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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

570–571

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Berlis, Angela, Leimgruber, Stephan, u. Martin Sallmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aufbruch und Widerspruch. Schweizer Theologinnen und Theologen im 20. und 21. Jahrhundert.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. 848 S. m. Abb. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-290-18147-5.

Rezensent:

Katharina Merian

Das vorliegende Handbuch stellt 55 Theologinnen und Theolo-gen vor, welche im 20. und 21. Jh. die theologische Landschaft der Schweiz geprägt haben. Unter den Porträtierten finden sich Persönlichkeiten und Lebenswerke mit sehr unterschiedlichen An-sätzen und Schwerpunkten: vom altkatholischen Liturgiewissenschaftler Adolf Thüring (1844–1915), der als »Schöpfer des Gesangsbuchs der Christkatholischen Kirche der Schweiz von 1893« (491) gilt, zur katholischen feministischen Theologin Doris Strahm (* 1953), die wichtige Impulse in der Auseinandersetzung mit feministischer Christologie gesetzt und 1985 die feministisch-theologische Zeitschrift FAMA und 2008 den Interreligiösen Think Tank mitgegründet hat; vom reformierten praktischen Theologen Chris-toph Morgenthaler (* 1946), der familien- und systemtherapeu-tische Ansätze für die Seelsorge fruchtbar gemacht und das Programm der »Systemischen Seelsorge« geprägt hat, bis hin zum orthodoxen Theologen Anastasios Kallis (* 1934), dessen Name mit der Vision einer »westlichen Orthodoxie östlicher Identität« (448) verbunden wird. Die Porträts sind alle knapp gehalten und durch einen ähnlichen Aufbau leicht zu erschließen: Nach einem tabellarischen Lebenslauf folgen biographische und werkgeschichtliche Zugänge zur porträtierten Person und ihrem Denken, eine Würdigung und Werkauswahl. Auffallend ist der bisweilen sehr wohlwollende Ton, der sich dadurch erklären lässt, dass manche Porträts von Schülerinnen und Schülern der porträtierten Person verfasst wurden. Angesichts der angesprochenen Vielfalt an Porträts bietet das Handbuch ein fragmentarisches, aber spannendes Panorama auf die jüngere ökumenische Schweizer Theologiegeschichte. Dabei dürften sich bei der Lektüre einzelner Porträts – insbesondere für Leser anderer Konfessionen als die der Porträtierten – durchaus überraschende und neue Perspektiven eröffnen.
Herausgegeben wurde das Handbuch von einem ökumenischen Herausgeberteam, bestehend aus den Professoren Martin Leimgruber (katholisch), Martin Sallmann (reformiert) und Angela Berlis (christkatholisch). Zusammen mit anderen Mitherausgebern hat Leimgruber bereits zwei Vorgängerbände publiziert, welche in den Jahren 1990 (»Gegen die Gottvergessenheit«) und 1998 (»Theologische Profile«) erschienen sind und ebenfalls wichtige Gestalten aus der Schweizer Theologiegeschichte porträtierten. Zusammen mit den Vorgängerbänden sind nun insgesamt 129 Persönlichkeiten und ihre theologischen Profile einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Während sich die Vorgängerbände noch stärker »großen« Theologen und der ersten Hälfte des 20. Jh. gewidmet haben, wird im vorliegenden Band vermehrt die zweite Hälfte des 20. Jh.s ins Blickfeld genommen. Der Titel »Aufbruch und Widerspruch« weist dabei auf die Auseinandersetzung mit den zahlreichen theologischen, kirchlichen und ökumenischen Aufbrüchen seit dem Zweiten Weltkrieg hin wie auch auf Widersprüche gegenüber kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in dieser Zeit. Angesichts der Vielfalt an porträtierten Personen betonen die Herausgeber als wichtigstes Kriterium für die Aufnahme ins Handbuch »ein (weitgehend) abgeschlossenes Lebenswerk mit einem deutlichen theologischen Profil« (18). Weitere Kriterien wie Wirkungsort, Herkunft etc. wurden nicht streng handgehabt, so dass die Auswahl letztlich strittig bleibt.
