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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

576–578

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Maurer, Michael, u. Christopher Spehr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Herder – Luther. Das Erbe der Reformation in der Weimarer Klassik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 236 S. = Colloquia historica et theologica, 5. Lw. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-155847-4.

Rezensent:

Marc Bergermann

Gemäß dem Selbstverständnis der Reihe Colloquia historica et theologica bildet der vorliegende Band das epochenübergreifende Spektrum der Weimarer Tagung »Herder – Luther« von 2017 ab. Die Ausrichtenden hatten sich die Untersuchung des Lutherbilds in der Weimarer Klassik, wie es sich in Johann Gottfried Herders Re­zeption widerspiegelt, zum Ziel gesetzt. Bekanntlich pflegte Herder von sich das Selbstverständnis, »zweiter Reformator« sein zu wollen, in den Spuren Luthers zu wandeln und letztlich gar über diesen Leitstern hinauszuwachsen. Herausgeber Michael Maurer lässt dies in seiner Einführung (1–15) fragen: »Was hat das zu bedeuten, dass sich der Weimarer Klassiker Herder in der Nachfolge des Reformators Luther fühlte? Zu welchen Ergebnissen hat das ge­führt?« (8) Als gemeinsamen Prüfstein der dreizehn interdisziplinären Beiträge aus den Fachrichtungen Theologie, Geschichte, Pädagogik, Sprach-, Literatur- und Musikwissenschaft benennt Maurer daher die Frage, »ob die[…] Klammer ›Herder-Luther‹ haltbar ist und inwiefern sie neue Aspekte eröffnet« (2).
Jene Klammer »Herder – Luther« erweist sich jedoch in der Tat nicht als durchweg belastbar – auch nicht als verbindendes Element der einzelnen Beiträge. Beim Lesen wird schnell ersichtlich, dass es vielmehr das Konzept der Epoche und der zentrale Identifikationsort Weimar sind, die ein immer wieder begegnendes, integratives Element des Bandes darstellen. Damit sind zugleich dessen Stärke wie Schwäche benannt: Wer sich lediglich einen eng auf Luthers Wirkung auf und Rezeption durch Herder fokussierten Band erhofft, läuft hier fehl. Vielmehr loten die in drei Abschnitte unterteilten Beiträge einzelne Rezeptionsstränge und Parallelen des Denkens Herders zu Luther, die Voraussetzungen und Einflüsse des Wirkungs- und Identifikationsortes Weimar und die Epoche der Weimarer Klassik in ihrer Eigenständigkeit wie auch in ihrer – durch Weimar als »Erinnerungsort sowohl der Reformation als auch der Klassik« (14) – gegebenen Beziehung zur Epoche der Reformation aus.
Tatsächlich kommt die als Problemstellung benannte Klammer »Herder – Luther« in den ersten vier Beiträgen kaum unmittelbar zu tragen, wohl aber der Wirkungsort Weimar. So dient dieser erste Unterabschnitt (Der soziale Ort: Weimar – »eine erbärmliche Apanage der Reformation zwischen des Gebürgen«) mit seiner Einzeichnung Herders in die sozialen Strukturen Weimars (Hans-Werner Hahn, 19–32), den Skizzierungen seines von Nähe und Distanz geprägten Verhältnisses zum Weimarer Hof (Stefanie Freyer, 33–49) und seiner Stellung zur Kirche mit Fokus auf die Weimarer Jahre (Stefan Gerber, 51–64) sowie der Darstellung seiner Schulpädagogik (Michael Winkler, 65–83) am ehesten einer Verortung Herders in den »Ereignisraum« Weimar.
Deutlicher auf die Problemstellung fokussiert ist ein Großteil der im zweiten Abschnitt (Anspruch und Leistung: »Ein neuer Reformator werden«) versammelten sechs Beiträge. Johannes von Lüpke (87–99) zeigt das Sprachdenken als Schlüssel zur Theologie Herders in Anknüpfung und Nachfolge Luthers auf. Hans-Jürgen Schraders Beitrag (101–119) betont Herders Hochschätzung der Sprachleistung Luthers und die Geringschätzung der seiner Zeitgenossen (wobei einen guten Teil dieser Studie auch Klopstocks und Heines Beurteilungen der Sprachleistung Luthers ausmachen). Martin Keßler (121–132) zeichnet