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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

572–574

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Burton, Simon J. G.; Hollmann, Joshua, and Eric M. Parker [Eds.]

Titel/Untertitel:

Nicholas of Cusa and the Making of the Early Modern World.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XXIV, 512 S. m. 7 Abb. = Studies in the History of Christian Traditions, 190. Geb. EUR 149,00. ISBN 978-90-04-34301-6.

Rezensent:

Harald Schwaetzer

Der Sammelband von Simon J. G. Burton, Joshua Hollmann, und Eric M. Parker nimmt die Spur der »Präsenz des Vergessenen« (Meier-Oeser) wieder auf und legt für den englischsprachigen Raum eine vielfältige, anregende und exemplarische Bestandsaufnahme der Rezeption Cusanischen Denkens bis Leibniz vor. Den Herausgebern ist es ein Anliegen, auf diese Weise Cusanus weiter aus seiner Vergessenheit zu reißen und den großen Beitrag deutlich zu machen, den die Cusanus-Rezeption für die Entstehung der Mo­derne darstellt.
Der Band gliedert sich in vier Teile: Kirchenreform, Theologiereform, Reform der Perspektive und Reform der Methode.
Thomas I. Izbicki und Luke Bancroft heben zu Beginn des ersten Teils in ihrem Beitrag »A Difficult Pope: Eugenius IV. and the Men around Him« sehr richtig und gründlich darauf ab, dass Eugen IV. um 1433 seine Politik änderte und einen Kreis von talentierten Köpfen um sich scharte, der eben aufgrund von Talent und nicht aufgrund von Verwandtschaft oder Bekanntschaft gewählt war. Dieser Kreis mit Namen wie Albergati, Traversari, Torquemada (mit Kontakten zu Isidor von Sevilla und Bessarion, beide für Cusanus sehr hilfreich) und eben auch Cusanus oder auch dem späteren Nikolaus V. bildet in der Tat eine Gemeinschaft, welche für die geistigen und politischen Entwicklungen im 15. Jh. zentral ist. Il Kim betont den Charakter der Reform: Sie sei inspiriert durch den Rückgang auf die »ecclesia primitiva« der Frühzeit, zeigt er am Beispiel von Cusanus und Alberti in »The Reform of Space for Prayer: Ecclesia primitiva in Nicholas of Cusa and Leon Battista Alberti« auf. Es folgt der Beitrag von Richard J. Serina, Jr., »Papista Insanissuma: Papacy and Reform in Nicholas of Cusa’s Reformatio Generalis (1459) and the Early Martin Luther«; er betont die Gemeinsamkeit beider in drei Punkten: Irrtumsmöglichkeit des Papstes, Reformfähigkeit des Papsttums und einzigartige Stellung des Papstes selbst für diese Reform. Den Schluss der ersten Abteilung bildet »Nicholas of Cusa and Paolo Sarpi: Copernicanism and Conciliarism in Early Modern Venice«. Darin analysiert Alberto Clerici einen Zeitgenossen Brunos, der Cusanus sowohl in Sachen Konziliarismus verteidigt wie auch seine Argumente in Sachen Kopernikanismus aufnimmt.
Der zweite Teil widmet sich mit drei Beiträgen der Theologiereform. Ihn eröffnet Joshua Hallmann mit »Nicholas of Cusa and Martin Luther on Christ and the Coincidence of Opposites«. Wie der Titel sagt, arbeitet er die grundlegende Übereinstimmung in Christologie und Umgang mit Paradoxien bei Cusanus und Luther heraus. Der Blick auf Calvin führt Gary W. Jenkins in »Ignorantia Non Docta: John Calvin and Nicholas of Cusa’s Neglected Trinitarian Legacy« zu einer Aussage, die bezogen auf die Quellen in diesem Band noch häufiger und mit Recht vorgenommen wird: Die Trinitätslehre des Cusanus (und nicht nur sie) ist angeregt von den Kappadokiern (und damit von Origenes). »Nicholas of Cusa and Pantheism in Early Modern Catholic Theology« von Matthew T. Gaetano beleuchtet eine gerne vernachlässigte Facette im Streit um den Pantheismus bei Cusanus: Theologen wie Eck, der Kontrahent Luthers, rezipieren Cusanus positiv und lesen ihn gerade nicht pantheistisch.
