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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

550–553

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Graybill, Gregory B.

Titel/Untertitel:

Evangelical Free Will. Philipp Melanchthon’s Doctrinal Journey on the Origins of Faith.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2010. XVI, 342 S. = Oxford Theological Monographs. Geb. US$ 165,00. ISBN 978-0-19-958948-7.

Rezensent:

Cornelia Richter/Ann-Kathrin Armbruster

Diese PhD-Schrift (D. Phil.) von Gregory B. Graybill wurde von Graham Tomlin betreut, an der University of Oxford eingereicht und ist 2010 bei Oxford University Press erschienen. G. ist heute Pastor in Illinois. 2015 publizierte er eine Biographie Philipp Melanchthons unter dem Titel »The Honeycomb Scroll. Philipp Melanchthon at the Dawn of the Reformation« sowie einen Aufsatz »Dialectics as Catalyst. The Role of Aristotelian Logic in the Development of Melanchthon’s Doctrine of the Will« (in: Anne Eusterschulte u. Hannah Wälzholz [Hrsg.], Anthropological Reforma-tions – Anthropology in the Era of Reformation [Refo 500 Academic Studies 28], Göttingen 2015, 285–293). Die Arbeit zeugt einerseits von sehr profunder Kenntnis der Schriften Melanchthons und ist diesbezüglich sehr sorgfältig gearbeitet. Zugleich ist ein etwas eklektischer Umgang mit der Fachliteratur zu beobachten und eine etwas zu einseitige, nämlich rhetorische, Analyse der philosophischen Aspekte bei Melanchthon.
Die Dissertation ist dreiteilig aufgebaut: Teil 1 »Foundations« umfasst Einleitung, Einordnung in die Theologiegeschichte und das Verhältnis zwischen Luther und Melanchthon (3–78). Teil 2 widmet sich unter der Überschrift »The Bound Will« der Entwicklung von 1519–1531, gegliedert in »1519–1522: Advent«, »1522–1526: Unrest«, »1526–1528: Philosophy« und »1529–1531: Augsburg« (80–168). Teil 3 »Evangelical Free Will« befasst sich mit der Zeit nach Augsburg bis zu Melanchthons Tod und zeigt schon durch die Wahl der Überschrift eine Wende an. Daher beginnt der Teil mit »1532–1535: Conversion« und setzt fort mit »1536–1547: Tremors«, »1548–1553: Aftermath«, »1554–1560: Twilight« und endet mit einer »Conclusion«. Als Appendix ist eine Übersicht über Melanchthons Lebensdaten beigefügt und ein Register zu Namen und Schlagworten.
In diesem Aufbau stellt G. umfassend und kleinschrittig Melanchthons Entwicklung der Willenslehre dar, indem er Schriften aus der gesamten theologischen Publikationszeit Melanchthons in bewundernswert hohem Umfang behandelt (1519–1560). Dabei grenzt er sich vom englisch- und deutschsprachigen Diskurs ab, indem er genuin philosophische Werke der Sekundärliteratur ausklammert oder nur ansatzweise zur Kenntnis nimmt. G.s Ziel ist zu zeigen, dass sich Melanchthons Willenslehre schon in der Mitte der 1520er Jahre zu einer eigenen Position entwickelt habe (vgl. 196), die G. in ihrer Endgestalt in Bezug auf die Rechtfertigungslehre als »evangelical free will« bezeichnet (215; auch 289). Die Eigenständigkeit der Position sieht er darin, dass Melanchthon in Augustin oder scholastischen Denkern keine direkten Vorgänger gehabt habe und sich im Streit zwischen Luther und Erasmus auch nicht, wie häufig angenommen, letztlich Erasmus angenähert habe (vgl. 289). Vielmehr habe Melanchthon die von Luther übernommene Lehre vom unfreien Willen (»bound will«) schon früh zu variieren begonnen, indem er die Dualität von »temporal realm« und »spiritual realm« aufgenommen und dem Menschen in weltlichen, zeitlich bedingten Kontexten eine gewisse Freiheit zugestanden habe, mit der sie die sogenannte iustitia civilis erlangen könnten. Diese sei aber strikt von der Rechtfertigungslehre zu trennen gewesen, da sie allein in Gottes Verantwortung liege. Vor allem in Melanchthons Kommentar zum Kolosserbrief trete dies deutlich hervor. Durch das Zurückdrängen der Determination habe sich Melanchthon allmählich von Luthers Position im Streit mit Erasmus gelöst und auf diese Weise den Weg für ein freiheitliches Verständnis des Willens in lebensweltlichen Kontexten eröffnet: »Consequently, in the softening of his language from determinatio to gubernatio, Melanchthon backed away from complete determinism, thus opening the door to some measure of contingency in non-soteriological events (that is, in the temporal realm).« (153) Bis zum Römerbriefkommentar habe er ausführlich versucht, den Unterschied zwischen weltlicher und göttlicher Gerechtigkeit zu explizieren, und dafür 1529 schließlich den Begriff der duplex iustitia eingeführt. Interessant ist dabei G.s Beobachtung, dass Melanchthon zu Röm 9 eher eine Zusammenfassung als einen Kommentar geschrieben, sie aber inhaltlich nicht aufgenommen, sondern in einem längeren Prozess bis 1520 einzudämmen gesucht habe (vgl. 172).