die Genese des von Herder schon in Bückeburger Zeiten begonnenen, um seine Erklärungen erweiterten und überarbeiteten Katechismus Luthers nach, wobei auch hier wieder die enorme Hochschätzung des Reformators durch Herder hervorscheint. In einem methodisch fokussierten Beitrag betrachtet Claas Cordemann (133–157) den lutherischen Rechtfertigungsglauben aus resonanztheoretischer Perspektive und bietet so bedenkenswerte Erträge für die gegenwärtige Vermittlung von Rechtfertigung als Resonanzerfahrung. Herder dient hier jedoch eher der Darstellung eines Zwischenschrittes des Rechtfertigungsglaubens auf halber Strecke zwischen Reformation und unserer Gegenwart. Corinna Dahlgrün (159–171) bietet aus der Perspektive der Praktischen Theologie eine Studie über den Stellenwert der Musik für Luther und Herder auf Basis derer Gesangbuchvorreden und Kirchenlieder mit einem anschließenden Vergleich, welcher jedoch offenlässt, ob in Bezug auf das Musikverständnis die Linie »Herder – Luther« gegeben ist. Aus mu­sikästhetischer Perspektive wiederum blickt Henry Hope (173–186) auf die Frage nach Nähen und Verbindungslinien in Luthers und Herders Musikverständnis und greift dazu den auf das Kirchenverständnis bezogenen Einwand Markus Wriedts eines »unmöglichen Vergleich[s]« (173) dieser beiden Schwergewichte auf. Tatsächlich ge­lingt es Hope, Parallelen aufzuzeichnen, ohne zwanghaft nach einer Klammer zu suchen. So ist für Hope »die Nähe von Herders Gedanken zur Musik zu denjenigen Luthers nicht verkennbar. Dass die grundsätzliche Ähnlichkeit dieser Musikauffassung je­doch auf eine breitangelegte, direkte Rezeption Luthers durch Herder hinweist, ist zu bezweifeln« (185).
Der abschließende Abschnitt des Bandes (Perspektiven auf Ge­schichte und Gegenwart) versammelt noch einmal bunt ge­streute Themen: Martin Bollacher (189–201) fragt nach Toleranz im Denken Luthers und Herders mittels ihrer Aussagen zu Türken und Juden, Christopher Spehr und Roland M. Lehmann (203–216) durchschreiten – ohne Bezug auf Luther! – exemplarisch die Wirkung Herders auf und dessen Rezeption durch einzelne Vertreter theologischer Schulen des 19. und 20. Jh.s. Letztere kommen, in An­schluss an die Beurteilung Herders als »Klassiker unter den Theologen« und aufgrund der »Unerschöpflichkeit seines Innovationspotentials«, zu der wenig überraschenden, aber auch keinen Widerspruch hervorrufenden Schlussfolgerung, jede Generation habe »Herder als Theologen immer wieder neu zu entdecken« (26).
Der Schlussbeitrag von Michael Maurer (217–231) wäre mit Blick auf die programmatischen Voraussetzungen durchaus im An­schluss an dessen eigene Einführung zu verorten gewesen. Darin nämlich bietet er eine Darstellung der Epochenkonstruktionen innerhalb der jeweiligen Epoche – Reformation und Weimarer Klassik – selbst sowie eine anschließende Suche nach inneren Verbindungslinien dieser Epochen über Weimar hinaus. Maurer zeigt sich schon in seiner Einführung bemüht, nicht nur einen auf die für die Fragestellung wesentlichen Elemente fokussierten Kursabriss sämtlicher (im Band versammelten) Beiträge zu bieten, sondern ferner das Beziehungsgeflecht Herder, Luther und insbesondere Weimar als schlüssig aufzuweisen. Möglichen Einwänden schiebt er gar den Vorbemerk voran: »Wenn sich die Frage nach dem sozialen Ort Weimar als Erinnerungsort, die den ersten Teil bestimmt hat, möglicherweise in den Augen mancher Interpreten auch noch als ›zufällig‹ beiseite wischen lassen könnte, arbeiten wir i[m] zweiten Teil am Kern der Problemstellung« (8). Nötig wäre dieser vorweggenommene Einwand nicht gewesen, da der Band trotz benannter integrativer Unwucht und natürlich auch unterschiedlicher Tiefe und Fokussierung der Beiträge nicht nur aktuelle An-sätze der Herderforschung bietet, sondern ferner darüber hinaus bedenkenswerte Beiträge, die die Problemstellung an ihren Rändern ausloten.