toten mehr zu Gesicht bekommt, wird auch den eigenen Tod in eine wenig relevante Nicht-Wirklichkeit einrücken. Kann ernsthaft glauben, selbst einmal ein Toter zu sein, wer nie der Wirklichkeit des Todes in Form von wirklich Toten ansichtig wurde?« (217) Aber auch »Riskante Liturgien« (246–248), kulturgeschichtliche Einblicke in das Bestattungsgewerbe (201–209), die Anfänge der Kremierung in Deutschland (209–216) oder Alternativen zur klassisch-kirchlichen Erdbestattung (222–234) in neuen »sepulkralkulturellen Codes«, dem »naturreligiös-ökologischen Code«, im »ästhetisch-performativen Code« und »anonymisierend-altruistischen Code«, der sich nicht aus der Tradition des funeralen Normalfalls einer anonymen Bestattung speist, sondern aus dem Schwinden des »Bewusstsein[s] vom Öffentlichkeitscharakter des Todes« (230).
Nur noch am Rande erwähnt werden dagegen das Gedenken an die Millionen Toten der beiden Weltkriege (151.249) und das millionenfache industrielle Morden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern (213.214: »Holocaust-Schock«). Gerade hierfür gilt: »was nicht mehr kommuniziert wird, fällt ins Schweigen« (249). Auch die Kirchen als Teil der Gesellschaft stehen in bleibender transgenerationaler und öffentlicher Verantwortung für ein kulturelles Gedächtnis, das an die bis heute sichtbaren und un­sichtbaren Wunden in Ost- und Westeuropa erinnert, indem sie »Worte finden und Zeichen setzen, die sonst nicht gehört, und Gesten, die anders nicht gezeigt werden können« (248), damit das Leid der Opfer und die Taten der Täter nicht vergessen werden.