Ähnlich wie der Band von 1990 ist das vorliegende Handbuch zunächst nach dem klassischen theologischen Fächerkanon gegliedert, wobei neu auch eigenständige Kapitel zu den Religionswissenschaften, zur Praktischen Theologie sowie zu den einzeln angeführten Fächern der Religionspädagogik und der Liturgiewissenschaft dazugekommen sind. Ergänzend dazu werden im Kapitel 10 »weitblickende« und »wegweisende Persönlichkeiten« vorgestellt, »die eine grosse Wirkung auf die Gesellschaft ausübten« (20) und deren Werk sich einer Einordnung in den traditionellen Fächerkanon verwehrt oder über den akademischen Wirkungskreis hinausreicht. In diesem Kapitel wird auch explizit die Suche nach individueller Spiritualität aufgenommen, die im 20. Jh. stark an Bedeutung gewonnen hat. Dieses Thema wird u. a. eindrücklich dargestellt anhand des Porträts von Sr. Minke de Vries (1929–2013), der ehemaligen Leiterin der Schwesternkommunität in Grandchamp. All diese Schwerpunktverschiebungen gegenüber den Vorgängerbänden sind interessant und es stellt sich die Frage, ob sich hier nicht auch ein Wandel im Theologieverständnis ab­zeichnet. An dieser Stelle wäre es spannend und wichtig gewesen, hätten die Herausgeber nicht nur ihr eigenes implizites Theologieverständnis reflektiert, sondern auch über diese »Gewichtsverlagerung[en]« (694) stärker und systematischer nachgedacht.
Etwas irritierend wirkt der kurze Abriss über die Geschichte der jüngeren und jüngsten Schweizer Ökumene (vgl. 376), welche diese ausschließlich als erfolgreiche Aufbruchs-, nicht aber als Widerspruchsgeschichte darstellt. Die nachfolgenden Porträts brechen diese Darstellung zum Glück wohltuend auf und zeigen auch beispielhaft anhand der Porträts von Klauspeter Blaser (1939–2002) und Christine Lienemann-Perrin (* 1946), dass sich Ökumene gerade nicht auf Landes- und Kulturgrenzen beschränken lässt. Im Hinblick auf das dem Handbuch zugrundeliegende Ökumene-verständnis bleibt zudem zu fragen, ob nicht auch Theologinnen und Theologen aus Freikirchen und deren Beiträge zur jüngeren Schweizer Theologiegeschichte noch stärker hätten beachtet werden müssen.
Gegenüber seinen Vorgängerbänden zeichnet sich das Handbuch nicht zuletzt dadurch aus, dass die Anzahl porträtierter Theologinnen gestiegen ist (auf sechs von 55 Porträtierten; gegenüber zwei im Jahr 1990 und drei im Jahr 1998). So finden sich in diesem Band ne-ben den bereits genannten Theologinnen auch Porträts von Helen Schüngel-Straumann (* 1940), Sr. Oderisia Knechtle (1900–1978), Vreni Merz-Widmer (1948–2011) und Gertrud Heinzelmann (1914–1999). Das ist erfreulich, aber die Bemühungen um Geschlechtergerechtigk eit hätten sich wohl noch stärker niederschlagen können. Eine begrüßenswerte Änderung gegenüber den letzten zwei Bänden bedeutet auch die Aufnahme eines italienischsprachigen Porträts über Max Thurian (1921–1996). Wie die Herausgeber selbst im Vorwort schreiben, ist ihnen aber bewusst, dass Theologinnen und Theologen aus der italienischen, französischen und rätoromanischen Schweiz noch mehr Raum hätte eingeräumt werden können.
In Gänze bietet das Handbuch – wie auch zutreffend im Geleitwort angekündigt – einen inhaltlich reizvollen Einblick in die »blühende theologische Landschaft der Schweiz« (17), der durch die ansprechende graphische Gestaltung des Bandes unterlegt wird. Das Buch dürfte gerade für jüngere Theologinnen und Theologen einen besonderen Charme haben, die die Werke »theologischer Mütter und Väter« im Schweizer Kontext besser kennenlernen möchten. Insgesamt macht die Lektüre des Handbuchs Lust auf mehr und lässt neugierig fragen, ob es in einigen Jahren noch einen vierten Band geben wird und anhand welcher Gesichter und Biographien dieser wohl auf die heutige Zeit zurückschauen wird.