Nach einer kurzen historischen Einordnung der Schriften Melanchthons zwischen dem II. Speyrer Reichstag und dem Augsburger Reichstag 1530 widmet sich G. der inhaltlichen Analyse des Augsburger Bekenntnisses. Melanchthons Position die Rechtfertigung betreffend sei stets konstant geblieben und er habe in der Apologia CA die Unterscheidung von weltlicher Gerechtigkeit einerseits, geistgewirkter Gerechtigkeit als Wiedergeburt andererseits präzise zusammengefasst (vgl. 196). Damit leitet G. über in den dritten Teil: Die Transformation vom »bound will« zum »evan-gelical free will« sei bereits im Römerbriefkommentar 1529 angelegt gewesen und werde nun gefestigt und ausgebaut. Die richtige Wende, die G. nicht als »Turmerlebnis« verstanden wissen will (wobei er mit der aktuellen Literatur hätte sehen können, dass diese These ohnehin längst »out« ist), habe sich im Römerbriefkommentar 1532 vollzogen. In der Ablehnung einer strikten Determinationslehre habe Melanchthon nun endgültig die göttliche Herrschaft auch im Kontext der Rechtfertigungslehre eingeschränkt (vgl. 205). Für die Loci communes 1533–1535 ließe sich daher sagen: »The free operation of the human will in choosing to have faith in God was instrumental rather than causative for salvation. It was the passive means by which salvation was received rather than the active means by which it was earned.« (222) Dass der Mensch bei der forensischen Rechtfertigung durch Gott über einen freiheitlichen Willensakt beteiligt sei, darin besteht nach G. die dezidiert eigenständige Position Melanchthons. Er nimmt dabei einerseits sehr sensibel wahr, dass Melanchthon nach den Angriffen auf seine veränderte Lehre und nach den gescheiterten Religionsgesprächen sehr vorsichtig und präzise formuliert: »Melanchthon employed further careful nuance: ›We accept it, therefore, by faith. And so justification, or reconciliation, is not the effect of faith, but proper [or characteristic G. B.] to it or correlative ( correlativum) to it. It is even the movement of faith [by which the Spirit is accepted G. B.]‹« (238, Zitat aus CR 13, 427). Andererseits bleibt G. in seiner Analyse hinter der mit Melanchthon möglichen Begriffs- und Theorieschärfe zurück, weil er dessen vorsichtige Formulierung nur als der Beschäftigung mit der Rhetorik um 1543 (vgl. 239) verdankt sieht, aber keine weitere Kontextualisierung z. B. mit der Seelen- und Tugendlehre Aristoteles’ vornimmt.
Auch in der Bearbeitung des Examen ordinandorum von 1554 (CR 23, 1–88) rekonstruiert G. sehr genau textimmanent, welche Elemente Melanchthons theologische Lehre im Hinblick auf den freien Willen enthält und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Aber aufgrund der fehlenden metatheoretischen Bewertung unter konstruktiver Einbeziehung philosophischer Gedankengänge entgeht ihm das Problem, inwiefern der menschliche Wille in der Rechtfertigungslehre schon frei sein könnte oder sollte, um den Anstoß und die Begleitung durch den Heiligen Geist im Akt der Wiedergeburt annehmen oder zurückweisen zu können. Die als »evangelical doctrine of free will« (289) bezeichnete Lehre ist jedoch nur dann konsistent, wenn Melanchthon davon ausgeht, dass der Wille schon befreit ist. Nur so lässt sich denn auch das Zitat in Fußnote 21 (289) verstehen, in dem die accensio cordis der assensio voluntatis vorausgeht.
An dieser Argumentation zeigt sich im Fazit also ein Grundproblem im Verständnis der Willenslehre Melanchthons: Versucht man sie, wie G., als isolierten Teil seiner Lehre und unter Absehung der implizierten philosophischen Überlegungen zu analysieren, dann entbehrt man der Einbindung in das Gesamtkonzept seiner Theologie, die sich durch das enge Verweben von Anthropologie, Ethik und Rechtfertigung auszeichnet. Das gilt besonders im Blick auf die Affektenlehre, die für das Verstehen der hohen Komplexität der Willenslehre bzw. der forensischen Rechtfertigung unverzichtbar ist. Es kommt hinzu, dass G. durch die Auswahl der vorangehenden Positionen anderer Theologen eventuell doch direkte Vorläufer hätte finden können, wie bereits an anderer Stelle vermutet wurde (vgl. Review by: Matthew Barrett, The Sixteenth Century Journal, Vol. 43, No. 1 [Spring 2012], 251–253). Insgesamt ist G.s Dissertation durch die gründliche Nachzeichnung der Lehrentwicklung, die teilweise Vorwegnahme von Ergebnissen oder überdeutliche Hinweise, wohin die Reise führen wird, einerseits etwas redundant und durch historische Verweise retardierend. Andererseits ist es gerade Aufgabe einer historisch-theologischen Auseinandersetzung mit Melanchthons Willenslehre, diese kontextuell und detailfreudig darzustellen. In diesem Sinne ist G.s Dissertation trotz der genannten Einwände eine Fundgrube für sowohl kleine Veränderungen in der Lehre wie auch zahlreiche Belegstellen am Original.