Die folgenden vier Beiträge stehen unter der Überschrift der »Reform der Perspektive«. Beiträge zur Idee der Konjekturalität bei Cusanus im eigentlichen Sinne fehlen hier allerdings. Dafür be­sticht die Abteilung mit zwei ergiebigen Beiträgen zu den »Cambridge Platonists«. Ihnen voraus geht eine Deutung des Glaubensbegriffs bei Cusanus und Bruno und seine Implikation für eine Reform, die Bruno bei aller Übereinstimmung mit Cusanus doch eher von (seinem) Verständnis der Magie her und bezogen auf die Natur denkt, wie Luisa Brotto in »The Notion of Faith in the Works of Nicholas of Cusa and Giordano Bruno« ausführt. Eric M. Parker verweist in »›The Sacred Circle of All-Being‹: Cusanus, Lord Brooke, and Peter Sterry« vor allem auf die Rolle von Sterry als Cusanus-Interpret und Vermittler, während Derek Michaud mit »Varieties of Spritual Sense: Cusanus and John Smith« wiederum die Linie von Origenes zu Cusanus aufspannt und sie hier in die Cambrigde Platonists weiterführt. Den Abschluss bildet Nathan R. Strunk mit »Motion, Space, and Early Modern Re-formations of the Cosmos: Nicholas of Cusa’s Anima Mundi and Henry More’s Spirit of Nature«, ein Beitrag zur Rezeption des Cusanus in der englischen Naturphilosophie.
Den vierten und letzten Teil bilden fünf Beiträge zur Reform der Methode. Erneut auf die christlich-pythagoreische Strömung verweist zurück »Cusanus and Boethian Theology in the Early French Reform«. Bei aller expliziten Rezeption des Cusanus durch die Pariser Humanisten gibt es doch eine weit darüber hinausgehende Aneignung des Cusanus, wie Richard J. Oosterhoff deutlich macht. Die organische Fortsetzung bildet, den französischen Kabbalismus in den Blick nehmend, Roberta Giubilini mit »Nicholas of Cusa and Guillaume Postel on Learning and Docta Ignorantia«. Die beiden folgenden Beiträge widmen sich Comenius und seiner Cusanus-Rezeption. Dabei konzentriert sich Petr Pavlas in »The Book Metaphor Triadized: the Layman’s Bible and God’s Books in Raymond of Sabunde, Nicholas of Cusa and Jan Amos Comenius« auf die Metapher des Buches und eine Linie von Lull, Sabundus, Cusanus und Comenius. Es folgt »›Squaring the Circle‹: Cusan Metaphysics and the Pansophic Vision of Jan Amos Comenius« von Simon J. G. Burton, der versucht zu zeigen, dass Cusanus und Comenius in dem Zusammendenken des Finiten und Infiniten einen alternativen Weg für die Moderne angelegt haben – sicherlich auch eine der Intentionen dieses Bandes über Comenius hinaus, wie man, da Burton Mitherausgeber ist, festhalten darf. Den Beschluss der Abteilung bildet ein Aufsatz zu Cusanus und Leibniz von Jan Makovský mit einem präzise das Thema umschreibenden Titel: »Cusanus and Leibniz: Symbolic Explorations of Infinity as a Ladder to God«.
Den Abschluss des Buches bildet ein Epilog von Michael Edward Moore zu »Ernst Cassirer and Renaissance Cultural Studies: the Figure of Nicholas of Cusa«. So wertvoll der Beitrag im Einzelnen auch ist, macht sich doch bemerkbar, dass Moore die Habilitationsschrift von Kirstin Zeyer zu »Cusanus in Marburg« nicht zur Kenntnis genommen hat; von einem »unexspected focus« auf Cusanus bei Cassirer zu sprechen, ist sicherlich nicht mehr möglich.
Insgesamt wird an dem Band deutlich, dass die Cusanus-Forschung inzwischen so weit verzweigt ist, dass auch elementare Forschungsarbeiten zu Themen nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Das ist ebenso schade wie problematisch. Auch wenn der Band sich redlich bemüht, Literatur breit zu verarbeiten, so finden sich doch manche Beiträge, an die anzuknüpfen sehr gut gewesen wäre, um die hier vorliegenden anregenden Funde weiter zu kontextualisieren. Indes soll diese Kritik nicht heißen, dass nicht gerade die Autoren dieses Bandes sich um einen Einbezug der Forschungsliteratur bemüht hätten, doch scheint der garstige Graben zwischen Englisch und vor allem Deutsch, Spanisch, Italienisch und Französisch recht breit zu sein.
Ohne jeden Zweifel bietet der vorliegende Sammelband anregende und förderliche Blicke auf ein Verständnis für die Rolle des Cusanus in der Entstehung der Moderne, und, wie die Herausgeber eingangs auch festhalten, ist auf diesem Felde noch einiges zu tun und vieles zu entdecken. Die Beiträge des Bandes regen dazu an.